Flegeljahre
Historischer Roman
und ein Flegel Bundesrat wurde.
Flegeljahre
Wie die Schweiz erwachsen und ein Flegel Bundesrat wurde
Historischer Roman
Inhalt
Vorwort 9
1. Eidgenössische Flegeljahre 13
2. Bruchstellen 20
3. Kinderjahre inmitten des Bürgerkrieges 26
4. Der Weg der Schweiz vom Krieg zum Frieden 34
5. 1848 45
6. Kon!ikte mit den Schulen 55
7. Stürmisches Jena 61
8. Arbeitsloser Landstreicher in Amerika 66
9. Im Amerikanischen Bürgerkrieg 75
10. Gefangener 83
11. Entlassung und Sehnsucht nach der Schweiz 92
12. Anlauf zu einem neuen Leben 100
13. Glück und Frust 109
14. Sorgen über Sorgen 117
15. Wieder in Amerika 126
16. Krönung 134
17. Erfreuliches und bedrückendes Ende 145
Epilog 157
Quellen 159
Kurzbiographie 163
Verlag und Sti ung Pro Libro Luzern 165
Carlo von Ah bei Pro Libro 166
Dank 168
Impressum 168
Vorwort
Ach, die Flegeljahre!
Bei Knaben – seltener bei Mädchen – sind sie ein trotziges Au egehren gegen Autoritäten, gegen Regeln und gegen Einhegung. Es ist Rebellion, die bei Eltern, Verwandten und Lehrpersonen Gegenreaktionen bis hin zu Strafen auslösen. Nach Jahren des Ausklinkens aus der allgemeinen Ordnung kann jedoch wunderbarerweise auch einmal Einsicht und Besinnung eintreten. Besonders nachdem man erlebt hat, dass das destruktive Verhalten in eine Sackgasse führt, oder manchmal weil ein bis anhin verborgen gebliebener Keim von Ehrgeiz sich zu entfalten beginnt. Da kann es dann geschehen, dass der Lebenskompass in eine völlig andere Richtung eingestellt wird. Der frühere Rebell erfährt allmählich sogar Anerkennung und Unterstützung, wird schliesslich zu höchster Respektabilität getragen. Das bare Gegenteil von Flegel.
Diesen Lebensbogen hat der Held dieser Geschichte – Emil Frey – auf besonders eindrückliche Weise erlebt.
Sein Leben war eingebettet in die Flegeljahre der Eidgenossenscha , die nach schmerzha en Jahren des Streitens aus Einsicht einen zukun sfähigen, wenn auch immer wieder holprigen Weg gefunden hat.
Flegeljahre der Schweiz? Können Staaten überhaupt Flegeljahre durchleben?
Wenn man die Geschichte vieler Staaten studiert, dann sind immer wieder Flegeljahre zu verzeichnen, in denen Aufstände, Rebellion, Unterdrückung und innerstaatliche Kon!ikte jeglicher Sorte die Bewohner schikanieren. Wenn sie Glück haben, kehrt darnach Ruhe ein, manchmal mit mehr oder weniger gewaltsamem Eingreifen von Nachbarn, die selber grösstes Interesse daran haben, dass kein vernichtendes Feuer in ihren Gemarkungen zu knistern beginnt. Nehmen wir als Beispiel die USA, die sich nach einem siegreichen Unabhängigkeitskampf einen
blutigen Bürgerkrieg um die Frage der Sklaverei leisteten. Vier Jahre hat er gewütet, 6oo ooo Soldatenleben gekostet, Städte in Schutt und Asche gelegt. An diesem Bürgerkrieg nahmen auch Abertausende aus europäischen Ländern eingewanderte, meist verarmte Männer teil, darunter unser Schweizer Flegel Emil Frey, den es vorerst nach Beschä igung, dann endlich nach Ehre und Anerkennung dürstete.
Aus Amerika zurückgekehrt, suchte und fand er ein neues Leben in der Schweiz, die jedoch ebenfalls kritische Flegeljahre hinter sich hatte. Zwar hatten die endgültige Niederlage Napoleons und die aufmerksamen Aufpasser der europäischen Grossmächte den Schweizer Kantonen eine prekäre Ruhe verscha , aber diese gi elten immer wieder gegeneinander und gefährdeten so eine dringend nötige Stabilität. In die Zeit des Erwachsenwerdens von Emil Frey elen die erkämp e Abspaltung des Baselbiets vom Kanton Baselstadt und die konfessionellen Streitereien, die schliesslich im religiös motivierten Bruderkrieg – Sonderbundskrieg genannt – gipfelten. In einem gewaltigen Kra akt aus Einsicht gaben sich die Kantone 1848 eine neue Verfassung des Bundes. Damit schufen sie Voraussetzungen, um aus den Flegeljahren in eine Zeit des friedlichen Zusammenlebens und einer international respektierten Existenz zu gelangen. In diesem Sichherauswinden der Eidgenossenscha aus einer problematischen Vergangenheit begann Emil Frey eine immer bedeutendere Rolle zu spielen – vorerst als Lokalpolitiker, dann als eidgenössischer Parlamentarier und schliesslich als Bundesrat.
In diesem Buch wird versucht, zu den geschichtlichen Ereignissen Stimmungen einzufangen. Dabei nden nicht nur die Trompetenstösse der Mächtigen und der Strippenzieher Erwähnung, sondern es sollen auch Echos aus dem Volk gehört werden. Die einfachen Leute hatten ja in ihrem Alltag eigene Dramen zu bewältigen, die ebenfalls Erwähnung nden sollen.
Flegeleien unter Staaten nden leider in unserer Zeit immer noch statt, einmal da, einmal dort, trotz international immer üppiger gewordenen
Abkommen und Gesetzen. Und wieder erlebt der Cicero zugeschriebene Spruch Hochkonjunktur: «Si vis pacem para bellum.» Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.
1. Eidgenössische Flegeljahre
Ganz Europa !egelte. Nach dem Wienerkongress 1815 brachen in ganz Europa Revolutionen aus. Die Herrscha der Adligen wurde durch Volkserhebungen angegri en. Es fanden Massenveranstaltungen statt, Barrikaden wurden aufgerichtet und gestürmt, Bürgerwehren wurden gebildet. In Zukun solle der Staat nicht mehr von «Gottes Gnaden», sondern von «Volkes Gnaden» regiert werden. Es wurde Gleichheit der Rechte verlangt, mit der auch das Recht der Mehrheit verbunden war. Sonderrechte der Adligen wurden demontiert. Gleichzeitig hatten die grossen Reiche sich gegen au egehrende Regionen zu wehren. Grenzen wurden aus machtpolitischen Gründen begradigt. Andererseits wurden auch Kooperationen zwischen Staatsgebilden geschmiedet bis hin zum Zusammenschluss. Die politische Landscha Europas erfuhr eine grundlegende Neuordnung. Völkerfrühling nannten es einige; ein Frühling, in den immer wieder Winterstürme einbrachen …
Und die Schweiz? Eigentlich war sie noch keine Schweiz. Ohne zentrale Regierung war sie nicht oder nur sehr beschränkt souverän. Am Wienerkongress beriet ein «Schweizer Komitee» aus Vertretern der damaligen Grossmächte und ohne Teilnahme von Eidgenossen darüber, ob es diese Schweiz überhaupt noch als selbstständige Nation geben sollte, in welcher Form und in welchen Grenzen. Schliesslich war man sich einig, dass es im Interesse der europäischen Grossmächte sei, dass es eine Schweiz gibt, vor allem als Pu erzone zwischen Frankreich und Österreich. Das Territorium der Schweiz sollte nicht mehr dem Aufmarsch fremder Armeen dienen, und die Schweiz selber müsse sich jeglicher militärischer Aktionen über die festgelegten Grenzen hinaus enthalten. Deshalb verordnete man der Schweiz die Neutralität.
Doch was wurde unter dem Namen «Schweiz» verstanden? Sie war ein Staatenbund souveräner Kleinstaaten unter einer wenig starken Regierung, genannt Tagsatzung. Die Tagsatzung war eine Versammlung von Abgesandten der Kantone. Sie besass zwar legislative und exekutive Kompetenzen, rieb sich aber am eifersüchtigen Au reten der Kantone,
die sich in ihre Handlungsfreiheit nicht dreinreden lassen wollten. Wenigstens wurde der Tagsatzung die Zuständigkeit für die Aussenpolitik und das Militärwesen zugestanden. Gerade im Militärbereich lag aber noch einiges im Argen. Jeder Kanton hatte noch seine eigenen Uniformen, Waffen und Offiziere. Immerhin wurde 1818 in Thun eine zentrale Offizierschule eröffnet. Ansonsten war die Tagsatzung ein Regierungsgebilde mit wenig Strahlkraft, ausgesetzt den Sticheleien und Streitereien unter den und innerhalb der Kantone, wie ein Bericht über die Tagsatzung in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 21. März 1832 meldete:
«Wie man es seit Jahren gewohnt ist und wie es besonders diesmal voraus zu sehen war, hat die Bundesbehörde in den ersten vier Sitzungen, vom 12. bis 15. März, wenig Erspriessliches geleistet, ohne dass der Vorwurf die Persönlichkeit der Gesandten trifft. Wie könnte auch nach der bestehenden Bundesverfassung und gänzlich gebundenen Händen der Gesandten bei einer so verzwickten Lage, wie der gegenwärtigen, irgendein Resultat zu erwarten seyn? Ein Stand, Glarus, erscheint nicht einmal; ein anderer, Neuenburg, will den Eid nicht leisten; Zug ist bloss ad audiendum, also so gut wie nicht da.
Wahrlich ein klägliches Schauspiel verzweifelter Ratlosigkeit; wir müssen die Gesandten umso mehr bedauern, als sie auf dieser Stelle am deutlichsten sehen, wie die Schweiz sich immer mehr und mehr dem Abgrunde nähert, wenn ihr Verderben nicht schnell durch kräftige Entschlüsse abgewendet wird. Diese Kraft könnte helfen ohne Bürgerkrieg, wenn sie angewendet würde zu Besiegung des Parteygeistes, des persönlichen Ehrgeizes, zur Selbstüberwindung und zur Mässigung und Wiederannäherung der Herzen und Meinungen. Wenn aber dies nicht geschieht und auch das Andere nicht, so gleicht die Schweiz einem Schiffe, welches Steuer und Segel verloren hat und den Sturm heranziehen sieht, der es in den Wellen begraben wird.»
Die Eidgenossen hatten keinen Anlass, den europäischen Nachbarn Flegeleien vorzuwerfen. Sie selber steckten tief in den Flegeljahren.
Das Volk lehnte sich gegen ihre Aristokraten in Stadt und Land auf; an der Grenzlinie zwischen Katholiken und Protestanten wuchs Unverständnis bis zu loderndem Zorn. Innerhalb der Kantone lehnten sich – zu Recht oder zu Unrecht – Benachteiligte gegen die anderen auf; zum Beispiel begehrten im Kanton Schwyz jene in der March die Abspaltung von jenen Schwyzern unter den Mythen, in Freiburg schlug man sich die Köpfe sogar wegen einer Strassenführung ein, die Tessiner hatten sich gegen Begehren der heissblütigen Italiener zu wehren, Neuenburg irrlichterte in seinem Zwitterzustand zwischen eidgenössischem Kanton und Fürstentum von preussischen Gnaden.
Vor allem aber hatte die Tagsatzung mit dem Streit zwischen den Baslern in der Stadt und auf dem Land zu tun. Dort hatten die Landgemeinden im Oktober 1830 der Basler Regierung eine Petition eingereicht, damit sie im Kantonsrat gleichviele Sitze erhielten wie die vornehme Stadt. Das wollte die Stadt nicht. Sie setzte auf den 23. November 1831 eine Abstimmung an, an der jede Gemeinde Stellung beziehen musste, ob sie für den Verbleib im Kanton Basel oder für Trennung plädierte. 46 Gemeinden waren für eine Trennung, worauf Basel diesen am 22. Februar 1832 die kantonale Verwaltung entzog. Darauf konstituierten sie sich als neuer Kanton Basel-Landschaft.
Da war nun die Tagsatzung gefordert. Diese hatte zwar eidgenössische Gesandte nach Basel entsandt, um zu schlichten. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich durchzusetzen und die Streithähne auseinander zu halten, erhielten sie ein Kontingent eidgenössischer Truppen aus den Kantonen Uri, Unterwalden und Wallis. Doch die Gesandten hatten die Nase voll und baten eindringlich um Entlassung. Nach mehreren Wahlgängen gelang es der Tagsatzung, neue Gesandte zu bestimmen. Als diese auf ihrer Reise nach Basel in Liestal übernachteten, wurde von den Separatisten ein Freudenschiessen veranstaltet. Nach ihrer Ankunft in Basel reisten die bisherigen Gesandten sofort ab, nicht zuletzt weil sich einer der beiden in Basel «mit einem Frauenzimmer» verlobt haben soll, was nicht im Auftrag der Tagsatzung enthalten war.