977 Artikeltext 3023 1 10 20221110
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127; Franz Karl Praßl—Trauermusik und ihre Funktionen
Musik ist ein Spiegel menschlicher Emotionen, ebenso ein Ausdruck bzw. eine
Interpretation derselben. Musik ist geeignet, Gefühle zu erzeugen, zu verstärken,
anzustacheln oder zu dämpfen1. All dies kann in positiver Weise (Musik als The-
rapie z. B.), aber auch als eklatanter Missbrauch (Musik zur Glorifizierung des
Krieges z. B.) vor sich gehen. Musikerfahrung und Musikrezeption ist grundsätz-
lich ambivalent, weil es dabei auf die Konditionierung des Rezipienten ankommt.
Wenn hier von Trauermusik und ihren Funktionen die Rede ist, sind die Beob-
achtungen auf einen europäisch-westlichen Kontext beschränkt, da der Umgang
mit Trauer und der dazu gehörigen Musik gesellschaftlich-kulturell bedingt und
daher global gesehen sehr variabel ist.
Trauernde trösten
Musik kann zu einem wichtigen Bestandteil der Trauerarbeit in all ihren Pha-
sen werden, zur Hilfe bei der sukzessiven Bewältigung eines wie immer gearte-
ten Verlustes. Die Begleitung von Trauernden mit Hilfe von Musik ist in einem
christlichen Kontext als eines der geistlichen Werke der Barmherzigkeit zu sehen:
Trauernde trösten. Vieles von dem, was auch zur musikalischen Trauerarbeit ge-
hört, hat Franz von Schober (1796-1882) in einem kleinen Gedicht formuliert,
das Franz Schubert 1817 in unnachahmlicher Weise vertont hat2:
Musik tröstet und heilt, wirkt als Antidepressivum, Musik vermittelt Perspektiven
für eine „bessere Welt“ in einer Situation der Bitterkeit und des Leids. Dies darf
nicht als Ablenkung oder billige Vertröstung, etwa gar auf das Jenseits, verstan-
den werden, sondern als Medium zur Aufarbeitung einer persönlich schwierigen
Situation, als Hilfe zur sukzessiven Auflösung von psychischen Knoten. Musik
1 Zum gesamten Fragenkomplex vgl.: de la Motte-
wirkt in diesem Fall als persönliches Therapeutikum, sei es in eigener praktischer
Haber, Handbuch. Ausübung oder in der Rezeption, z. B. auf Tonträgern.
2 Deutsch, Franz Schubert, 318.
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Dass dieses zutiefst persönliche Erleben und Verarbeiten von Trauer eine gemein-
schaftliche bzw. auch gesellschaftliche Funktion haben kann, war bei den vielen
und langen Trauerfeierlichkeiten für Queen Elisabeth II. sehr gut zu beobachten.
Wer etwa auf BBC die Ereignisse verfolgt hat, wurde wiederholt mit der Tatsache
konfrontiert, dass der Tod der Monar-
chin, welcher die meisten Menschen
im Vereinigten Königreich nie per- Musik vermittelt Perspektiven für
sönlich begegnet sind, bei zahlreichen eine „bessere Welt“ in einer Situation
Brit:innen echte Trauergefühle aus- der Bitterkeit und des Leids
gelöst hat. Die perfekte Inszenierung3
Obschon in einem gewissen Grad staatliche (die Prozessionen auf den Straßen,
Staatsakte in der Liturgie) und kirchliche (die Liturgien als solche) Aspekte der
Feierlichkeiten ineinandergeflossen sind, konnte man vor allem auch akustisch
deutlich wahrnehmen, wo ist Staat, wo ist Kirche. So spielte die Blasmusik, bis
der Sarg am jeweiligen Kirchenportal war, ab dem Überschreiten der Schwelle
sang der Chor, oder es gab Orgelmusik. Das akustische Signal war in diesem
Falle deutlicher als das Auftauchen des hohen Klerus vor und innerhalb der Kir-
chengebäude.
Die Musik in den Gottesdiensten stand neben einem akustischen Eingehen auf
Stimmungslagen eindeutig im Dienste der Verkündigung der Auferstehung und
der Hoffnung auf das ewige Leben als
wichtiger Teil des Gesamtdesigns der
Die Kirchenlieder für die Funeralien hat die Verstorbene persönlich ausge- Liturgie. In einem der ersten Gottes-
wählt, ein imposantes Zeugnis ihres persönlichen Glaubens und ihrer reflek- dienste nach dem Ableben der Queen
tierten weiten Theologie wurde dementsprechend auch 1 Thess
4,13 gelesen: „Brüder und Schwes-
tern, wir wollen euch über die Ent-
schlafenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die
keine Hoffnung haben“. Trauer anders, nämlich verbunden mit Hoffnung und fes-
ter Zuversicht, hat die Musikauswahl (natürlich auf Basis der musikalisch inter-
pretierten Texte) signalisiert. Nicht das Niederstreicheln des schmerzlichen Ab-
schiednehmens, sondern die Perspektiven des Blickes, was dürfen wir “danach“
erwarten, standen im Fokus der Gesänge. Die Kirchenlieder für die Funeralien
hat die Verstorbene persönlich ausgewählt, ein imposantes Zeugnis ihres persön-
lichen Glaubens und ihrer reflektierten weiten Theologie. Was wie ein „best of
3 Vgl. dazu: Dücker, Rituale. hymns“ vielleicht äußerlich angekommen ist, war eine bewusste Wahl von Tex-
4 https://youtu.be/WbYfZ3iGwrs (1.10.2022) ten, welche natürlich mit den zündenden anglikanischen Melodien ein besonderes
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Leben entfaltet haben. In Westminster Abbey4 war zunächst der Klassiker „The
day thou gavest, Lord, is ended“ (Deutsch in GL 96, „Du lässt den Tag, o Gott,
nun enden“, oder in EG 266, „Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen“) zu hören.
Die erste Zeile ist zweifellos eine alle-
gorische Anspielung auf den Tod der
Regentin, aber die Botschaft am Sarg
gipfelt in der letzten Strophe: „proud
empires pass away; thy kingdom
stands and grows for ever“. Es waren
die Psalmen 42 und 23 zu hören bzw.
zu singen. Gegen Schluss wurde ein
„Hit“ von Charles Wesley gesungen:
„Love divine, all loves excelling“.
Die Königin sagte damit der trauern-
den Gemeinde, Gott möge seine neue
Schöpfung vollenden „till we cast our
crowns before thee, lost in wonder,
love, and praise!“ Der Gottesdienst
auf Schloss Windsor5 begann mit dem
Psalm 121, man hörte die ergreifende
© pixabay.com englische Version des Kontakions der
byzantinischen Begräbnisliturgie und
am Schluss “Christ is made the sure foundation”, eine Übersetzung des 2. Teils
des Kirchweihhymnus Urbs Jerusalem beata: Angularis fundamentum von John
Neale. Am Ende der Feier stand also eine Vision des seligen Lebens in der himm-
lischen Stadt Jerusalem. In dieser Liturgiegestaltung war beispielhaft realisiert,
was die Liturgiekonstitution in Art. 81 fordert: Der Ritus der Exequien soll deut-
licher den österlichen Sinn des christlichen Todes ausdrücken. Die Musik in ihrer
festlichen, fröhlichen und lobpreisenden Machart transzendierte den Schmerz in
Hoffnung und unterstrich sehr deutlich, was der Erzbischof von Canterbury in
seiner Predigt gesagt hat: Wir werden uns wiedersehen. Die Funktion solcher
Trauermusik ist entlastend: Sie zeichnet ein Gegenbild der gläubigen Hoffnung
zum Schmerz. Sie versucht, die Trauer durch Trost zu überwinden. Sie sagt emo-
tional im Geiste der Geheimen Offenbarung: eines Tages wird jede Träne abge-
wischt werden.
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ben worden ist. Alle diese Märsche sind – auf Youtube leicht einsehbar – auch bei
den pompösen Trauerfeierlichkeiten für die Sowjetführer Leonid Breschnew, Juri
Andropow und Konstantin Tschernenko am Roten Platz in Moskau erklungen.
Das Charakteristikum dieser Märsche ist eine Mischung aus Simplizität und Raf-
finesse. Einfach, aber nicht langweilig gemacht, sind solche Musikstücke auch
über längere Strecken für Ausführende wie für Zuhörer strapazierfähig. Solche
Musik evoziert auch (angeordnete) Trauer, indem sie Stimmungen in Menschen-
ansammlungen und in die Medien transportiert. Es kann davon ausgegangen wer-
den, dass mit dieser Musik in der Öffentlichkeit auch Trauer künstlich produziert
wird, vor allem, wenn die amtlich zu betrauernden Personen keine Sympathieträ-
ger gewesen sind, und quasi Unbeteiligten und Uninteressierten Staatstrauer z. B.
für verstorbene Politiker:innen zugemutet wird, was im Falle der Queen natür-
lich nicht zutrifft. In jedem Falle liegt es auch an der öffentlichen Trauermusik,
Individuen in die kollektive Trauer emotional mithinein zu nehmen. Auf diese
Weise anerkennen die Einzelnen einen Verlust des Gemeinwesens auch als ihren
persönlichen Verlust.
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Die Auswahl von Trauermusik sagt auch viel darüber aus, wie Angehörige mit
ihrem Abschiedsschmerz umgehen. Das eigene Ich mit seiner Befindlichkeit wird
gerade in Popsongs hervorragend gespiegelt, der Sänger oder die Sängerin wer-
den zu „meinem“ Sprachrohr. Lieder, die ursprünglich nicht für ein Begräbnis
gedacht waren, werden in Sekundärverwendung emotionaler wie intellektueller
Ausdruck dessen, was gerade in den Köpfen und Herzen der feiernden Gemeinde
abgeht. Dabei ist zu bedenken, dass ein Großteil der Popsongs, die sich mit Tod,
Abschied, Verlust usw. auseinandersetzen, häufig ihren Sitz im Leben im Sterben
eines nahestehenden geliebten Menschen des Texters/Komponisten/Sängers ha-
ben. Der Ausdruck von Trauer ist also authentisch. Beim Anhören eines solchen
Liedes ereignet sich etwas, was im Grunde ein liturgischer Akt ist: Ich klinke
mich mit meinen Erfahrungen in die Erfahrung eines anderen ein und identifi-
ziere mich damit. So bekommen diese
modernen Songs eine eminente ana-
Trauermusik ist heute auch ein Teil des gesellschaftlichen Pluralismus und mnetische Funktion. Überblickt man
der unterschiedlichen Lebensrealitäten. die langen Listen, welche professio-
nelle Begräbnisanbieter für moderne
Trauermusik vorschlagen, so fällt auf,
dass das Kreisen um sich nur einen Teil des Repertoires ausmacht. Zahlreiche
Songs drücken eine Hoffnung auf ein Weiterleben irgendwo und irgendwie aus,
sowie die Sehnsucht bzw. Gewissheit auf ein Wiedersehen. Dies sind durchaus
christliche Vorstellungen, ausgedrückt ohne christliche Vokabel, das Wort Gott
kommt eher selten vor. Bei gutem Willen wird man hier eine Konvergenz nicht
verleugnen. Musikalisch gesehen sind diese Songs meist weich und sentimental,
typischer Kuschelrock. Dies bedeutet eine emotionale Ebene, die bei der Mehr-
zahl heutiger Menschen etwas zum Schwingen bringt, weil sie in der Welt dieser
Musik leben. Pars pro toto sei für die unzähligen Anbieter die Website www.pop-
kultur.de genannt.
Trauermusik ist heute auch ein Teil des gesellschaftlichen Pluralismus und der
unterschiedlichen Lebensrealitäten.
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Literatur
Franz Karl Praßl, Liturgische Musik im Kontext eines religiösen und gesellschaft-
lichen Pluralismus, in: Liturgisches Jahrbuch 65 (2015) 206-219.
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