Pflege
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Über dieses E-Book
Der vorliegende E-Book-Reader ergänzt die Schwerpunktausgabe "Pflege" unseres Magazins change im September 2013. Die Beiträge befassen sich mit der aktuellen Situation im Pflegesektor, analysieren bisherige Entwicklungen und fragen nach der Qualität und Struktur zukünftiger Pflege. Bei den Texten handelt es sich um Auszüge aus Büchern des Verlags Bertelsmann Stiftung.
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Buchvorschau
Pflege - Verlag Bertelsmann Stiftung
Stiftung
Gesundheitsmonitor 2005 (Leseprobe)
Auszug aus:
Jan Böcken, Bernard Braun, Melanie Schnee, Robert Amhof (Hrsg.)
Gesundheitsmonitor 2005
Die ambulante Versorgung aus Sicht von Bevölkerung und Ärzteschaft
Gütersloh 2005
ISBN 978-3-89204-854-1
© Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Professionelle Pflege – Anforderungen, Inanspruchnahme und zukünftige Entwicklungen
Marie-Luise Müller
Ausgangslage: Die Bedeutung des Themas
Expertenschätzungen zeigen einen eindeutigen Trend. Die Deutschen werden immer älter, ihre durchschnittliche Lebenserwartung wird auf etwa 80 Jahre ansteigen (SVR 2005: 413 ff.). Angesichts der steigenden Lebenserwartung wird der Anteil der über 60-Jährigen im Jahr 2030 rund 71 Prozent betragen – im Vergleich zu 44 Prozent heute.
Leicht kann angesichts dieser Zahlen der Eindruck entstehen, dass damit quasi automatisch der Anteil von Personen ansteigt, die Hilfen bei der Verrichtung alltäglicher Dinge beanspruchen (Deutsches Ärzteblatt 2005). Wenn diese Entwicklung automatisch so eintreten würde, hätte das Folgen für die Nachfrage nach Pflegeleistungen (SVR 2005: 477 f.; Wilkoszewski 2004: 3). Denkbar ist jedoch auch, dass geeignete Maßnahmen auf dem Gebiet der Prävention die Altersgrenze für den Eintritt in die Pflegebedürftigkeit deutlich nach hinten verschieben würden. So hat beispielsweise eine Analyse des Max-Planck-Instituts gezeigt, dass die Alterung der Bevölkerung nicht automatisch mit einem Anstieg der pflegebedürftigen Personen einhergehen muss – nämlich dann nicht, wenn das Gesundheitsbewusstsein steigt (Ziegler und Doblhammer 2005: 1).
Zwei Millionen Menschen galten schon im Jahr 2001 als pflegebedürftig. Davon wurden rund 1,4 Millionen (70 Prozent) von Angehörigen gepflegt, davon eine Million ausschließlich durch Angehörige allein und etwa 400 000 zusätzlich durch Pflegedienste. In Heimen werden 600 000 Menschen gepflegt (Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung 2004: 1). Die hohe Zahl pflegebedürftiger Menschen belastet die Pflegeversicherung, der ab dem Jahr 2006 eine Unterdeckung droht. Experten fordern bereits jetzt eine Reform der Pflegeversicherung (SVR 2005: 428).
Aktuell ist davon auszugehen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahrzehnten bedingt durch die
• demographische Entwicklung,
• Zunahme von Multimorbidität und die
• Steigerung gerontopsychiatrischer Erkrankungen ansteigen wird.
Als Folge davon wird sich die Nachfrage nach speziellem Pflege-Know-how erhöhen. Schon jetzt werden Forderungen nach geeigneten präventiven Maßnahmen laut. Die Prävention soll dabei so gestaltet sein, dass sich die Grenze für den Eintritt in die Pflegebedürftigkeit auf ein höheres Lebensalter verschiebt.
Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie die Zunahme von Single-Haushalten, veränderte Familienstrukturen, stärkere Frauenerwerbstätigkeit und erhöhte Anforderungen an die Mobilität der Erwerbstätigen bestimmen die Ausgangslage. Es entfallen Potenziale für Pflege durch Angehörige im häuslichen Kontext. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Pflegebedürftigkeit wird auch in den sinkenden Aufenthaltsdauern im Krankenhaus gesehen. Die Anforderungen an diese neue Form der Krankenhausnachsorge stehen in engem Verhältnis zur geänderten Finanzierungssystematik im Krankenhaussektor und werden als so genannter DRG-Effekt (DRG: »diagnosisrelaterd group«) beschrieben.
Wer heutzutage über Pflege und die eigene Pflegebedürftigkeit nachdenkt, sieht sich mit zwei Grundmodellen konfrontiert: der Pflege durch Angehörige, der so genannten Laienpflege (oft auch ehrenamtlichen Pflege) und der Pflege und Betreuung durch professionelle Pflegekräfte. Die Pflegeversicherung wollte die Laienpflege durch Angehörige (Familienmitglieder, Nachbarn) stärken. Dies gilt vor allem, wenn der Pflegebedürftige allein lebt. Laienpflege ermöglicht den Verbleib in häuslicher Umgebung (sowohl für den Gepflegten als auch für die Pflegenden). Pflegebedürftige brauchen vor allem, wenn sie in ihrer häuslichen Umgebung bleiben, ausreichende und qualifizierte Pflege und Unterstützung. Als Leistungserbringer kommen in der ambulanten professionellen Pflege die freigemeinnützigen Dienste und Sozialstationen und die häuslichen Pflegedienste in Frage.
Wer leitet die Menschen professionell durch pflegerelevante Themen?
Es gibt zwei Hauptursachen dafür, dass Menschen ihre gesundheitliche Lage als »schlecht« bewerten: Die Menschen leiden entweder unter einer akuten bzw. chronischen Krankheit, oder sie leiden unter altersbedingten Funktionseinbußen. Wichtig dabei ist, diese beiden Dimensionen nicht gleichzusetzen. Ein bedeutender Unterschied liegt darin, ob ein Arzt Krankheiten behandelt oder ein ausgebildeter Experte – konzepthaft etwa ein Pflegekoordinator – Pflegebedürftigkeit einschätzt und organisiert. Die Daten des Gesundheitsmonitors zeigen, dass der Hausarzt eine wichtige Rolle bei der Prävention von Krankheiten einnimmt. Aber: Der Hausarzt ist für Krankheiten zuständig, weniger für altersbedingte Funktionseinbußen. Hier fehlt der äquivalente Ansprechpartner für den Umgang mit Funktionseinbußen.
Aus den Daten des Gesundheitsmonitors lässt sich deutlich ablesen, ab wann für die Menschen die Lebensphase beginnt, die verstärkt von akuten oder chronischen Krankheiten geprägt ist. Etwa ab dem mittleren Lebensalter, also zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr, nehmen die gesundheitlichen Probleme stark zu. Der Anteil der chronisch kranken Menschen liegt dann etwa bei 35 Prozent. Frei von gesundheitlichen Problemen sind ab dann nur noch etwa ein Drittel der Menschen.
Keine nennenswerte Zukunftsvorsorge
Sowohl die Förderung der Laienpflege als auch die Anforderungen an die professionelle Pflege hängen in besonderem Maße von dem Bewusstsein der Bevölkerung für eine spätere Pflegebedürftigkeit ab. Ob das Thema Pflege und die Vorbereitung auf einen zukünftigen Bedarfsfall in den Köpfen der Menschen präsent ist, klärt die folgende Frage des Gesundheitsmonitors: »Menschen in Deutschland leben immer länger. Je älter man wird, desto wichtiger werden Fragen, wo man in Zukunft im Alter leben wird und wie man im Bedarfsfall versorgt wird. Die Befragten sollten angeben, ob sie sich mit diesem Thema schon einmal auseinander gesetzt haben und für welche Dinge sie sich in Bezug auf die eigene Zukunft interessieren.
Abbildung 1: Interesse an Pflegethemen
Es fällt auf, wie wenig das Thema und die möglichen Vorbereitungen auf die eigene Bedürftigkeit den Menschen bewusst ist. Keine Antwortkategorie erreicht im Mittel einen höheren Wert als 1,7. Die Deutschen interessieren sich also gar nicht oder eher wenig für die eigene Pflegebedürftigkeit und mögliche Formen der Vorbereitung darauf. Diese Zahlen stimmen pessimistisch, denn sie zeigen, dass die Menschen sich mit diesem Thema offenbar nicht auseinander setzen. Selbst die Betrachtung entlang unterschiedlicher Altersgruppen führt zu keinem anderen Ergebnis. Das Älterwerden allein erhöht die Relevanz des Themas Pflege also nicht.
Auffällig ist weiterhin: Die Menschen bereiten sich in stärkerem Maße auf eine Pflegebedürftigkeit im eigenen häuslichen Umfeld vor. Sie interessieren sich vor allem für altersgemäße Einrichtungen und den Umbau von Wohnung oder Haus (Mittelwert 1,7) oder einen Notrufdienst und Telefonhilfen für Wohnung oder Haus (Mittelwert 1,6). Das Betreute Wohnen liegt ebenfalls noch im oberen Bereich (Mittelwert 1,5). Davon grenzt sich das Interesse für Einrichtungen wie etwa Altenheime, Pflegeheime oder Altentagesstätten ab.
Auch wenn man die Daten zu einer weiteren ähnlichen Frage analysiert, die sich nicht auf die eigene Pflegebedürftigkeit und die Vorbereitungen darauf beziehen, sondern darauf, was die Menschen unternehmen, wenn sie sich um andere Personen kümmern und die Pflege organisieren müssen, sieht der Mittelwertvergleich nahezu identisch aus. Die Verteilung der Mittelwerte zeigt ein ähnliches Bild auf etwas niedrigerem Gesamtniveau.
Die Daten und ihre Ergebnisse machen auf einen großen Informations-, Aufklärungs-und Motivationsbedarf bezüglich des eigenen Älterwerdens und der Anforderungen an Unterstützung, Hilfe und Pflege für sich selbst und für Angehörige aufmerksam. Ohne eine Sensibilisierung der Bevölkerung für Pflegethemen werden weitergehende Konzepte und neue Modelle erst recht ihr Ziel verfehlen. Eine erste Forderung bezieht sich damit auf die Information, Aufklärung und Motivation der Bevölkerung zu den Themen Pflege, Pflegebedürftigkeit, Pflegeressourcen und geeignete Prävention (SVR 2005: 234), die eine Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich auf das späte Lebensalter verschiebt.
Erwartungen an die Unterstützung durch Familie und Verwandte
Fragt man danach, von wem sich die Menschen im Alter Unterstützung erwarten, wenn sie einmal Hilfe oder Pflege benötigen, wird deutlich, dass Pflege im Alter in erster Linie als Aufgabe von Familienangehörigen und Verwandten wahrgenommen wird. 64 Prozent sehen diese Anforderung im Kreis der Familie erfüllt. Darüber hinaus sind die Pflegedienste mit 36 Prozent der Nennungen ebenfalls für diese Aufgabe vorgesehen. Mit einigem Abstand folgen kommunale Einrichtungen oder das weiter gefasste persönliche Umfeld (Nachbarn, Freunde und Bekannte).
Abbildung 2: Personen und Einrichtungen, die Pflegeaufgaben übernehmen sollen, nach Geschlecht
Männer sehen die Familien noch deutlicher in der Unterstützungsrolle (67 Prozent) als Frauen, die mit 42 Prozent überdurchschnittlich häufig die Pflegedienste nennen.
Insgesamt wissen immerhin 15 Prozent der Menschen nicht, wer überhaupt für diese Aufgabe in Frage kommen könnte. Der Anteil derer, die auf eine Pflegebedürftigkeit eher schlecht vorbereitet sind, ist relativ hoch. Viele Menschen haben offenbar noch keine klare Vorstellung davon, wer sie im Bedarfsfall pflegen soll.
Je mehr Personen in einem Haushalt leben, desto eher wird die Pflege als Aufgabe der eigenen Familie gesehen. Ein-Personen-Haushalte weisen im Vergleich mit den anderen Haushaltsformen eine deutliche Differenzierung auf. Für diese Haushalte entspricht die Pflege durch kommunale Einrichtungen und Sozialstationen den