Le Pere de Familie Diderot

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Denis Diderot.

Vgl. ausser den allgemeinen Literaturgeschichten:


R o s e n k r a n z , K a r l , Diderots Leben und Werke, 2 Bde. Leipzig 1866.
Das beste auch in Frankreich anerkannte Buch über Diderot . , .
sowie: Derselbe, in ß . Gosches Archiv für Litter.-Gesch. 1865,
Bd. I, S. 99 u. ff.: Über Diderots Theater; ebenso 449.
G ü t h , A., Dr., Über Diderot und das bürgerliche Drama. Stettiner Pro-
gramm 1873, 16 S. (Nach einer längeren Einleitung über den Zu-
sammenhang der politischen und poetischen Geschichte des da-
maligen Frankreichs nur ausführliche Inhaltsangabe des ,Fils natu-
rel' und ,Père de famille'. Hinweise auf Lessing.)
S c h e r e r , Edm., Diderot, étude littéraire. Paris 1880. (Feuilletonistisch.)
P r ö l s s , R., Diderot, Mag. f. Litt. d. I n - u . Ausl. 1884, Nr. 30. (Referat
nach Rosenkranz.)
F r a n k e l , A., Dr., Denis Diderot. Ein Zeit- und Charakterbild aus dem
18. Jahrh. Drei Aufsätze. Frankfurter Zeitung. Juli 1884. (Zu-
sammenfassend und selbständig.)
B l o c k , John, Dr., Beiträge zu einer Würdigung Diderots als Dramatiker.
Königsberger Dissertation. 1888. (In Bezug auf Did. Dramaturg.
Abhandlgn. nur referierend, ohne das Wesentliche zu treffen. Über
den ,Père de famille' sehr flüchtig. Eingehendes Verfolgen der
Quellen zu Diderots dram. Entwürfen.) Vgl. hiezu : Germ. u. roman.
Litteraturblatt 1889. S. 104 f.
Sein dramaturgisches System1).

D i e eigentliche Anregung zu Diderots thatkräftigem Auf-


treten gegen den Akademismus seiner Zeit wurde ihm, wie
erwähnt, von den Engländern. Lillo hatte seinen ,Kauf-
mann von London1 mit der bestimmten Absicht geschrieben:
auf das Gewissen seiner Zuschauer zu wirken und ihre Sitten
zu bessern, und Moore mit seinem ,Spieler' dasselbe Princip
verfolgt. Beide hatten in Frankreich ein ähnliches, wenn auch
anfangs nicht so weit wirkendes Aufsehen erregt, wie in
Deutschland 2).
Diderot selbst übersetzte im September 1760 ,The ga-
mester' (,le Joueur'), hielt aber damit zurück, da andere
Übersetzungen 3) erschienen waren. Es wurde erst aus seinem

') Vgl. zu diesem Abschnitt Block, a. a. 0., S. 6 ff. (worin jedoch


Diderots Ideen ebenso unklar bleiben, wie in dessen Diskursen selbst).
2
) Lillos Kaufmann wurde ins Franz. übersetzt; London 1737, von
einem Ungenannten; 2. Ausg. ebda 1738 mit 2 Scenen vermehrt; dann
von Pierre Clement, Le marchand de Londres ou l'histoire de Gr. Barn-
vell, 1751; auch im Nouveau théâtre anglois 1767 . . . Bearbeitet und
gemildert für das frz. Theater von L. S. Mercier, Jenneval ou le Barn-
veld françois, Schspl. in 5 A. 1770; in dessen Théâtre 1778; in Oeuvres
dramatiques 1783 deutsch von Faber 1770, vgl. S. 4, 1) . . . in einer
Operette von Anseaume : École de la jeunesse, com. en 3 actes melée
d'ariettes, 1768, deutsch F r k f t . 1774 . . . Dorât 1763 in einer Heroide.
Vgl. hiezu Schmidt-Griessen.
3
) L e joueur vom Abbé Bruté de Loirelle 1762; (anonym Paris
1762); im Nouveau théâtre anglois 1767 . . . bearbeitet und gemildert wie
Merciers Jenneval von Jos. Bern. Saurin, Beverley, tragédie bourgeoise
— 14 —

Nachlass publiziert 1819 J ). Da ihm diese moralische Ten-


denz zusagte, wie denn sein ganzes Schaffen überhaupt etwas
Lehrhaftes, Didaktisches hat, rückte er sie in seinen Stücken
ziemlich in den Vordergrund, nicht gerade zu deren Vorteil,
zumal sie, gleich denen Lessings, sozusagen nur sekundäre
Erzeugnisse, Muster, Illustrationen seiner Reformbestrebungen
sind. Es sind besonders zwei, die hier in Betracht kommen:
,Le fils naturel ou les épreuves de la vertu, comédie en cinq
actes et en prose avec l'histoire veritable de la pièce', und
,Le père de famille'. Diese ,histoire véritable' ist ein Anhang,
in welchem er das Schauspiel kritisch zerlegt und die Grund-
sätze giebt, nach denen er es geschrieben hat. Er geht hier
ziemlich energisch vor gegen das Schablonenwesen, das in
Dichtung und Darstellung übermächtig eingerissen ist. E r
fordert Wahrheit und Einfachheit; der Dichter habe sich
nicht mechanisch an das Hergebrachte zu halten, sondern
solle zurückgehen auf die Natur, die alten Tragödiendichter
verstehen lernen und eine ungekünstelte Sprache sich aneignen.
„Wir haben es an nichts fehlen lassen, sagt er, das Drama
aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten
die volle, prächtige Versifikation beibehalten, die sich doch
nur für Sprachen von sehr abgemessenen Quantitäten, nur
sehr merklichen Accenten, nur für weitläufige Bühnen, nur
für eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete
Deklamation so wohl schicket; ihre Einfalt aber in der Ver-

1768 (in Versen); dasselbe mit anderem Schluss 1769; auch in dessen
Oeuvres de théâtre 1772, 1778, 1783 . . . Den gleichen Stoff behandelten
J . F r . Regnard (1665—1709) in L e joueur; ins Deutsche übersetzt in Dyks
Kom. Theater der Franzosen, Leipzig 1777—85, Band V, (auch im Neben-
theater, Leipzig 1786—88, Band I V : Spielerglück nach Eegnard) . . . Vgl.
auch Lessing, Theatr. Bibl. Stück 4 , 132 : L e joueur in 3 Aufzügen,
nach dem Entwürfe des älteren Riccoboni, den 6. Dez. 1718 zum ersten-
mal aufgeführt.
') Oeuvres complètes de Denis Diderot, comprenant tout ce qui a
été publié à diverses époques et tous les manuscrits inédits conservés à
la Bibl. de l'Ermitage. Revues avec soin sur les éditions originales et
accompagnées de notices, notes, table analytique par J . Assézat. Paris,
20 vols in 8° cav. — v. vol. V I I (1875) p. 411 et s.
— 15 —

wicklung und dem Gespräche und die Wahrheit ihrer Ge-


mälde haben wir fahren lassen" 1 ). Eigentlich haben wir
ganz und gar keine öffentlichen Schauspiele mehr. Welche
Yergleichung zwischen unsern Versammlungen in dem Schau-
platze, auch wenn sie am allerzahlreichsten sind, und den
Versammlungen des Volks zu Athen und zu R o m ? ! " 2 ) . Von
seinem ,fils naturel 1 verlangt er, man müsse ihn nicht auf
der Bühne beurteilen, sondern als im Hause erlebt. Doch
wäre kein Vorkommnis im Leben, das sich nicht ebenso gut
auf dem Theater darstellen liesse.
Die Ansprüche, die er an das Schauspiel stellt, sind die
höchsten; die Bestimmung, welche er ihm zuerteilt, ist eine
durchaus moralische und erzieherische. E r achtet einen guten
Komödianten als Priester der Menschheit 8 ). „Wie stolz
würde ich auf ein solches Talent sein, wenn ich es besässe!"
ruft er hin und wieder begeistert aus; daneben aber klagt
er dann: wie wenig g u t e Schauspieler es gäbe und wie wenig
Sorgfalt sie auf ihre Kunst verwenden würden.
Die genannte ,histoire véritable de la pièce' bildet im
Ganzen drei Unterredungen (entretiens). E s sind lose an-
einander gereihte Bemerkungen, immer in Hinweis auf das
Stück, über dies und jenes, über die Alten, ihre Dichtung,
ihr Theater, dann wieder über das moderne Publikum und
dessen schlechten Geschmack, über Moral und Tugend, über
scenisches Arrangement und Dekoration, über Pantomime und
wieder über Musik, Tanzkunst und Malerei. Alles geistreiche
Einfalle eines Mannes, der seiner Laune freies Spiel lässt,
auf das und jenes überspringt, um nachher auf früher Ge-
sagtes zurückzukommen u. s. w. u. s. w. Ebenso unsyste-
matisch, wie Diderots Arbeiten überhaupt, ist auch der d i s -
cours sur la poésie dramatique 1 , welcher den 2. Teil des
1758 erschienenen ,Père de famille' bildet. Selten, dass ein
Gedanke völlig durchgedacht oder durchgesprochen ist und zu

1 ) Ygl. ,Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen.'


Berlin 1760. Band I, S. 247—248.
2 ) Ebenda I, 249.

3 ) Ebenda I, 215—217.
— 16 —

seinen Konsequenzen geführt. Eine gewisse vornehme apho-


ristische Nonchalance, die freilich eben als solche das Ganze
ungemein lebendig, leicht und anregend macht. Schon in
dem Anhang zum ,Natürlichen Sohn' spricht sich Diderot
über eine neue Richtung aus, welche der dramatischen Dicht-
kunst erschlossen werden könnte, und nennt sie: „La tragédie
domestique e t bourgeoise", „Das häusliche o d e r bürgerliche
Trauerspiel", wie Lessing übersetzte. Er begründet dieselbe
auf folgende höchst interessante Weise, die so recht erkennen
lässt, was schon S. 14 bemerkt wurde, dass ihm, doch weit
mehr als Lessing, die frei schöpfende Phantasie dichterischen
Genies versagt war, dass daher auch seinem poetischen
Schaffen jede intuitive Thätigkeit fremd lag und dieses ledig-
lich seinem Verstände, seiner Kritik entsprang 1 ). Er sagt:
„Corneille, Racine, Crebillon, Yol taire haben den allergrössten
Beifall erhalten, auf welchen ein Mann von Genie Anspruch
machen kann; und die Tragödie ist unter uns zu den höchsten
Stufen der Vollkommenheit gelangt. Eine Hoffnung ist unter-
dessen noch übrig. Vielleicht nämlich, dass ein Mann von
Genie einmal die Unmöglichkeit fühlt, seine Vorgänger auf
dem gebahnten Wege zu übertreffen, und aus Verdruss darüber
einen andern Weg einschlägt. Das ist der einzige Zufall, der
uns von den verschiedenen Vorurteilen befreien könnte, welche
die Philosophie vergebens bestritten hat. W i r b r a u c h e n
keine Gründe mehr, wir b r a u c h e n ein Muster2)."
Die neue Gattung aber, für die er hier ein Muster ver-
langt, soll einen Übergang herstellen zwischen der grossen
Komödie und grossen Tragödie. Ihre Stoffe sollen allgemein-
menschlich, ihre Sprache anstatt des Verses die Prosa sein.
Eingehender, wenn auch immer ziemlich unklar, handelt er
hierüber in dem erwähnten discours des pére de famille. Den
Ausdruck ,tragédie bourgeoise' lässt er ganz fallen, sagt nur
,drame domestique', unterstellt dieses aber dem weiteren Be-
griff des ,genre sérieux'.

*) Man vergleiche hiezu als weiteren Beleg seine Experimente mit


der Komposition des ,Fils naturel', S. 35 Text u. Aran. 2.
2
) Theater I, S. 242—243.
— 17 —

„Mit meinem unehelichen Sohn 1)," heisst es da 2 ), „habe


ich den Versuch eines Schauspiels machen wollen, das zwi-
schen der Komödie und der Tragödie stehe."
„Der Hausvater steht zwischen der ernsthaften Gattung
des unehelichen Sohnes1) und der Komödie."
„Und wenn ich einmal Zeit und Mut bekomme, so hoffe
ich ein drittes Schauspiel zu verfertigen, das zwischen der
ernsthaften Gattung und der Tragödie zu stehen kommen soll."
Es wäre dies ein System des Dramas nicht so sehr nach
dem Stoff der Dichtung, als vielmehr nach der individuellen,
subjektiven jeweiligen Behandlung einer solchen in Ton und
Charakter. Am klarsten macht es vielleicht folgende Dar-
stellung :
1. Comédie. 5. Tragédie.

Diderot hat jedoch dieses System fallen lassen, wie er


auch das hier versprochene, ergänzen sollende Stück des
,Drame domestique1 nicht mehr gegeben hat. Er beschränkt
sich im weiteren auf eine einfache Vierteilung nach Inhalt
und Gegenstand, ganz im Gegensatz dazu 3 ):
„1. Die lustige Komödie (,Comédie gaie'), welche das
Laster und das Lächerliche zum Gegenstande hat;
2. Die ernsthafte Komödie (,Comédie sérieuse'), welche
die Tugend und die Pflichten des Menschen zum Gegen-
stand hat;

*) Lessing übersetzte hier zweimal ,naturel' mit ,unehelich', sonst


immer mit ,natürlich'. •
2
) Theater II, S. 235.
3
) Ebenda II, S. 236.
F l a i s c h l e n , O. H. v. Gemmingen. 9
— 18 —

3. Das Trauerspiel (,Tragédie domestique'), das unser


häusliches Unglück zum Gegenstand hätte; und
4. Die Tragödie (,Haute tragédie'), welche zu ihrem
Gegenstande das Unglück der Grossen und die Unfälle ganzer
Staaten hat."
Man sieht, er gibt jetzt sein genre sérieux als eigene
Gattung auf und nimmt es als blossen Kollektivbegriff für
2 und 3, die ernsthafte Komödie und das bürgerliche Schau-
spiel (nach obigem Schema für 2 und 4).
Im fernem Verlauf der Unterredung wird die Frage auf-
geworfen: welches nun die Stoffe dieser neuen Gattung des
Ernsthaft-Komischen sein würden, da es ,in der menschlichen
Natur aufs Höchste nur ein Dutzend wirklich komischer
Charaktere gäbe, die grosse Züge hätten. Die kleinen Ver-
schiedenheiten, die man unter den menschlichen Charakteren
wahrnimmt, könnten so glücklich nicht bearbeitet werden,
als die reinen unvermischten Charaktere 1 )'. Es folgt hierauf
die Auseinandersetzung einer Theorie, deren praktische Durch-
führung ,Der Hausvater' werden sollte, dass es nämlich nicht
mehr die Charaktere, sondern die Stände, die Berufsarten sein
müssten, welche der dramatische Dichter auf die Bühne zu
bringen habe. Lessing hat im 86. Stück seiner Hamburger
Dramaturgie die Widerlegungen besprochen, welche Diderot
daraufhin von seinem Landsmann Charles Palissot 2 ) erfahren
hat. Er nennt sie nicht ganz falsch, doch auch nicht ganz
richtig. Palissot behauptete: Die Natur sei keineswegs so arm
an ursprünglichen Charakteren, dass sie die komischen Dichter
bereits erschöpft haben sollten, und dann müsste doch jeder
Vertreter eines Standes notwendig wieder einen persönlichen
Charakter haben. Lessing selbst fügt dem noch bei: ,Diderot
scheitere bei der Ausführung seiner Theorie an der „Klippe der
vollkommenen Charaktere", wenn er dem Betreffenden lediglich

Theater I, S. 321.
2) Ch. Palissot de Montenoye lebte 1730—1814. E r verschaffte sich
einen Namen durch seine ,Petites lettres sur de grands phüosophes', 1757,
gegen die Encyklopädisten und besonders Diderot. Vgl. Eosenkranz II,
S. 85 fF.
— 19 —

den Charakter seines Standes gäbe und dieser ein mit allen
Pflichten und Verhältnissen aufs beste harmonierender sei'!
Dieser Zusatz findet sich übrigens bei Diderot nirgends; Les-
sing scheint nur seine Einwände damit haben stützen wollen.
Diderots Gedankengang ist folgender 1 ): „Bisher," sagt
er, „ist in der Komödie der Charakter das Hauptwerk ge-
wesen, und der Stand war nur etwas Zufälliges: nun aber
muss der Stand das Hauptwerk und der Charakter das Zu-
fällige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze
Intrigue. Man suchte durchgängig die Umstände, in welchen
er sich am besten äussert, und verband diese Umstände unter-
einander. Künftig muss der Stand, müssen die Pflichten, die
Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage
des Werkes dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger,
von weit grösserem Umfange, von weit grösserem Nutzen,
als die Quelle der Charaktere. W a r der Charakter ein wenig
übertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen:
das bin ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen,
dass der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflich-
ten kann er unmöglich verkennen. Er muss das, was er
hört, notwendig auf sich anwenden . . . Schwerlich wird
man z. B. ein Stück anführen können, in welchem nicht ein
Hausvater wäre . . . und doch ist der Hausvater noch nicht
gemacht . . . Oder zeigen uns vielleicht diese Pflichten alle
die Menschen nicht täglich in den grössten Verlegenheiten?
Man spiele also den Philosophen, den Kaufmann, den Richter,
den Sachwalter, den Staatsmann, den Bürger, den grossen
Herrn . . .; nimmt man alle Verwandtschaften dazu: den
Hausvater, den Ehemann, die Schwestern, die Brüder! Den
Hausvater! Welch ein Stoff zu unsern jetzigen Zeiten, da
man kaum die geringste Idee mehr hat, was ein Hausvater
ist! Dabei entstehen täglich neue Stände, und nichts ist uns
vielleicht unbekannter als die Stände, und nichts sollte doch
stärker interessieren, als sie. Jeder hat seinen gewissen Stand
in der bürgerlichen Gesellschaft; jeder hat mit Menschen aus

Theater I, p. 322.
— 20 —

allerlei Ständen zu thun. Und gibt es unter diesen nicht


ebensowohl einen Kontrast, als unter den Charakteren? Kann
sie der Dichter einander nicht ebensowohl entgegensetzen?
Aber diese Stoffe gehören der ernsthaften Gattung nicht
einzig und allein. Sie können komisch oder tragisch werden,
nach dem das Genie ist, das sich damit abgiebt."
Wie meinte dies Diderot? oder vielmehr: wie wollte er
das gemeint haben? Man ist geneigt, das Ganze für einen
geistreichen, paradoxen Einfall zu halten, der aber bei der
Verallgemeinerung, die Diderot anstrebte, sich verkehrte und
wieder nur auf die von ihm bekämpfte Erstarrung des Charak-
ters zu Maske hinauslief. Doch mit grossem Unrecht. Die
Widerlegungen Palissots sind äusserst flüchtig, seine Spott-
sucht lies ihn Diderot völlig missverstehen; und auch Lessing
ging trotz aller Ausführlichkeit nicht weiter auf diesen Punkt
ein, der doch wichtig genug gewesen wäre. Und dennoch
hat Diderot in der That damit ein Wort gesprochen, dessen
weittragende Bedeutung seine Zeit allerdings kaum erkennen
konnte. Nur ist seine Ausdrucksweise unklar, indem er mit
Stand und Charakter andere Vorstellungen verbindet, als die
man gemeinhin damit verknüpft. Palissot jedoch nahm sich
nicht die Mühe, sich dies zurechtlegen zu wollen. Diderot
sagt: ,Hausväter seien genug, aber noch nicht d e r Haus-
vater'; und gab dadurch der Kritik seiner Theorie eine durch-
aus falsche Richtung, denn er schien damit wieder etwas
Typisches anzustreben. Sein d'Orbesson ist mit nichten der
Hausvater xai i'Sn'/^r, wohl aber ein Hausvater; als d e r
Hausvater hätte schlechterdings auch dessen Verhalten zu
seiner Frau illustriert werden müssen; das wusste Diderot
ebenso gut; aber d'Orbesson ist Witwer 1 ). Er spricht wohl
von seiner verstorbenen Gattin, wie ferner über „Vermögen,
Geburt, Erziehung, was Eltern ihren Kindern, w$s Kinder
ihren Eltern schuldig sind, über Heirat, eheloses Leben 2 )" u. s. w.,,
das alles aber erschöpft den Stoff nicht halb.

') Vgl. S. 111, A. l.


2
) Theater II, 238.
— 21 —

Diderot wollte statt des Charakters den Stand wirksam


machen. W a s verstand er hierunter? ,Misanthrop', ,Tar-
tüffe' sind ihm Charaktere, ,d'Orbesson' ist Vertreter eines
Standes. Er fordert also etwas gegen das Typisch-Gewordene
dieser Verschiedenes, und nennt dies „Stand". Die Charaktere
sind beschränkt, setzt er hinzu, die Stände gestatten reichere
Valvationen. Er will sonach eine weitere dichterische Aus-
beutung des menschlichen Lebens und vornehmlich nach
dessen alltäglicher, bürgerlicher, sozialer Seite hin. Aber er
sagt nirgends, dass der Charakter deshalb ganz in Wegfall
kommen solle; er denkt nicht einmal hieran. Die Gestalten
seines ,Hausvaters' und seiner andern Stücke beweisen dies
zur Genüge. Was er verlangte, war nur ein Zurückleiten
der zum Schablonenhaften und Extrem-Typischen gewordenen
„vollkommenen Charaktere" zu wirklichem individuellem Le-
ben, und er glaubte dies durch eine Verbindung des „Charak-
ters" mit dem „Stande" zu erreichen. Es schwebte ihm, wenn
auch nicht klar erkannt, vor, was wir heute mit „sozialem
Drama" bezeichnen. Er suchte nach einer Tragik der bürger-
lichen Gesellschaftskreise und fand diese in den verschiedenen
Berufsarten. Er wollte, das Schauspiel sollte den Ehemann
Conflicto de la
geben, die Erau, den Arbeiter, den Künstler, den Priester, profesión de Schnier

den Soldaten und zwar nicht in ihren Konflikten lediglich


zwischen Charakter und Charakter, sondern auch zwischen
Beruf und Beruf. Man verlachte dies; er sagte ja auch nichts
Neues; die Zukunft aber liess ihm Recht werden. Das Haupt-
thema der Dichtung unserer Sturm- und Drangzeit wurde der
Kampf zweier Stände miteinander, und wir haben, Diderots
Theorie völlig Rechnung tragend, einen ,Hofmeister', Sol-
daten', haben Brüder (,Zwillinge', , Julius von Tarent',
,Räuber1), ,Spieler' u. s. w. Lillo hatte den Kaufmann be-
handelt — aber ein stürmischer Charakter wird als Kauf-
mann andere Verwickelungen ermöglichen, denn als Richter,
oder als General. Der Kaufmann kann ebenso bestechlich
sein, wie Richter und General; die verschiedene soziale Stel-
lung jedoch ergibt ganz andere Folgen einer gleichen Eigen-
schaft. Palissot frägt: „und wenn alle komischen Charaktere
— 22 -

schon bearbeitet, würden dann die Stände dieser Verlegenheit


abhelfen?" und führt neue Charaktere auf, wie: „den Schein-
philosophen, den Sonderling, den Arglistigen, dessen ausge-
künstelte Anschläge immer gegen die Einfalt eines treuher-
zigen Biedermanns scheitern". Gewiss! würden sie abhelfen,
denn — sie haben abgeholfen. W i e der Arglistige, es ist zu
wiederholen, als Richter andere Konflikte ermöglichen wird,
denn der Arglistige als Kaufmann. Und das ist es, was
Diderot wollte, indem er den „Stand" auf die Bühne zu brin-
gen anstrebte, wie aus allen seinen Ausführungen hervorgeht.
Zwischen Papst und Kardinal gibt es andere Konflikte, als
zwischen Kaiser und Herzog oder zwischen Papst und Kaiser.
Der Stand ist keineswegs nur das Zufällige, obwohl ein Drama
sich selbstverständlich auf den Charakteren aufzubauen hat.
Zu weiterem Eingehen darauf ist hier jedoch nicht der Ort.
Zum Schlüsse der D i s k u s s i o n k o m m t Diderot noch ein-
mal auf seinen P l a n , den Hausvater zum Gegenstand eines
Schauspiels zu machen, zurück. ,Dieser Stoff läge ihm be-
ständig in Gedanken und er werde sich schon über kurz oder
lang dieser Grille entledigen müssen'; „denn eine Grille ist
es," sagt er, „so wie alle Menschen in der Einsamkeit ihre
Grillen haben. Welch ein vortrefflicher Stoff, der Hausvater!
Es ist der allgemeine Beruf der Menschen. Unsere Kinder
sind die Quelle unserer grössten F r e u d e , unseres grössten
Kummers. Ich werde da beständig meinen Vater vor Augen
haben können." W a s aber die Zeichnung betreffe, so dürfe
das Stück gegen die tragischen Schattierungen des n a t ü r -
lichen Sohnes' vielleicht komische bekommen.

Le pere de famille.
Und er hielt, was er da versprochen hatte. Trotz der
mannigfachen Verdriesslichkeiten, die ihm sein ,Fils naturel'
zugezogen hatte 2 ), erschien das Stück nach Jahresfrist (1758).

') Theater I, S. 368—369.


2
) Theater II, S. 315—31G.

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