Leseprobe Die Muqaddima

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Unverkäufliche Leseprobe

Ibn Khaldun
Die Muqaddima
Betrachtungen zur Weltgeschichte

Aus dem Arabischen übertragen und mit


einer Einführung von Alma Giese.
Unter Mitwirkung von Wolfhart Heinrichs
541 Seiten, In Leinen
ISBN: 978-3-406-62237-3

© Verlag C.H.Beck oHG, München


leben und ausbildung im
islamischen westen

Bewegte Jugend
Ibn Khaldūn wurde am 27. Mai 1332 in Tunis geboren. Seine
Familie führte ihren Stammbaum auf einen in Hadramaut ange-
siedelten jemenitischen Stamm zurück, der während der islami-
schen Eroberung Südspaniens als Teil der jemenitischen Armee
ins Land kam. Khaldūn, nach dem die Familie benannt ist, ließ
sich in der kleinen Stadt Carmona nieder, die in dem Dreieck
zwischen Cordoba, Sevilla und Granada liegt. Seine Nachkom-
men verließen Carmona und siedelten sich in Sevilla an. Das ge-
naue Datum ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hatte die Familie
Khaldūn sich schon im achten Jahrhundert dort niedergelassen.
Gegen Ende des zehnten Jahrhunderts, als die zentrale spani-
sche Regierung in Auflösung begriffen war, nahm die Familie
eine führende politische Stellung in Sevilla ein und spielte eine
wesentliche Rolle in der Verwaltung der Stadt. Die Leitung der
Stadt lag in den Händen der Khaldūn-Sippe und einiger anderer
nobler Familien. Die Oberherrschaft gehörte zwar einem nomi-
nellen Herrscher, aber diese großen Familien übten die eigent-
liche Kontrolle aus. Im frühen dreizehnten Jahrhundert, als die
Christen mächtiger wurden und dem Dreieck Cordoba – Sevil-
la – Granada immer näher rückten, hatte die Familie Khaldūn
zusammen mit den anderen patrizischen Familien die alleinige
Kontrolle über die Stadt. Als etwa Mitte des dreizehnten Jahr-
hunderts Sevilla von den Christen ernstlich bedroht war, zog die
Familie noch vor dem eigentlichen Fall der Stadt nach Nord-
afrika und ließ sich in Tunis nieder. Aufgrund früherer Beziehun-
gen wurden sie dort am Hof empfangen, und es wurde ihnen ein
Landbesitz übereignet.
Viele andere bedeutende Familien verließen Spanien, als die
christliche Bedrohung zu stark wurde, und bildeten eine Art

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von Elite in ihrer neuen Heimat. In seiner Muqaddima erwähnt
Ibn Khaldūn des Öfteren die großartigen Beiträge der spani-
schen Emigranten zur Kultur Nordwestafrikas. An seinen äu-
ßerst positiven Äußerungen zeigt sich, dass er, obwohl nicht in
Spanien geboren, sich diesem Land tief verbunden fühlte.
Ibn Khaldūns Jugendjahre fielen in eine Zeit voller Aufruhr
und politischer Umwälzungen. Die nie sehr feste Herrschaft der
Hafsiden in Tunis verlor schon vor Ibn Khaldūns Geburt immer
mehr an Stabilität. Am stärksten machten sich die Verfallser-
scheinungen in der Zeit zwischen 1347 und 1357 bemerkbar,
und eine Zeitlang war die Herrschaft der Hafsiden in Tunis so
gut wie nicht existent. Der merinidische Herrscher von Fes,
Abū l-H. asan, eroberte Tunis im Jahre 1347, musste sich jedoch
aufgrund von Schwierigkeiten in einem anderen Bereich seines
Herrschaftsgebietes schon im folgenden Jahr wieder zurückzie-
hen. Es brauchte einige Zeit, bis sich die hafsidische Herrschaft
wieder festigen konnte. Im Jahre 1370 begann für sie schließlich
eine neue Blütezeit. Einige Mitglieder der Familie Khaldūn hat-
ten Verwaltungsposten unter den Hafsiden inne und erlitten im
letzten Teil des Jahrhunderts dasselbe Schicksal wie die herr-
schende Dynastie. Ibn Khaldūns Großvater Muh.ammad zog
sich aus dem öffentlichen Leben zurück, um ein religiöses Leben
zu führen. Er hielt auch seinen Sohn, Ibn Khaldūns Vater, dazu
an, und die beiden schlossen sich der am meisten respektierten
mystischen Gruppe in Tunis an.
Über Ibn Khaldūns frühe Jugend ist bis auf einige Einzelhei-
ten über seine Studien und seine Lehrer wenig bekannt. Ganz
sicher kann man annehmen, dass in dem Haus, in dem er auf-
wuchs, intellektuelle Anregungen in reichem Maße vorhanden
waren. Persönlichkeiten, die auf der politischen und intellek-
tuellen Ebene im Westen der islamischen Welt führend waren,
zählten zu den häufigen Besuchern. Viele von ihnen suchten und
fanden bei Ibn Khaldūns Familie Zuflucht und Schutz vor er-
zürnten Herrschern, die versuchten, sie wegen unerwünschter
Aktivitäten und Verbindungen ins Gefängnis zu werfen. In die-
ser Atmosphäre begann die erste Phase auf dem Bildungsweg

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Ibn Khaldūns. Dabei konnte er vom persönlichen Kontakt mit
den Größen des islamischen Spanien und Afrika profitieren. Es
war ihm auch vergönnt, bei einigen der größten Gelehrten von
Marokko zu studieren, die 1347 von dem Merinidenherrscher
Abū l-H . asan von Fes nach Tunis geholt worden waren. Als
diese später wieder nach Fes zurückkehrten, folgte Ibn Khaldūn
ihnen nach. Wie man aus seiner Autobiographie ersehen kann,
kamen die meisten seiner Lehrer aus Spanien oder hatten enge
Verbindungen dorthin.
Zu Ibn Khaldūns umfassender traditioneller Ausbildung ge-
hörten Koran- und H . adīt--Studien, die Grundlagen der islami-
schen Theologie sowie die Grundelemente der Mystik und des
religiösen Gesetzes. Danach kam die Phase des detaillierten Stu-
diums dieser Disziplinen mithilfe von Kommentaren und Glos-
sen. Auch die «rationalen» Wissenschaften wie Logik, Mathe-
matik, Naturphilosophie und Metaphysik gehörten mit zur
Ausbildung, außerdem die grundlegenden linguistischen, bio-
graphischen und historischen Kenntnisse und die Kunst, wis-
senschaftliche Werke zu schreiben. Ibn Khaldūn ließ sich auch
in der Kunst des Schreibens von offizieller Hofkorrespondenz
und der Handhabung praktischer administrativer Dinge ausbil-
den, da er an der Verwaltungspraxis interessiert war. Damit
wurde die Grundlage für seine späteren politischen und literari-
schen Tätigkeiten gelegt. Ibn Khaldūns Vater, der sich auch der
Wissenschaft widmete und gute Kenntnisse in der Koranwis-
senschaft, dem Recht, der Grammatik und der Dichtung hatte,
war an der Erziehung Ibn Khaldūns aktiv beteiligt. Er wurde
zusammen mit seinem älteren Bruder Muh.ammad ausgebildet.
Sein jüngerer Bruder, Yah.yā, wurde später wie Ibn Khaldūn ein
hochgestellter Politiker und ausgezeichneter Historiker.
Ein von Ibn Khaldūn überaus geschätzter Lehrer war al-Ābilī
(1282–1356), der unter den Gelehrten war, die den Meriniden-
herrscher Abū l-H . asan nach seinem Sieg über Tunis dorthin be-
gleitet hatten. Von ihm wurde er in den philosophischen Wis-
senschaften geschult. Al-Ābilī zeigte schon früh Interesse an der
Mathematik, konnte aber damals dieser Neigung nicht nachge-

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hen, da er dazu gezwungen wurde, die Stellung eines Generals
anzunehmen. Er desertierte und machte sich auf zur Pilgerfahrt
nach Mekka. Dabei verbarg er sich, indem er sich unter eine
Schar von Bettlern mengte. In der Nähe von Tlemcen schloß er
sich einem schiitischen Führer an und zog mit ihm nach Mekka
und später nach Kerbela. Als er wieder im Westen war, studierte
er weiterhin Philosophie und versuchte zu vermeiden, wegen
seiner Mathematik-Kenntnisse zum Dienst als Hauptschatz-
meister herangezogen zu werden. Er floh nach Fes und verbarg
sich im Hause eines jüdischen Mathematikers namens Kallūf
al-Maġīlī. Dort setzte er seine Mathematikstudien fort. Später
ging er nach Marrakesch, wo er Mathematik, Philosophie und
Mystik mit dem «Meister des Westens», Abū l- ’Abbās Ah.mad
Ibn al-Bannā’ (gest. 1321), studierte. Bald wurde er zu einer
Kapazität und einem gefeierten Lehrer in den philosophischen
Wissenschaften.
Zur unruhigen Lage in Ibn Khaldūns Heimatstadt Tunis kam
in den Jahren 1348 und 1349 die grauenhafte Katastrophe der
Pest, die mit wütender Heftigkeit über die Stadt hereinbrach.
Ibn Khaldūns Eltern und viele seiner Lehrer fielen der Seuche
zum Opfer. Mit siebzehn Jahren stand er plötzlich ohne die
Stütze und Führung, die er vorher so selbstverständlich genos-
sen hatte, im Leben. Sein älterer Bruder Muh.ammad wurde das
Oberhaupt der Familie. Mit einundzwanzig Jahren bekam Ibn
Khaldūn als Meister der Signatur (S.āh.ib al- ’alāma) eine nicht
unbedeutende Stellung am Hofe. Seine Aufgabe bestand darin,
ratifizierende Formeln zwischen die Basmala und den Anfang
des Textes offizieller Dokumente zu schreiben. Als Inhaber die-
ses Amtes wurde er mit allen wichtigen Verwaltungsangelegen-
heiten bekannt und war deshalb fähig, eine beratende Funktion
auszuüben. Trotz dieses so guten Starts in eine Verwaltungskar-
riere, hatte Ibn Khaldūn nicht die Absicht, in Tunis zu bleiben,
auch die Missbilligung seines älteren Bruders konnte ihn nicht
davon abhalten, seine Heimatstadt zu verlassen. Während einer
Kampagne gegen einen Rivalen des Herrschers von Tunis ver-
schwand er heimlich aus dem Lager.

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Turbulente Zeiten, Freundschaften und Gefahren
Die vielen Beziehungen der Familie Khaldūn auf der akademi-
schen und politischen Ebene halfen Ibn Khaldūn auf seinem Weg
in den Maghrib. Zur damaligen Zeit war Abū ’Inān, der neue
Merinidenherrscher, im Aufstieg begriffen. Wie sein Vater war er
ein großer Freund der Wissenschaft. Ibn Khaldūn lernte ihn 1353
kennen, verbrachte mithilfe eines hohen merinidischen Beamten
den Winter 1353/54 in Bougie und nahm 1354 die Einladung Abū
’Ināns an, sich in Fes zu dem Kreis von Gelehrten zu gesellen, den
dieser um sich versammelt hatte. Unter den Gelehrten fand zu
dieser Zeit ein reger Austausch statt. Man nahm an den Kursen
und Vorträgen der Kollegen teil, wann immer man wollte, und
bildete sich fortwährend weiter. Ibn Khaldūns hochgeschätzter
Lehrer al-Ābilī sowie seine anderen Lehrmeister, die der Pest
entgangen waren, hatten sich inzwischen in Fes, dem neuen poli-
tischen und kulturellen Zentrum Nordafrikas, niedergelassen.
Jetzt ergab sich die Gelegenheit, die Studien mit ihnen weiterzu-
führen. Ibn Khaldūn vervollständigte in Fes seine Ausbildung
und zog großen Nutzen aus dem Kontakt mit den Persönlichkei-
ten, die sich um den Sultan versammelten oder auf der Durch-
reise in Fes Station machten, wie ein jüdischer Arzt und Astro-
loge, den er später, im Jahre 1364, in Spanien am Hofe von Pedro
dem Grausamen wiedertraf.7 Zwischen ihm und Ibn Khaldūn
entwickelte sich eine dauerhafte Freundschaft. Eine enge Freund-
schaft entstand auch zwischen Ibn Khaldūn und dem hafsidi-
schen Prinzen Abū ’Abd Allāh, den Abū ’Inān für seine politi-
schen Ziele auszunutzen versuchte. Diese Freundschaft erregte
das Misstrauen des Sultans. Beide Männer wurden 1357 von ihm
gefangen gesetzt, da er sie eines Komplotts verdächtigte. Wäh-
rend der Prinz bald wieder freikam, blieb Ibn Khaldūn im Ge-
fängnis. Die Gefangennahme beendete seinen Dienst als Sekre-
tär des Sultans, zu dem Abū ’Inān ihn 1355 ernannt hatte. Ibn
Khaldūn übte dieses Amt zwar aus, fand jedoch, dass es unter
seiner Würde sei. Seine Vorfahren waren es gewohnt gewesen,
beratende, administrative und ausführende Posten zu haben.

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Zu der Zeit, als er sich am Hofe des Sultans Abū ’Inān be-
fand, war Ibn Khaldūn schon verheiratet. Seine Frau ent-
stammte einer noblen und hochgebildeten Familie und war die
Tochter eines Generals und Kriegsministers.8 Ibn Khaldūn er-
wähnt, dass er Kinder mit ihr hatte.9
Kurze Zeit nach der Einkerkerung Ibn Khaldūns machte sich
Abū ’Inān auf den Weg, um Tunesien zu erobern. Es ist nicht er-
staunlich, dass er es für ratsam hielt, einen Tunesier gefangen zu
halten, der in gutem Einvernehmen mit der hafsidischen Familie
stand. Ibn Khaldūn war 21 oder 22 Monate lang im Gefängnis
und wurde erst wieder freigelassen, als Abū ’Inān im November
1358 starb. Damit brach die Macht der Meriniden zusammen.
An den darauf folgenden politischen Manövern nahm auch Ibn
Khaldūn teil und traf dabei eine gute Wahl, denn der von ihm
unterstützte Kandidat für das Amt des Herrschers, Abū Sālim,
übernahm im Juli 1359 die Macht in Marokko. Als Belohnung
für die Unterstützung machte er Ibn Khaldūn zu seinem wich-
tigsten Minister. Später, gegen Ende der Regierung Abū Sālims,
wurde ihm die Verantwortung für die sogenannte maz.ālim-
Gerichtsbarkeit übertragen, die theoretisch vom Herrscher selbst
ausgeübt wurde und sich der Beschwerden über Verfehlungen
von Amtsinhabern (einschließlich der Richter!) annahm. Dies
war Ibn Khaldūns erste Stellung auf dem Gebiet des Rechts, die
er jedoch nicht lange innehatte, da Sultan Abū Sālim im Herbst
1361 bei einer Revolte umkam.
Die politische Situation in Fes war im Gegensatz zu anderen
Gegenden, wo verschiedene Dynastien ihre Herrschaft festigen
konnten, sehr unruhig. Ibn Khaldūn machte Anstalten, Fes zu
verlassen, jedoch versuchte die Regierung, ihn daran zu hin-
dern, da man befürchtete, er könne seine Kenntnisse der politi-
schen Angelegenheiten zu ihrem Nachteil benutzen. Schließlich
wurde die Abmachung getroffen, dass er Fes verlassen könne,
sofern er nach Spanien ginge. So traf er im Dezember 1362 in
Granada ein, dem einzigen, damals noch bedeutenden islami-
schen Staat auf der Iberischen Halbinsel.

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In Spanien
Ibn Khaldūn wurde in Granada bestens empfangen, denn als
seinerzeit der Sultan von Granada, Muh.ammad V., aufgrund
einer Revolte zeitweilig gezwungen war, ins Exil zu gehen, und
er mit seinem Wesir, dem großen Gelehrten Ibn al-Hat.īb, nach
˘
Fes kam, war ihm von Ibn Khaldūn als Minister des Sultans von
Fes eine gute Aufnahme zuteil geworden. Ibn Khaldūns Bemü-
hungen hatten dazu beigetragen, dass Muh.ammad V. seine
Herrschaft über Granada wieder festigen konnte. Der Sultan
schenkte ihm jetzt sein Vertrauen und zeigte sich großzügig,
und Ibn al-Hat.īb war ihm in Freundschaft verbunden. Im Jahre
˘
1364 wurde Ibn Khaldūn die Leitung einer Gesandtschaft zu
Pedro dem Grausamen, dem Herrscher von Kastilien, übertra-
gen, um einen Friedensvertrag zwischen Kastilien und den Mus-
limen auszuhandeln. Bei dieser Gelegenheit konnte Ibn Khaldūn
Sevilla, die Stadt seiner Vorfahren, besuchen. Pedro, der christ-
liche König, ließ Ibn Khaldūn hohe Ehren zuteil werden, bot
ihm an, in seine Dienste zu treten und den früheren Besitz seiner
Familie in Sevilla an ihn zurückzugeben. Ibn Khaldūn lehnte
das Angebot jedoch ab.
Nachdem sich Ibn Khaldūn in der ruhigeren Atmosphäre von
Granada niedergelassen hatte, ließ er seine Familie nachkom-
men. Die Situation änderte sich jedoch bald. Mit Ibn Khaldūns
wachsendem Einfluss am Hof wuchs offenbar die Unzufrieden-
heit des gelehrten Freundes Ibn al-Hat.īb. Ibn Khaldūn hatte sich
˘
vorgenommen, den jungen Herrscher (er war Mitte zwanzig) in
den philosophischen Wissenschaften, den Grundlagen der Re-
ligion und des Rechts zu unterweisen. Er schrieb speziell für
Muh.ammad V. ein Buch über Logik. Er hoffte, dadurch seine
Vorstellungen von einem wohlfunktionierenden Staat unter der
Leitung eines weisen Herrschers zu verwirklichen. Der junge
Herrscher schien aufnahmebereit zu sein, und die beiden Män-
ner verbrachten viele Stunden miteinander. Ibn al-Hat.īb, der in
˘
seinen frühen Fünfzigern und damit etwa zwanzig Jahre älter
war als Ibn Khaldūn, hatte sein ganzes Leben in Spanien ver-

– 21 –
bracht und war nicht nur ein ausgezeichneter Gelehrter, sondern
auch ein weiser Staatsmann, der die Kunst der praktischen Poli-
tik beherrschte. Er war davon überzeugt, dass Muh.ammad V.
nicht die nötigen Qualifikationen hatte, um das Wissen, das Ibn
Khaldūn ihm zu vermitteln suchte, richtig aufzunehmen und
anzuwenden. Ibn Khaldūns Bemühungen hielt er deshalb für
gefährlich, weil sie auf unfruchtbaren Boden fallen und falsche
Resultate hervorbringen würden. Ibn al-Hat.īb machte deutlich,
˘
dass er diese Situation nicht tolerieren könne. Daraufhin nahm
Ibn Khaldūn eine Einladung seines alten Freundes, des Hafsiden
Abū ’Abd Allāh, an, der inzwischen die Kontrolle über Bougie
gewonnen hatte und ihm einige Zeit zuvor einen hohen Posten
angeboten hatte.10 Er verließ Granada im Februar 1365. Von Ibn
al-Hat.īb bekam er einen im Namen von Sultan Muh.ammad V.
˘
geschriebenen, schmeichelhaften Brief, in dem großes Bedauern
über seine Abreise ausgedrückt wurde. Obwohl der persönliche
Kontakt zwischen ihm und Ibn al-Hat.īb abgebrochen war, stand
˘
Ibn Khaldūn nach wie vor auf bestem Fuß mit seinem Freund,
den er Zeit seines Lebens schätzte und vor dessen literarischen
Fähigkeiten er immer den größten Respekt hatte. Nach seiner
Abreise begann Ibn al-Hat.īb eine lange, sehr freundliche Korres-
˘
pondenz mit ihm, informierte ihn über die politischen und lite-
rarischen Ereignisse in Spanien und berichtete über seine neues-
ten Werke auf den Gebieten Geschichte, Literatur und Mystik.
Im Laufe der Zeit entwickelte sich Muh.ammad V. zu einem
grausamen Tyrannen, und Ibn al-Hat.ībs schlimmste Befürch-
˘
tungen wurden wahr. Er musste nach Nordafrika fliehen, doch
Muh.ammad V. ruhte nicht eher, bis Ibn al-Hat.īb gefangen ge-
˘
setzt, öffentlich wegen unorthodoxer philosophischer und mys-
tischer Ansichten verurteilt und im Jahre 1374 in Fes grausam
ermordet wurde. Ibn Khaldūn besuchte Ibn al-Hat.īb kurz zuvor
˘
im Gefängnis und versuchte vergebens, das Leben des Mannes
zu retten, über den er nur Lobendes zu sagen hatte. In seiner
Autobiographie betrachtete Ibn Khaldūn rückblickend seine
Ansicht, man könne Muh.ammad V. zu einem «Philosophen-
könig» erziehen, als eine vollkommene Fehleinschätzung.

– 22 –
Rückkehr in die politischen Wirren
Ibn Khaldūn kam im März 1365 in Bougie an und wurde ehren-
voll empfangen. Sultan Abū ’Abd Allāh indes, der offensichtlich
ein unfähiger Herrscher war, verlor sehr bald das Vertrauen der
Einwohner von Bougie. Er hatte in seinem Vetter, Abū l- ’Abbās
von Constantine, einen Gegner, gegen den er sich letztlich nicht
erfolgreich verteidigen konnte. Um dem Freund zu helfen, über-
nahm Ibn Khaldūn die nicht ungefährliche Aufgabe, Steuern
von den Berberstämmen in den Bergen von Bougie einzutreiben,
denn das Geld war dringend nötig, um die Herrschaft Abū ’Abd
Allāhs aufrechtzuerhalten. Im Mai 1366 fiel Abū ’Abd Allāh in
der letzten Schlacht gegen seinen Vetter. Ibn Khaldūn, der sich
gegenüber den Kindern des gefallenen Herrschers nicht ver-
pflichtet fühlte, ging zu dessen siegreichem Vetter Abū l- ’Abbās
über, der ihn um seine Unterstützung ersucht hatte.
Bald danach entschied er sich jedoch, dessen Dienste zu ver-
lassen, da seine Feinde gegen ihn intrigierten. Ibn Khaldūn
musste einsehen, dass er als Berater eines Herrschers seine Hoff-
nungen auf die Schaffung eines wohlausgewogenen Staatsgebil-
des nicht verwirklichen konnte. Er begann, ernsthafte Über-
legungen anzustellen über das Wesen des Herrschers, über die
Eigenschaften und die Geschichte der Menschen, über die er
herrscht, und über die Notwendigkeit einer immerfort im Wech-
sel begriffenen politischen Lage. Über diese und viele andere
Gedanken und Überlegungen, über seine Verwirrung und seine
Ungewissheit schrieb er an Ibn al-Hat.īb. Nach einigem Zögern
˘
bekam er schließlich vom Sultan die Erlaubnis, Bougie zu ver-
lassen. Er nahm eine alte Verbindung mit einem arabischen
Stamm wieder auf und ließ sich in Biskra nieder. Dort erfuhr er,
dass sein Bruder Yah.yā von Abū l- ’Abbās gefangen gesetzt wor-
den war.
In den folgenden Jahren war die politische Lage übersicht-
licher. Auf der einen Seite standen die Sultane von Tlemcen und
Tunis, auf der anderen ein Thronbewerber für die Herrschaft in
Tlemcen sowie der Herrscher von Constantine und Bougie.

– 23 –
Ausschlaggebend war in dieser Situation die Haltung der
Stämme, und auf diesem Gebiet hatte Ibn Khaldūn großen Ein-
fluss.
Der Herrscher von Tlemcen, Abū H . ammū, setzte sich mit Ibn
Khaldūn in Verbindung, lud ihn auf sehr schmeichelhafte Weise
ein, in seine Dienste zu treten, und bot ihm einen hohen Posten
an. Ibn Khaldūn zögerte jedoch und schickte seinen Bruder
Yah.yā, der inzwischen wieder aus dem Gefängnis entlassen wor-
den war. Als Grund für seine Absage gab Ibn Khaldūn an, er sei
des politischen Lebens müde und wolle sich in Ruhe der For-
schung widmen.
Die politische Lage änderte sich erneut, als der starke neue
merinidische Herrscher von Fes, ’Abd al- ’Azīz (1366–1372) im
Jahre 1370 gegen Tlemcen marschierte. Aufgrund des gespann-
ten Verhältnisses mit den Meriniden entschloss sich Ibn Khaldūn,
nach Spanien zu reisen, wurde jedoch auf dem Weg dorthin ge-
fangen genommen. Der Herrscher scheint eine Einmischung
Spaniens befürchtet zu haben, wenn er Ibn Khaldūn dorthin rei-
sen ließe. Als dieser vor ’Abd al- ’Azīz gebracht wurde, hatte er
Mühe, ihn zu beschwichtigen, und als er den Herrscher verließ,
wusste er nicht, ob er mit dem Leben davonkommen würde. Zu
seiner Erleichterung wurde er jedoch schon am nächsten Mor-
gen wieder freigelassen. Er ging zum Heiligtum des großen Sufis
Abū Madyan11 in ’Ubbād in der Nähe von Tlemcen und ent-
schloss sich, sein zukünftiges Leben mit Forschung und Lehre
zu verbringen.
Dazu kam es jedoch nicht, denn Ibn Khaldūn wurde in den
Dienst des Sultans berufen und fand keinen Weg, abzulehnen.
Aufgrund seiner Beziehungen zu den arabischen Stämmen war
er wertvoll für den Sultan, der sich bemühte, diese Stämme auf
seine Seite zu bringen. Nach dem Tode von ’Abd al- ’Azīz machte
die in Fes herrschende Verwirrung es schwer für Ibn Khaldūn,
seinen Platz zu finden. Wieder richtete er sein Augenmerk auf
Spanien, jedoch war die Lage inzwischen so gespannt, dass zwi-
schen Fes und Granada beinahe Kriegsstimmung herrschte, und
die Regierung in Fes versuchte auf jede Weise, Ibn Khaldūns

– 24 –
Abreise zu verhindern. 1374 gelang es ihm schließlich, nach
Granada zu reisen, aber seiner Familie wurde die Ausreise nicht
erlaubt.

Abschied vom Westen


[…]
Auf Druck der Regierung in Fes wurde Ibn Khaldūn bald wie-
der aus Granada verwiesen. Nach seiner Rückkehr nach Nord-
afrika gelang es ihm mithilfe eines Freundes, nach Tlemcen zu
gehen, wo Abū H . ammū wieder die Herrschaft innehatte. Nach
den turbulenten neun Jahren war Ibn Khaldūn der Politik müde.
Es kam ihm wie gerufen, dass der Herrscher von Tlemcen ihm
die Führung einer Mission zu einem Araberstamm übertrug. Er
machte Station bei der führenden Familie eines anderen Stam-
mes und blieb dort. Im März 1375 konnte seine Familie dorthin
nachkommen. Der Stamm, die Aulād ’Arīf, erlaubte der ganzen
Familie, unter seinem Schutz in der Qal ’at as-Salāma, einer
Burg in der Provinz von Oran, zu wohnen. Nach zwanzig Jah-
ren politischer Tätigkeit verbrachte Ibn Khaldūn hier vier ru-
hige Jahre und begann, seine «Geschichte» zu schreiben, deren
Einleitung (Muqaddima) er nach seinen eigenen Worten im No-
vember 1377 fertigstellte.
Nachdem sich Ibn Khaldūn von einer ernsthaften Krankheit
erholt hatte, entschloss er sich, nach Tunis zu reisen, um große
Bibliotheken zur Verfügung zu haben. Inzwischen war der Haf-
side Abū l- ’Abbās in Tunis seit sieben Jahren der mächtigste
Herrscher in Nordwestafrika. Die erste, unglückliche Begeg-
nung Ibn Khaldūns mit diesem Herrscher hatte elf Jahre zuvor
stattgefunden. Er schickte nun eine Petition an den Sultan, in
der er zum Ausdruck brachte, dass er als Wissenschaftler Stu-
dien in Tunis betreiben wolle und seinen Geburtsort und die
Gräber seiner Eltern zu sehen wünsche. Der Sultan gab seine Er-
laubnis, und im frühen Winter 1378 machte sich Ibn Khaldūn
auf die Reise.
Schon bald zeigte sich wieder Opposition gegen Ibn Khaldūn,
besonders vonseiten eines großen Rechtsgelehrten, der sech-

– 25 –

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