"Europa wird islamisch"

Veröffentlicht am 19.04.2006Lesedauer: 11 Minuten

Die Christen werden zur Minderheit in Europa. Ggen den Iran braucht es Härte. Amerika ist bedroht. Ein Gespräch mit dem renommierten Islamwissenschaftler Bernard Lewis

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Die WELT: Das Zwölfer-Manifest, unterzeichnet Mitte März auch von Ayaan Hirsi Ali, Irschad Manji, Salman Rushdie und Ibn Warraq, bezeichnet den Islamismus als neue globale totalitäre Bewegung wie einst Nationalsozialismus und Stalinismus. Folgt jetzt eine Epoche heftiger ideologischer Zwiste, die über islamische Minderheiten Europas nicht nur außen-, sondern gleichwohl innenpolitisch ausgetragen werden?

Bernhard Lewis: Ja, wobei in einer Reihe von europäischen Ländern Minderheiten zu Mehrheiten werden. Ein Syrer fragte dazu: islamisiertes Europa oder europäisierter Islam? Das ist die Kernfrage. Wir wissen nicht, wohin es gehen wird. Klar ist, daß die islamischen Gemeinschaften in Europa durch eigene Leute terrorisiert werden. Viele wagen nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Sicher gibt es viel mehr Moslems in Europa, die einen europäischen Ansatz favorisieren, als offen deutlich wird. Leicht werden sie als Verräter hingestellt und sogar ermordet. Daher ist es schwer, die echte Meinung herauszufinden, sofern nicht solche mutigen Menschen wie die von Ihnen erwähnten auftreten. Doch für einfache Leute ist das auch sehr gefährlich.

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WELT: Umgekehrt muß der Rechtsstaat strikter moslemische Dissidenten in der Breite beschützen. Ist nun Demokratie oder Islamismus die neue Weltfrage?

Lewis: Nein, ich würde es nicht Islamismus nennen. Denn dies verführt dazu, alles mit dem Islam zu identifizieren. Wir haben es jedoch nur mit einer Bewegung innerhalb des Islams zu tun. Obzwar sicher mit der stärksten, lautstärksten und am besten finanzierten, nicht zuletzt durch Quellen des saudiarabischen Wahhabismus.

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WELT: Trifft diese Annahme auch auf die Türken, die in Deutschland leben, zu?

Lewis: Diese sind sicher radikaler und revolutionärer als die der Türkei. Die Vermittlung des Islams in der Türkei ist traditioneller. In Deutschland aber geht mehr die fanatische und extremistische Art der islamischen Lehren um. Weder kontrollieren das Europas Regierungen, noch finanzieren sie es. Eine Grauzone, die für die Wahhabiten zugänglich ist.

WELT: Hat bisher jemand Ihre These, wonach Europa am Ende des Jahrhunderts islamisch sein werde, entkräften können?

Lewis: Ein Argument wäre, daß Moslems bald das demographische Muster Europas übernehmen. Aber ich sagte ohnehin, sofern die aktuellen Trends der Immigration und Demographie bleiben, dann wird Europa islamisch werden. Freilich gab es bislang keine große Änderung in diesen Trends.

WELT: Ein Blick zurück auf die Unruhen in Frankreich: Besteht Europas Kurs nur noch in der Beschwichtigung seiner moslemischen Minoritäten?

Lewis: Jedenfalls ist es das, was Europa tut. Und diese Minderheiten werden Mehrheiten.

WELT: Die iranischen Herrscher reagierten auf die umstrittenen Mohammed-Karikaturen damit, Karikaturen zum Holocaust auszuschreiben. Landen da nicht zwei völlig verschiedene Momente in einem Topf?

Lewis: Ja, sie provozieren erfolgreich. In Europa gab es immer Karikaturen Mohammeds. Nicht wenige Biographien des Propheten bargen imaginäre Bilder von ihm, manchmal nicht zu seinen Gunsten. In Dantes "Inferno" schmort Mohammed für seine Sünden in der Hölle. Das ist in der Kathedrale von Bologna in einem lebendigen Bild aus dem 15. Jahrhundert dargestellt, schlimmer als die dänischen Karikaturen. Aber das hat Moslems nie bewegt. Dem Propheten zu nahe zu treten galt nur im islamischen Raum als Straftat für Moslems und für Nichtmoslems, letztere als untergeordnete Schutzbefohlene, Dhimmis. Doch heute verlangen sunnitische islamische Richter erstmals, dänische Nichtmoslems zu bestrafen. Da gibt es nur eine Erklärung: Sie sehen Europa jetzt als Teil des islamischen Gebiets an, des Dar al-Islam. Und die Dänen sind für sie Dhimmis geworden. Historisch gesehen waren diese anfänglich Mehrheiten und sind dann allmählich zu Minderheiten geworden. Wie heute in Europa.

WELT: Gibt es eine arabische Holocaust-Rezeption, und was würde sie für die Geschichtsauffassung im Nahen und Mittleren Osten bedeuten, wo Regimes Versatzstücke von totalitären Ideologien adaptiert haben?

Lewis: Üblicherweise wird dort der Holocaust entweder abgestritten, oder es heißt, die Juden hätten ihn selbst über sich gebracht und verdient. Die Leute reden zuweilen über den Saddam-Hussein-Typ eines Regimes, die Araber wären immer so gewesen. Das ist nicht wahr. Diese Art von Regimes, wie es auch unter Hafis al-Assad in Syrien entstand, hat weder Wurzeln in der arabischen noch in der islamischen Geschichte. Sie sind Importe aus Europa in zwei Stadien: erst das Modell der Nazis, dann das der Sowjets. Beide trennt nicht viel.

WELT: Sie sagen, die Türkei ist die einzige islamische Demokratie. Kommt sie in die Europäische Union, könnten sich nicht nur Probleme anhäufen, sondern die Europäer in Konflikte des Nahen Ostens gezogen werden, oder?

Lewis: Die Türkei ist eine Demokratie einer vorrangig islamischen Nation. Andere islamische Länder haben ein gewisses Maß an Demokratie. Was die Türkei heraushebt, ist, daß sie mit der säkularen Verfassung demokratische Institutionen etablierte. Nagelprobe dafür ist die Ablösung der Regierung durch Wahlen. Woanders ändern Regierungen die Wahlen, in der Türkei ändern Wahlen die Regierungen. Aber die islamistische Regierung versucht, die Türkei zu entsäkularisieren. Sie hat eine religiöse Agenda. Dieses Ringen ist nicht ausgestanden.

WELT: Amerikaner und Europäer ziehen gegenüber der Hamas-Regierung an einem Strang. Solange diese Israel vernichten will, fließen keine Mittel. Tickt da nicht eine soziale Zeitbombe?

Lewis: Der Westen gewährt ja weiterhin humanitäre Hilfe, nur nicht über die Hamas-Administration. Ein aufschlußreiches Detail: In der Stadt Kalkilja gewann die Hamas voriges Jahr die Wahlen zu lokalen Ämtern, doch dieses Jahr nicht. Die Fatah machte das Rennen. Während die Hamas also insgesamt gewann, verlor sie in Kalkilja, wo sie zuvor einmal die Macht errungen hatte. Das spricht Bände. Wenigstens gibt es mit der Hamas eine gewisse intellektuelle Ehrlichkeit, denn sie gibt nicht vor, den Frieden zu suchen.

WELT: Sollten die Palästinenser von den Israelis lernen, die oft mit finanzieller Hilfe ihrer Diaspora Wüsten begrünten? Es gibt weltweit reiche Palästinenser, die eine tüchtige Regierung in Gaza in die Arbeitsbeschaffung einbinden könnte.

Lewis: Sie sind offenbar nicht willens, dies zu tun. Palästinensische Führer haben eine lange Geschichte, gute Angebote auszuschlagen und sich danach noch schlechtere Situationen einzuhandeln. Der ehemalige israelische Außenminister Abba Eban meinte, sie verfehlen nie eine Gelegenheit, eine Chance zu verfehlen.

WELT: Liegt es nicht auch an den arabischen Regierungen?

Lewis: Die verbesserten sich leicht. Zumindest zwei haben diplomatische Beziehungen zu Israel, Ägypten und Jordanien. Andere pflegen im stillen ihre Beziehungen mit Israel.

WELT: Was halten Sie von Israels Absicht, auch das Westjordanland zu verlassen und die Grenze vorläufig zu befestigen?

Lewis: Das ist nur Taktik. Die Israelis verringern ihre Angreifbarkeit und verbessern ihre Verteidigungsfähigkeit, indem sie die Siedlerzahl in vorrangig arabischen Räumen vermindern. Solange es keine Aussicht auf echten Frieden gibt, ist dies ein guter Schritt.

WELT: Und die Grenzfrage?

Lewis: Nach den Waffenstillstandsabkommen von Rhodos sind alle sogenannten Grenzen Waffenstillstandslinien, mit Ausnahme der gleich festgelegten Grenze zwischen Israel und dem Libanon. Die Araber bestanden darauf, daß Grenzen erst in einer allgemeinen Regelung gezogen werden. Inzwischen legten Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien die alten internationalen Grenzen fest. Offen bleibt die Grenze zu Syrien und zum palästinensischen Staat. All das Gerede von der Rückkehr zu den alten Grenzen ist daher falsch, denn diese gibt es nicht. Die Mandatsgrenze zwischen Syrien und Jordanien war ja auch aufgehoben worden. Aber selbst Arafat und seine Nachfolger wollten nicht die Grenze verhandeln. Dies ist nun mit der Hamas noch weniger wahrscheinlich.

WELT: Welche Optionen haben die Israelis?

Lewis: An der Waffenstillstandslinie festzuhalten oder einseitig eine Grenze zu ziehen. Besser wäre, wenn das bilateral geschähe. Aber ohne gegenseitige Anerkennung und Verhandlungen ist dies unmöglich. Die Wahl, die die Israelis haben, liegt also nicht zwischen einer verhandelten und einer einseitigen Grenze, sondern zwischen einer einseitigen Grenze oder gar keiner Grenze.

WELT: Haben die iranischen Herrscher durch die Hamas-Regierung neue Hebel erhalten, im palästinensisch-israelischen Konflikt mitzumischen?

Lewis: Ja, sie unterstützen nun auch die Hamas, ganz abgesehen von der Hisbollah. Sie haben versprochen, die Hamas zu finanzieren, was sie gewiß einhalten werden. Sie lieferten bereits Waffen. Fraglos auch, daß sie andere Palästinenser fördern wie den Islamischen Dschihad.

WELT: Worin liegen die Alternativen für den islamischen Raum und den Nahen Osten?

Lewis: Entweder sie werden erfolgreich demokratische Institutionen entwickeln, wie es im Irak und in anderen Ländern trotz aller Probleme begann, oder es wird einen endlosen Kampf zwischen Islam und Christentum geben. Der führt zur allgemeinen gegenseitigen Zerstörung. Wenn es dann noch eine gemeinsame Zukunft gibt, bestreiten diese Indien und China, die kommenden Supermächte des ausgehenden 21. Jahrhunderts.

WELT: Und Amerika?

Lewis: Das hängt vom Gang der Dinge ab. Die Vereinigten Staaten haben sicher eine bessere Chance als Europa. Aber sie sind noch immer gefährdet durch moslemische Attacken. Es gibt eine Unsicherheit, was Islamisten vorhaben und wo sie dabei gerade stehen. Nein, Amerika ist nicht gesichert, wenn auch sicherer als Europa. Doch könnte es noch mehr "9/11" geben. Dabei ist Amerika nicht nur von außen, sondern auch durch innere Spaltungen bedroht.

WELT: Präsident Ahmadi-Nedschads Hardliner hoffen, durch die Bindung der Koalition im Irak dem nuklearen Klub beizutreten, und feiern angereichertes Uran. Werden sie Erfolg haben?

Lewis: Sicher, wenn sie nicht aufgehalten werden. Ich habe meine Zweifel, ob dies auf dem diplomatischen Wege möglich ist.

WELT: Wo gibt es für Moslems ein demokratisches Beispiel?

Lewis: Zur Zeit nur die Türkei, die eine originäre Demokratie ist: Sie haben erprobte Wahlen, wo die Opposition gewinnen und das Ruder übernehmen kann; sie haben eine unabhängige Judikative, und sie haben eine freie Presse.

WELT: Wie steht es um den islamischen Märtyrerkult, der sowohl in Kriegen untereinander - wie im Irak-Iran-Krieg bis 1988 -, aber auch gegen Israel und den Westen als Kriegsideologie eine Hauptrolle spielt?

Lewis: Da ist ein Unterschied zwischen dem moslemischen und dem judäo-christlichen Märtyrerkonzept. Letzteres bedeutet, daß jemand lieber stirbt, als den Glauben abzutun. Ersteres heißt, jemand wird zum Märtyrer, der im Kampf des Heiligen Krieges fällt.

WELT: Was ist mit Selbstmord?

Lewis: Er ist im Islam streng verboten. Wer dies tut, kommt nicht nur in die Hölle, sondern durchlebt dort als ewige Strafe genau die Art, in der er sein Leben beendet hat. In den frühen Tagen des Islams meinten Richter mehrheitlich: in den Kampf mit sicherem Tod als Folge zu ziehen sei nicht als Selbstmord zu betrachten. Dies sei erlaubt. So war es auch bei den mittelalterlichen Assassinen, die nie durch die eigene Hand starben. Heute nun wird der Selbstmord mehr und mehr erlaubt. Diese Art des Märtyrertums widerspricht aber dem traditionellen Islam.

WELT: Vor zwei Jahren sahen sie originäre Potenzen einer demokratischen Revolution im Iran und im Irak. Meinen Sie das noch immer?

Lewis: Ja, im Irak trotz starker Sabotage von Syrien und dem Iran. Die Demokratie lebt dort noch fort. Eine bemerkenswerte Sache für ein Land, das praktisch keine demokratischen Traditionen hat. Auch im Iran sehe ich solche Potenzen. Es ist klar, das große Teile der dortigen Bevölkerung keinerlei Zuneigung zum herrschenden Regime hegen.

WELT: Welchen Fehler begeht der Westen gegenüber dem Iran?

Lewis: Diesem Regime zu erlauben, den iranischen Patriotismus zu mobilisieren, wenn es heißt, der Iran möge keine Nuklearwaffen haben. Damit tritt man dem Land zu nahe, und die patriotischen Gefühle kommen auf. Besser sollte man sagen, die gegenwärtige Diktatur dürfe keine Atomwaffen erhalten. Sonst verweisen die Iraner nicht ganz zu unrecht darauf, daß solche auch die Russen, Chinesen, Israelis, Pakistaner und Inder besitzen.

WELT: Wo liegt der Unterschied?

Lewis: Das unberechenbare Regime im Iran wäre fähig, Atomwaffen auch einzusetzen oder sie Terroristen zu geben. Im Kalten Krieg wurde der Frieden durch die gegenseitig sichere Vernichtung bewahrt. Aber das trifft auf Teheran nicht zu. Es würde die Waffen wohl nicht direkt, sondern über Terroristen einsetzen. Und deren Nuklearwaffen würden keinen Absender tragen.

WELT: Seit Monaten sind Gewählte im Irak unfähig, eine Koalitionsregierung zu etablieren, während das Land am Abgrund des Bürgerkriegs entlangtreibt. Wo ist der Ausweg?

Lewis: Die Betroffenen müssen einen Kompromiß erreichen. Da dort Schiiten die Mehrheit bilden und die meisten Stimmen erlangten, sollte der Premier ein Schiit sein. Er muß auch andere Bevölkerungsteile wie Kurden und Sunniten einbringen. Da sind nicht wenige, die gern kooperieren. Das Problem im Irak ist, daß dort alles unter einer ständigen Einmischung vom Osten und Westen her abläuft. Man sollte geduldig sein.

WELT: Die angelsächsische Koalition steht daheim unter heftiger Kritik. Nicht wenige Parlamentarier treten für eine Cut-and-run-Strategie ein, also für den möglichst raschen Abzug aus dem Irak. Wäre das klug?

Lewis: Nein, katastrophal. Sie meinen, das sei wieder ein Vietnam. Ist es aber nicht. Dieser Gegner würde die Koalitionäre nach Hause verfolgen.

WELT: Entsteht ein amerikanischer Naher Osten, und wie westlich ist das Konzept der Demokratie?

Lewis: Nein, es wird keinen amerikanischen Nahen Osten geben. Aber Demokratie in den dortigen Farben hat gute Chancen, zumal sie universelle Werte sichert. Doch Demokratie ist eine starke Medizin, die in kleinen, graduell steigenden Dosen verabreicht werden muß. Sonst steigt das Risiko, den Patienten zu töten.

WELT: Wie erklären Sie das westliche Unvermögen, maßgebende Islamisten wie Osama Bin Laden zur Rechenschaft zu ziehen?

Lewis: Kaum kontrollierte, ferne Bergregionen, in denen er sich mit der Sympathie und Hilfe der örtlichen Bevölkerung bewegen kann; sofern er denn überhaupt noch am Leben ist.

Mit Bernard Lewis sprach in Princeton Wolfgang G. Schwanitz


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