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Zur Genese neuzeitlicher Subjektivität
Müller-Doohm, Stefan
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Zeitschriftenartikel / journal article
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Müller-Doohm, S. (1987). Zur Genese neuzeitlicher Subjektivität. Psychologie und Gesellschaftskritik, 11(1), 63-82.
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-266365
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ZUR GENESE NEUZEITLICHER SUBJEKTIVITÄT
STEFAN MULLER-DOOHM
E8 bteibt nichts anderes
als aas Postulat des
Dennoch in der Vergebtichkeit.
Athen Camus
1. Bedingungen und Ausdrucksformen der Individuierung am Beginn der MOderne
Mit der regional unterschiedlichen Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung im Zeitraum vom 12. bis 16. Jahrhundert hebt ein neues Ze~talr
an, das
nicht nur aus der Distanz der Nachgeborenen, sondern auch im Hinblick auf das
Bewußtsein damaliger Zeitgenossenschaft als die Mo der n e bezeichnet werden kan~.
Dieser neuzeitliche Wandlungsprozeß läutet jene bürgerliche Epoche ein.
deren ökonomische. politische. soziale und kulturelle Grundstrukturen bis heute
fortwirken. An die Stelle der Idee eines göttlich gefügten, folglich hinzunehmenden Gesellschaftsorganismus tritt die Dynamik bürgerlichen Denkens und Handelns.
Diese läßt sich davon leiten, die eigene Gesellschaft und ihre Geschichte selbst
aktiv nach Maßgabe allgemeiner Vernünftigkeit zu gestalten. Diese Vernunftorientierung erkenntnis- und handlungsfähiger Subjekte impliziert nicht nur ein zweckrationales Verhältnis zur Gesellschaft und zur Natur, sondern auch eine analoge
Einstellung zum eigenen Ich. dem seelischen Innenbereich wie dem körperlichen
Außenbereich. Das Subjekt selbst wird Gegenstand abstrakter Begriffsbestimmung.
Diese Subjektphase unterstellt das autonome Individuum als Ort der Vernunft.
Ihm wird deshalb die "Last der Selbstbehauptung" (Hans Blumenberg) auferlegt.
Niemand sonst als das der Vernunft mächtige, mUndige Subjekt kann der "Täter der
Geschichte" (Oda Marquard) sein. Und als solcher Akteur tritt er praktisch erstmals während der Ren ais san c e e p 0 c hein Erscheinung.
Von dieser Frühperiode der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ausgehend lassen sich in idealtypischer Vereinfachung d r e i Hau p t b e d i n gun gen benennen. die als konstitutiv angesehen werden müssen für die Möglichkeit
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der Genese neuzeitlicher Subjektivität: Frühkapitalismus, Selbstbewußtsein und
Säkul ari s i erung.
(1) Die ökonomischen Wandlungsprozesse im Gefolge der frUhkapitalistischen Wirtschaftsweise, die ihrerseits die Verbesserung des Bank- und Kredltwesens, Neuerungen in der Buchführung sowie die Trennung von Haushalt und Betrieb, ferner
eine rational-formale Struktur des Rechts und der Verwaltung zur Voraussetzung
haben, sprengen die SelbstgenügsamkeH und das an Bedarfsdeckung orientierte
Prinzip des handwerklichen Einzelbetriebs. Diese Vorgänge führen zum Zerfall genossenwirtschaftlicher ökonomie und zur Einführung erster Formen einer Zunft-,
Gewerbe- und Handelsfreiheit. Indem die wirtschaftliche Existenz immer weniger
an Grund und Boden haftet, lösen sich die lokalen Abhängigkeiten nach und nach
auf. Hingegen gewinnen die urbanen Handelszentren mit ihrer spezifischen VerknUpfung von rechtlich-administrativen, militärischen und staatlich-herrschaftlichen
Funktionen und ihrer entwickelten zivilisatorischen Infrastruktur und Lebenskultur an sozialer Relevanz. Nicht nur die fortschrittlichen oberitalienischen
Stadtrepubliken sind dafür ein Beispiel, sondern auch die freien Reichs- und
Hansestädte im deutschsprachigen Raum.
Bei den Bürgern dieser Städte gedeiht ein neuer, auf der Erfahrung von Eigentum
und Unabhängigkeit gegrUndeter Geist. Zunächst sind es nur die Patrizierfamilien,
dann aber auch die Handwerkerfamilien, in denen sich mit der Erweiterung der Vermögensbasis ein Selbstbild zu konstituieren beginnt, das sich mit dem Begriff
des "Besitzindividualismus" bezeichnen läßt (C.B. Macpherson). Gemäß dieser besitzindividualistischen Einstellung versteht sich die Person tnsofern als Individuum, als sie EigentUmer ihrer selbst und aus diesem Grunde frei ist, eine
Eigenschaft, die in die Natur des Subjekts zurUckinterpretiert wurde.
(2) Diese besitzindividualistisch begründete Obertragung von Verantwortung auf
die eigene Person bedingt und fördert zugleich das Selbstvertrauen des Subjekts.
In dieser Bewußtseinshaltung eines auf Tatkraft gestützten Selbstvertrauens, das
in den Entdeckungsfahrten und der Erforschung der Welt während eines knappen
Jahrhunderts gipfelt, ist ein zweiter wesentlicher Bedingungsfaktor für jenen
Emanzipationsprozeß zu sehen, an dessen rnde das Idealbild vom Subjekt als autonomes Individuum steht. In diesem Deutungsmuster spiegelt sich der dynamische
Me n s c h e n beg r i f f
der Ren ais san ce. Er besagt, daß
das Individuum als "Mittelpunkt seiner souveränen und sich selbst genUgenden
Welt" (Leonid Batkin) eine persönliche Entwicklungsgeschichte hat. Mit der bewußten Akzentuierung der Individualität spielen Momente eine Rolle, wie etwa
die Tüchtigkeit, der Ruhm, die Größe einer einzelnen Person.
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Daß Selbstbewußtsein auch und gerade als Interesse an der eigenen Person lebendig wird, fUhrt die a u tob i 0 9 rap his c h e S c h r i f t s tel 1 e re i vor Augen. die im übrigen voraussetzt, daß es einen Begriff, eine
Vorstellung von Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung gibt. Neben der
biographischen und autobiographischen Schriftstellerei kommt dieses neue Selbstbewußtsein in den w e 1 t 1 ich e n P 0 r t rät s zum Ausdruck, die sich
in der Renaissance als Neuerung neben dem Landschaftsbild und dem Stilleben durchzusetzen beginnen. Es wurden nicht nur berühmte Persönlichkeiten wie Fürsten,
Dichter, Kaufleute gemalt, vielmehr fand eine Art "Demokratisierung des Porträts"
(Peter Burke) statt. 1 Solche Bilder können durchaus als Bekenntnis zum eigenen
Selbst,.aber auch als Formen künstlerisch-ästhetischer Selbstreflexion verstanden werden. Und das ist eine Haltung, die ein Bewußtsein von Individualität bedingt und seine Konsequenz ist. Eine weitere auffallende Erscheinung in der Renaissancekunst, die sich kunstsoziologisch als Bestätigung des Zugs zum,Individualismus interpretieren läßt. ist das Auf t r e t e n d e r n a c k t e n
F i gur als Zeichen für die Wahrnehmung des eigenen Körper-Ichs.
(3) Eine dritte Bedingung dafür. daß Individualismus als Idee und sozialer Habitus an Boden gewinnt, besteht in den soziokulturell bedeutsamen Prozessen der Säkularisierung: Was der Mensch seiQ kann und soll. wurde immer weniger durch Auslegung der Schrift zu b~stimen
versucht, sondern man ging dazu über, das als
menschlich gelten zu lassen, was die wissenschaftlichen Erkenntnisse zutage förderten. Damit wird die Erkenntnis des Menschen und seiner natürlichen Umgebung
zu einem Spezial problem der Wissenschaft, die sich ihrerseits zunehmend am Ideal
der Naturwissenschaft ausrichtet. Der religiöse Glaube transformiert sich, ohne
Um den Eindruck zu vermeiden, die soziokulturellen Erscheinungen der Renaissance-Kunst seien alleine Sache der oberitalienischen Stadtrepubliken, sollen
die Person und das Werk Albrecht Dürers angeführt werden. Er malte nicht nur
sich selbst. sondern Familienangehörige, Bürger Nürnbergs. Reisebekanntschaften. Wie sehr solche Porträtstudien die ,Lebensgeschichte und die individuelle
Eigenart. den Charakter der abgebildeten Person einzufangen versuchen und einzufangen vermögen, belegt vielleicht am eindrucksvollsten die berühmte Kohlestiftzeichnung von Dürers Mutter. in der das besondere Subjekt mit seiner Biographie, Physiognomie und Psyche lebendig wird. Eine solche, das Subjektive
pointierende Haltung nimmt der NUrnberger KUnstler auch gegen sich selbst ein.
Bekanntlich liegen von Dürer eine ganze Reihe eindrucksvoller zeichnerischer
und malerischer Selbstdarstellungen vor, die er - vor dem Spiegel sitzend schon als 13jähriger angefertigt hat (1484). Die Erlanger Selbstbildnisse
von 1492/93 zeigen expressiv subjektive Stimmungslagen des Künstlers. der in
all seiner Individualität bis hin zu extremen Sonderlichkeiten den Betrachter
ohne Zurückhaltung und Scheu voll anblickt: Er will von ihm akzeptiert werden.
so wie er ist in seiner persönlichen Stimmung und psychischen Verfassung. Die
später entstandenen gemalten Selbstbildnisse Dürers von 1493. 1498 und 1500
präsentieren und dokumentieren die Person in unterschiedlichen Lebensphasen.
die sich auf diese Weise selbstbewußt als Ich zu erkennen gibt.
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deshalb notwendigerweise atheistisch zu sein. in Vernunftglaube. Das Prim a t des N a t u r g e set z 1 ich e n und mittels Kontrolle der
Naturgesetze Machbaren. das Primat der erfolgreichen Naturbeherrschung bewirkt
im Verhältnis von Einzelwesen und Kosmos eine Stärkung des Subjekts. das seinen Handlungsspielraum durch Erkenntnisleistung beständig erweitert.
2. Konsequenzen einer Subjektivität als Heuchelei: Verinnerlichung des
Moralischen
Der hier abzubrechende sChlaglichtartige. primär kuitursoziologische Rückblick
auf die Entstehung der kulturellen Moderne sollte einige zentrale Konstitutionselemente der Idee des Subjekts benennen. Es dürfte deutlich geworden sein, daß
im neuzeitlichen Denken implizit eine Subjekttheorie angelegt ist. Ihr Inhalt
besteht in der positiven Bestimmung der vielfältigen. auf seiner Vernunft gegrUndeten Fähigkeiten des Menschen, seiner natürlichen Wesenkräfte und humanen
Möglichkeiten. Was derart als Sub j e k t t h e 0 r i e bezeichnet werden
kann. ist die Entdeckung des Menschen als Individuum und seiner prinzipiellen
Vernunftbegabtheit. die ihn sowohl zum Souverän Uber die Natur und die in ihr
waltenden.• erfahrungswissenschaftlieh erfaßbaren Naturgesetze nacht als auch
die Bedingung zur Errichtung einer sozialen Ordnung an die Hand gibt, die nach
Prinzipien von allgemeiner Gerechtigkeit und individueller Freiheit organisiert
ist. In anthropologischer Sicht korrespondiert dieser Menschenemphase die Begründung der Selbständigkeit des Individuums mit eigenem Seelenleben. Geist und
Körper. Oieser I n d i v i d u a 1 i s mus drückt sich am.deutlichsten in
dem heroischen Menschenbild der Renaissancekunst aus, aber auch in der Hochschätzung der Menschenwürde als humanistischem Ideal sowie in der sozial vertragstheoretischen Legitimierung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung durch
die Obereinkunft der ihr unterworfenen Subjekte. Zweifellos ist diese FrUhform
einer Subjekttheorie in ihren HauptzUgen optimistisch und zugleich affirmativ.
Kritisch ist sie nur da, wo sie sich gegen die Einheit der traditionellen mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen und gegen die Abhängigkeit der Wahrheit
menschlichen Denkens und Handelns von der Offenbarung und von religiösen Dogmen
richtet.
Der praktisch gelebte Individualismus während der Renaissanceepoche hat soziologisch gesehen einen Aspekt. der mit der emphatischen Entdeckung des Subjekts
aufs engste zusammenhängt. Wir werden nämlich mit einem kollektiven Verhaltensphänomen konfrontiert. das Agnes Heller "Heuchelei als AttitUde" nennt. Es handelt sich hierbei um jene Mentalität. die Lionell Trilling in seiner Diagnose
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vom "Ende der Aufrichtigkeit" zusammenfaßt. Die F ä h i g k e i t zur
Heu ehe 1 e i und die komplementäre F 0 r der u n g der Aufr ich t i g k e i t müssen als Verhaltensmuster und Verhaltensideal verstanden werden, die erstmals in der Renaissancegesellschaft zum kollektiven
Phänomen und Problem werden.
Ein vorzügliches und damals wie heute faszinierendes Beispiel für diese historisch neuartige und subjektgeschichtlich interessante Situation, in der
Schein und Wirklichkeit kaum noch voneinander zu trennen sind, liefert der
"berühmte Prozeß aus dem 16. Jahrhundert in Südfrankreich gegen Arnaud du Ti1h
alias Hartin Guerre, den kein Geringerer als Montaigne mit unverhohlener Hochschätzung für die betrügerischen VerstellungskUnste des Angeklagten erwähnt:
"Zwei Menschen machten Anspruch darauf, eine Person zu sein. ,,2 Der Angeklagte
du Tilh kann vor dem Gericht in Rieux und dem Parlament in Toulouse glaubhaft
machen, daß er ein anderer sei. nämlich jener Hartin Guerre, der acht Jahre zuvor sein Dorf. sein Haus, seine Frau und sein Kind verlassen hatte. Auf seine
Verstandesfähigkeit und sein EinfUhlungsvermögen in soziale Verhaltenserwartungen vertrauend, wird der gespielte Martin Guerre sowohl von dem Großteil
der Dorfbewohner und der Verwandten als auch von der verlassenen Frau des Betrogenen akzeptiert. Er stellt nicht nur eine Person vor, die er in Wahrheit
nicht ist, sondern spielt sie als soziale Rolle (Ehemann. Bauer, Mitglied der
Dorfgemeinschaft, Vater etc.) perfekter,als die echte Person es vermocht hat,
und diese Perfektion in der Haske eines anderen ist es, die ihm die Sympathie
der Frau und schließlich die Faszination der Richter einzubringen scheint.
Das Verwirrende des sensationellen Falls besteht nicht so sehr in der betrügerischen und freilich juristisch geahndeten Doppelgängerei, als vielmehr in
der Identitätsproblematik: Es ging nämlich darum. die I den t i t ä t
2 Dieser Tagebucheintragung Montaignes geht die wirkliche Geschichte eines
jungen Bauern aus Artigat in Südfrankreich voraus, der seine Familie als
Zwang erlebt. dem seine in jungen Jahren" geheiratete Frau sowie seine Ehe
fremd bleiben und der sich in die Gemeinschaft seines Heimatdorfes nicht so
ganz einfügen möchte und von heute auf morgen alles im Stich läßt. alle
Sicherheiten aufgibt und, ohne Nachrichten zu hinterlassen, spurlos sein
Helmatdorf verläßt und auf Reisen geht. Nach etwa 8 Jahren kehrt jemand ins
Dorf zurück und behauptet, jener halbvergessene, verschollen geglaubte Martin
Guerre zu sein. und wird denn a~ch
als solcher erkannt und bald anerkannt.
Zweifel an seiner Identität werden viel später vom Onkel aufgrund von Erbstreitigkeiten geäußert, die dann schließ1ich zu zwei Gerichtspoz~n
und zur Spaltung des Dorfes in eine Parte, von Oberzeugten und Zwe,flern
führt. Nachdem in zwei aufwendigen Gerichtsverfahren und ent~prchd
Nachforschungen durch den Richter Jean de Curas sich ein Fre~spuch
fu~
den
Heimgekehrten abzeichnet. taucht überraschend der wahre Hartln Guerre ~m
Prozeßsaal auf, und der Identitätsdieb wir? definitiv als Arnauld du Tl1h
identifiziert und überführt, danach fUr selnen Betrug zum T~de
durch,den
Strang verurteilt. Vgl. Davis, Nathalie Zemun: Die wahrhaftlge Geschlchte
von der Wiederkehr des Martin Guerre, München 1982.
- 68 ein e r Per s 0 n zweifelsfrei festzustellen. An der Lösung dieses Problems scheitern die honorigen Richter von Rieux und das kluge Parlament von
Toulouse. Denn der IdentitätsDieb mutet sich tatsächlich die Paradoxie zu,
eine ScheinIdentität, die er sich auf der Grundlage seiner sozialen Handlungskompetenzen geschaffen hatte und die sozial glaubhaft war, gegen ein Individuum zu verteidigen, das sie (zufällig) biographisch repräsentierte und
daran sozial gescheitert war.
Einen interessanten Aspekt dieses juristischen Falls bietet überdies Bertrande
de Rols, die Ehefrau des wahren Martin Guerre, die gewiß das Spiel von Anfang
an durchschaut hatte, aber die Rol~e
der unschuldigen, der achtbaren und anständigen Frau glaubhaft zu spielen und zugleich ihre innersten Gefühle, den
intimen Bereich ihres Ichs zu schützen vermochte: Sie geht gewissermaßen spielerisch mit ihrer wohlverstanden sozialen Rolle um. Aber nur sie selbst weiß,
wer und was sie ist, wie es in ihrem Innern aussieht.
Wie steht es indes um den heimkehrenden wahren Martin Guerre1 Ihm muß es um die
Wahrhaftigkeit seiner Person, um die Wahrheit seiner persönlichen Identität gehen. Der echte Martin Guerre dürfte zurückgekehrt sein, um seine Identität, seine Subjektivität wieder in Besitz zu nehmen.
Bezeichnend ist, daß diese kuriose Situation: Soziale Realität als Schein und
Trug und ihr Gegenteil: die Suche nach Aufrichtigkeit bevorzugte Stoffe des
3
Theaters zur Zeit von Shakespeare bis Moliere sind.
Es wäre verkürzt, diesen neuartigen Habitus, der von dem skizzierten Fall in
Extremform vorgestellt wird, gesellschaftskritisch auf die "harte Realität der
3 Auf diese Tatsache macht gleichfalls Trilling in seiner vorzüglichen Arbeit
über "Das Ende der Aufrichtigkeit" (München 1982, 11 ff) aufmerksam. Seine
sozial und kulturhistorischen Studien über die Konstitution des modernen
Menschenbildes machen deutlich, daß mit der Freiheit zur Unaufrichtigkeit
die Sub j e k t i v i t ä t m ehr d i m e n s ion a 1 wird. Zum einen läßt sich zwischen Aufrichtigkeit als (äußerer)Konformität/Nonkonformität und als (innerer) Authentizität/Inauthentizität unterscheiden. Zum anderen kann eine Ausdifferenzierung zwischen der authentischen Innendimension
und der sozialen und personalen Außendimension konstatiert werden. In Anwendung dieser interaktionstheoretischen Terminologie läßt sich Subjektivität
begrifflich fassen: Sie ist die Einheit (oder Balance) von "IchIdentität"
als Rollenkonformität bzw. Rollendistanz (soziales Verhalten wird als Rollenverhalten und die Rolle als soziales Konstrukt durchschaut) und von "persönlicher Identität" als demonstrierte und erkennbare Einzigartigkeit.
Für diese Begrifflichkeit vgl. Goffman, Erving: Stigma Ober die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt 1963.
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individuierten Gesellschaft" zurUckzufUhren, wie das Max Horkheimer versucht,
wenn er schreibt: "Als Sinnbilder dieser Epoche des entfesselten Eigennutzes
können jene Renaissancegemälde angesehen werden, in denen Stifter mit unbarmherzigen und verschlagenen Gesichtern als demUtige Heilige unter dem Kreuz
knien. ,,4
So berechtigt diese Kritik an der Heuchelei als Charakteristikum der Waren.tauschgesellschaft ist. so muß doch auch festgehalten werden, daß in dieser
Differenzierung zwischen Aufrichtigkeit und Heuchelei sich die Existenz einer
relativen V a r i a t ion s b r e i t e S 0 Z ; ale r E; n s tel Ver h a l t e n s f 0 r m e n spie1 u n gen und s 0 z i ale r
gelt. Dieser Verhaltensspielraum in der sozialen Interaktion entspricht einer
vergleichsweise offenen Sozialordnung mit Ansätzen einer vertikalen und horizontalen Mobilität. in der fUr das Individuum faktisch differenzierte Realisationsmöglichkeiten bestehen. Unter der Bedingung dieser Differenzierung zwischen Schein und Wahrhaftigkeit können Uberhaupt erst personale Innenwelt und
soziale Außenwelt als zwei Seiten eines Individuums angesehen werden. Es ist
bekannt. daß diese Souveränität des Subjekts. bis hin zur Abstraktion von sich
selbst, daß dieses Pseudoverhalten·auch Unsicherheiten auslöste. Dieser Sicher~eitsvrlu
steht im ZlIsammenhang mit jenen k 0 1 1 e k t i v e n Ä n 9
s.t e n. die dadurch hervorgerufen und verstärkt wurden, daß sich das Vernunftsubjekt von der Vorstellung göttlicher Geborgenheit emanzipierte und sich
selbst omnipotent die Verantwortung fUr den Geschichtsverlauf zumutet.
Wir wissen, in welchen Exzessen jene fundamentalen Ängste kompensatorisch freigesetzt und ausgelebt wurden, die als Schatten den Prozeß neuzeitlicher Subjektkonstitution begleitet haben. Diese latenten Ängste wurden aber auch geschürt und zu Herrschaftszwecken genutzt und gelenkt. Sie wurden als Vernichtungswahn gegen Minderheiten und Abweichler. als Destruktivität gegen alles
Fremde manifest. Darin offenbart sich die fatale Kehrseite des Subjektivierungsprozesses. die historisch von diesem Prozeß nicht zu trennen ist. Denn indem das
vernUnftige Subjekt sich selbst zum Maßstab von Menschen überhaupt macht, muß
dieses Subjekt seiner Ängste vor allem Nichtvernünftigen, vor dem Rückfall in
das chaotische Stadium der Welt Herr werden. Dieser Herrschaftsakt vollzieht
sich nicht zuletzt auch als demonstrativer Akt der Selbstvergewisserung durch
Liquidation des anderen der Subjektvernunft. Diese Liquidation wurde Realität
in den Ketzerverfolgungen, Hexenprozessen und Glaubenskämpfen.
4 Horkheimer, Max: Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Kritische Theorie.
1968. Bd. II. 11.
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So rechnet Machiavelli mit der Korruptibilität und Amoralität egoistisch gesonnener Besitzindividuen, denen die Tugend mitnichten angeboren sei, sondern die erworben und dazu vorab versinnbildlicht werden müsse. Machiavelli,
der sich für eine scharfe Trennung von Politik und Moral ausspricht, registriert frühzeitig jenes "Ende der Aufrichtigkeit", das wir als eine Entwicklungsstufe neuzeitlicher Subjektivität gedeutet haben. Diese spezifisch moderne Virtuosität blendendscheinhafter Selbstinszenierung der eigenen Person und
ihrer Interessen, die Maskierung der individuellen Absichten läßt im Laufe des
16. Jahrhunderts das Problem einer "neuen Massenmoral" (Franz Sorkenau) akut
werden. Eine solche zunehmende Akzentuferung der Moralität des Verhaltens vollzieht sich über das Medium der Religion bzw. die Fortschreitende Ver
W e 1 t 1 ich u n g des
G 1 a u ben s: Der transzendentale Glaube
wird zur Konfession. So scheint die Renaissanceepoche ihr ironisches Pendant
in einer besonderen Renaissance ethisch begründeter Tugendlehren gefunden zu
haben. Diese durch Reformation und Gegenreformation ausgelöste neue Religiosftät steht im Zeichen einer Restituierung der Moral im Alltagsleben. Ziel der
Konfessionalisierung ist nicht so sehr die Reinhaltung der christlichen Glaubenslehre, sondern die ethische Fundierung einer sittlichen Praxis der Menschen, die moralische Verpflichtung zur guten Lebensführung. Diese Dekretierung einer verbindlichen Sozialmoral steht aufs engste im Zusammenhang mit
subjekttheoretischen Prämissen, die die "Vergottung des Menschen" der Renaissance durch ein n e g a t i v e s Me n s c h e n k 0 n z e p tablöst.
Sowohl die Luthersche Sünden und Gnadenlehre als .auch der Calvinismus gehen
von der grundsätzlichen Bosheit und Verführbarkeit des Subjekts aus: Erst die
als Denaturierung verstandene innerweltliche Askese und methodische Lebensführung lasse das an sich urböse Subjekt über die Unfreiheit seiner Triebe und
seiner Asozialität wachsen. Die daraus begründete prot~anische
Berufsethik
ist funktional bezogen auf die ökonomie des Manufakturkapitalismus und den
modernen Staatsverband. Diese innerweltliche Verpflichtung ist Max Weber zufolge die subjektiv ethische Voraussetzung für den Wandel des Abenteuerkapitalismus der handeltreibenden Kaufleute auf der Basis des ökonomischen Gelegenheitsprofits zum Setriebskapitalismus der Manufakturperiode, der auf kontinuierlicher Akkumulation und Reinvest1tlon grUndet. Aber wenn der religiös angeleitete S e 1 b s t dis z i pli nie run g s pro z e ß unter
Aspekten der Subjektgenese betrachtet wird, dann kommt man zu dem Schluß.
da6 seine innovativen Momente keineswegs in dieser von Weber zu Recht pointierten Rationalisierungsdimension aUfgehen. Denn die Verinnerlichung der Moral als Gewissen das ist ein die Reformationsperiode charakterisierender
Proze6 der Introversion, der den einer Extraversion subjektiver Potentiale
~
,
J
1
J'I
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des Individuums während der Renaissanceperiode ergänzt - erlaubt überhaupt
erst die Frage nach dem sittlichen Wert des Handelns. Diese ethische Wahrheitsbestimmung von vernünftiger Subjektivität beinhaltet die Trennung zwischen Sein und Sollen. Darüber hinaus stehen die religiös restaurierten Ethiken tugendhafter LebensfUhrung am Beginn eines für die bürgerliche Gesellschaft grundlegenden Vorgangs, den Norbert Elias als Umwandlung von gesellschaftlich äußeren Zwängen in Selbstzwang bezeichnet und beschrieben hat.
Mit diesem Vorgang der Verinnerlichung wird die Handlungskompetenz des Subjekts erweitert: Es selbst ist gewissermaßen der Ort des Heils, es selbst ist
Inhaber jener moralischen Macht, die unterdrückt.
Fragen wir zusammenfassend. welcher Wahrheitsgehalt von Subjektvernunft sich
aus der angedeuteten Introversion von Selbstzwängen, von Moralgeboten als Gewissensinstanz herausdestillieren läßt. Für die empirischen Individuen bewirkt
diese Transformation von Fremdzwang in Selbstzwang gewiß die Unterdrückung
ihrer Gefühle und Empfindungen. die während der Renaissance als authentische
Dimension des Subjekts freigesetzt wurden. Jetzt aber müssen die subjektiven
Emotionen verborgen gehalten werden: Emotionalität wird zur Intimität, in deren Schutzraum das Affektleben gleichsam "bewirtschaftet" wird (Jos van Ussel).
Die erforderliche SelbstbeObachtung der Person hat zur Folge, daß deren Innenwelt als Resultat der Dauerobservation konformisiert wird. Die offensive Thematisierung der Glaubenshaltung und inneren Einstellungen forciert die Konsti
tution der personalen Identität bzw. des inneren Selbst als einem idealen
Selbst. Das persönliche Selbst, so zeigt Elias, wird zum separaten Teil im
"Gehäuse des Subjekts". ein eingefriedeter und isolierter Bestandteil des
"homo clausus". Dieser Verinnerlichungsprozeß setzt aber aue h die Herausbildung einer spezifischen Idee von Autonomie frei: der Autonomie des Subjekts gegenüber seinen Trieben und Affekten ebenso wie gegenüber seiner Egozentrik. So scheint dieses Postulat der Affektkontrolle. das mit der Zentralisierung staatlicher Herrschaft während der absolutistischen Phase geschichtsträchtig wird, das qualitativ neue Moment der Subjektvernunft zu sein. Hinzu
kommt die"mit dem Prozeß der Introversion einhergehende, mit der Moralisierung des Sozialverhaltens überhaupt erst mögliche Differenzierung zwischen
der normativen Richtigkeit des HandeIns und seiner sittlichethischen GUltigkeit.
3. Vom Subjekt der Willensfreiheit zum Metasubjekt des Weltgeistes:
Ende des Individuums?
Wir können diesen über zwei. drei Jahrhunderte sich erstreckenden Introver-
- 72 sionsprozeß grob vereinfachend in folgender Weise charakterisieren:
Die Freiheit zur Unaufrichtigkeit als Errungenschaft der Renaissanceepoche
wird erweitert um die Freiheit zur ethischen Selbstgesetzgebung; ihr philosophischer Begründer ist I m man u e 1 K a n t. Ihm geht es um die
Ausarbeitung eines Denkmodells, das geeignet ist, jenes für die Renaissanceepoche spezifische Problem des Egozentrismus als Ergebnis von Individuierungsprozessen zu lösen, 0 h n e die Idee der Autonomie des Subjekts preiszugeben.
In der Kantschen universalistischen Theorie einer Profanethik steht die
Wi 1 1 e n s. f r e i h e i t
des Ver nun f t sub j e k t s im
Vordergrund. Das Descartsche Cogito ergo sum, der Zweifel über die Situierung
der prätendierten Subjektvernunft wird ersetzt durch die Gewißheit von Vernunft im Subjekt. Dieses Vernunftsubjekt selbst begreift Kant als transzendentales Subjekt: Es ist das kognitive, moralische und emotionale Bewußtsein
des Subjekts von sich selbst, das es ihm erlaubt, in ein kritisches Verhältnis zu sich selbst zu treten; es präsentiert die Möglichkeit des reinen Verstandes, die Fähigkeit zu objektiver Erkenntnis des Weltganzen. Die transzendentale Einstellung gegenüber Erkenntnis, Sittlichkeit und Begehren macht den
Menschen überhaupt erst zu jenem Vernunftsubjekt, das im Zustand der Freiheit
für sich denkt, moralisch entscheidet und nach Glückseligkeit strebt. Dieses
Vernunftsubjekt hat für die empirischen Subjekte die Funktion eines ideellen
Bezugspunktes und ist doch zugleich mehr. Denn Kant sieht das Praktische der
Vernunft in der kategorischen Handlungsbestimmung des Subjekts verankert. Als
solches ist es mit jenem "guten Willen" ausgestattet, der richtungweisend ist
fUr die Sittlichkeit menschlichen Handelns. Zum guten Willen, zur "praktischen
Vernunft" wird der einzelne alleine durch das praktische Vermögen des vernUnfti gen Subjekts, "ei nen an sich guten Wi 11 en" hervorzubri ngen. Di e Unterordnung
unter die für alle Subjekte gUltige Norm der Willensfreiheit schließt für alle
Subjekte allgemein gültige Subjektautonomie ein. Indem jedes Subjekt das andere als "Zweck an sich" respektiert und nicht als bloßes Mittel mißbraucht,
gelingt die Konkordanz von Autonomie des Subjekts und verbindlicher Intersubjektivität auf Grundlage universaler Orientierung: Um seiner Autonomie willen
anerkennt das Subjekt die Autonomie aller anderen. Freilich: Damit das "regulative Princip der Vernunft" die empirischen Subjekte in ihren Handlungen zu
leiten vermag, muß ihnen Vernuftdk~lägsphioc
vermittelt,
durch "Education" nahegebracht werden. In diesem Sinne soll Pädagogik dazu
beitragen, den Obergang vom empirischen zum transzendentalen Subjekt zu ermöglichen.
Um solche "flankierende Theoreme" (Odo Marquard) zur Subjektvernunft bemühte
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sich die herrschaftskritische Philosophie der Enzyklopädisten ebenso wie die
Zivilisationskritik Rousseaus. Und an einer Fundamentierung und Extensivierung der Subjektvernunft sind nahezu alle Bemühungen des deutschen Idealismus orientiert. Solche Bemühungen stehen durchweg im Zeichen einer Bewahrung
der zunehmend historisch fragwürdiger werdenden Idee des Vernunftsubjekts als
autonomem Individuum.
Erst H e gel bricht mit dieser Tradition. Aber auch dieser B r u c h
mit dem K 0 n z e p t des Ver nun f t sub j e k t s ,
dieser Bruch mit dem Besonderen zugunsten des Allgemeinen wird im Namen des
Subjekts vollzogen.
Es ist Hegels enorme Subjektemphase, die ihn zu jener dialektischen Anstrengung treibt, gleichsam einen Ort absoluter Reinheit für das Subjekt zu finden,
an dem es zu sich selbst kommen kann. Von dieser Sorge ums Subjekt ist Hegels
Versöhnungsutopie motiviert, die seine Einsichten in die irreversible Entzweiung der modernen antagonistischen bürgerlichen Gesellschaft als System der Bedürfnisse dementiert. Aber zunächst einmal gilt, daß Hegel Subjektivität und
Entzweiung als einander bedingend zusammendenkt. Die E n t z w e i u n 9
des e man Z' i P i -e r t e n Sub j e k t s ist eine dreifache: eine
Entzweiung des Subjekts mit der äußeren Natur, mit der inneren Natur und mit
der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft, in der sich miteinander konkurrierende. egoistisch disponierte Einzelindividuen gegenüberstehen. Somit steht
das Subjekt als Bewußtsein seiner selbst, als Besonderes diesen drei Sphären
des Allgemeinen gegenüber und entfaltet sich in diesem Gegenüber immer mehr als
Subjekt: im Widerspruch und durch den Widerspruch hindurch.
Hegel beschäftigt sich mit der Frage, ob diese von ihm erstmals formulierte
Entzweiung konstitutives Element der Vernunftform des Subjekts ist. Vielmehr
entwickelt er zwei Denkmodelle, in deren Rahmen er eine Auf heb u n g
der Entzweiung reflektiert: Das Konzept der "wechselseitigen Anerkennung" und
das des "absoluten Geistes". Hegel hat es versäumt, beide Konzepte miteinander zu vermitteln. Statt dessen versucht insbesondere seine Spätphilosophie
die Subjektivität, auf die Hegel durch seine Subjektkritik hindurch fixiert
bleibt, mittels ihrer Aufhebung im objektiven Geist zu retten. Das Subjekt,
dem er, belehrt durch die nachrevolutionären Zeitereignisse, mißtraut, das er
aber zugleich nicht aufzugeben gedenkt, erfährt seine Neugeburt als die Selbstbewegung des universalgeschichtlich wirksamen, bei sich selbst seienden, objektiven Geistes. Heißt das, daß jenes als partikularistisch durchschaute Einzelsubjekt sich in die Supergestalt des Weltgeistes wandelt? Diese fluchtartige
- 74 -
Mimikry ist für Hegel in der Tat notwendig, wenn das Subjekt sich selbst Uber1eben will. Aus di esem Grund gi bt das Vers tandessubj ekt sich zuguns ten des Metasubjekts des absoluten Geistes selbst preis. Aber wie soll dieses Absolute
ohne die erkenntnis- und handlungsfähigen Einzelsubjekte lebensfähig sein? Die
. Bewegung des absoluten Geistes bedarf, um "Prozeß des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit" zu werden, des Handelns wollender, Ziele realisierender,
sich wechselseitig anerkennender Subjekte. Ohne deren Bewußtsein könnte kein
Weltgeist existieren. Hege1s Subjektkritik zieht zwar die Konsequenz aus der
empirischen Tatsache, daß das bürgerliche Einzelwesen zur Chimäre wird. aber
sie kann den "Faden zwischen dem absoluten Geist und der empirischen Person
nicht durchschneiden" (LW. Adorno).
Bei Hegels Negation des erkenntnis- und handlungsfähigen Subjekts, die zugleich
implizit dementiert wird, bleibt letztendlich offen, ob dieses Dementi eine
glückliche oder unglückliche Wiederkehr des durch den absoluten Geist Unterdrückten ist. Ist diese Wiederkehr des Subjekts in seiner individuellen Form
des Handlungssubjekts die Wiederkehr einer "Gestalt des Lebens", die nach Jahrhunderten mühsamen Geschichtemachens nunmehr "alt geworden" ist und sich weder
durch das "Grau in Grau" der Philosophie verjüngen noch dialektisch wegdefinieren läßt und deshalb bloß als Verfallsform in der Geschichte fortzuwirken vermag, halb lebend. halb tot? Oder ist das Subjekt nicht vielmehr eine Gestalt,
ohne die kein humanes· Leben sein kann, eine spezifisch menschliche und als solche geschichtlich wechselhafte, schillernde und changierende Gestalt, die offenbar widersprUch1icher und komplexer ist, als Hegels vernunftobjektivistische
Versöhnungsutopie sie dachte?
Anlaß zur Resignation im Horizont seines eigenen Denkens hätte Hegel erst, wenn
sich die Erkenntnis nicht von der Hand weisen ließe, daß das Subjekt nicht nur
und nicht zuerst BeWUßtsein und Geist ist, also keineswegs subjektiver Geist
mit objektivem Weltgeist synthetisch eins zu werden vermögen. Genau diesen Nachweis versuchen die vernunftskeptischen Subjektkritiken des 19. Jahrhunderts zu
fUhren.
4. Paradoxien der Subjektkritik
Die nachidealistische KritIk an der reflexions- und identitätsphilosophischen
Hypostasierung transzendentaler und synthetischer Subjektivität führt im Ergebnis, an das in aller KUrze erinnert werden soll, zur Depotenzierung der Vernunft
im Subjekt. aber ohne deshalb den Wahrheitsgehalt der Subjektform total negieren
zu können: Alle Negationen fUhren entweder zu einem kuriosen salto mottale, der
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in dem Gestus eines trotzigen "Dennoch" endet, oder sie münden in die Suggestion eines Anderen der Vernunftsubjektivität, für das aber selbst wieder mit
den sprachlogischen Mitteln vernünftiger Argumentation mehr geworben, denn überzeugt wird.
Art h u r S c h 0 P e n hau e r polemisiert gegen das Konstrukt eines
Vernunftsubjekts als eines "geflügelten Engelskopfs ohne Leib". Das Subjekt
sei nicht primär Bewußtsein oder Geist, sondern werde durch seine immanente
Dynamik des Willens dirigiert. Wollen und Erkennen stehen in einem Verhältnis
wie "der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt".
Das Subjekt als vergängliche Willenserscheinung maskiert seine tatsächliche
Abhängigkeit, und diese Maskerade ist das, was wir als Subjektivität wahrnehmen und idealisieren. "Wir sehen einander an und verkehren miteinander, - wie
Masken mit Masken."
Diese Denkfigur des Subjekts als maskierter Manifestation blinder Willenskräfte
radikalisiert F r i e d r ich Nie t z s c h e. Der Schopenhauersche
Wille zum Leben wird von ihm als Wille zur Macht ungedeutet. Das durch den Willen zur Macht allein bestimmte Subjekt ist überhaupt erst Subjekt, das sich jenseits von "Gut und Böse" verwirklicht. Im Spannungsverhältnis von Gut und Böse
ist das Subjekt laut Nietzsches Deutung eine Fiktion, eine Illusion, ein Gebilde.der Selbstverkennung. Auf die Zerstörung dieses Scheins zielt seine Subjektkritik. Gegen jedwede externe Sollenssätze, verinnerlichte Verhaltensprinzipien,
Tradierungen insistiert Nietzsehe auf einer Ursprünglichkeit des Subjekts. So
gesehen hat das Subjekt auch bei ihm einen Wahrheitsgehalt, den er der analytisch aufgedeckten Unwahrheit des Subjekts emphatisch entgegenhält. Er hält
an einem positiven Gegenbegriff des entgrenzten, selbstvergessenen Subjekts
als Willen zur Macht fest. Nietzsehe ersetzt folglich das, was er als Fiktion
nachgewiesen zu haben glaubt, durch eine andere Fiktion, von der er allerdings
behauptet, sie sei keine, sondern sei das Ursprüngliche, Reale, Authentische.
Somit zieht er aus seiner Destruktion des Subjekts keine wirklich nihilistischen Konsequenzen, wie von seiner Gesamtphilosophie gewöhnlich behauptet wird.
Er spielt den vagen, aber positiven wahren Begriff eines Subjekts des Machtwillens gegen den negativen, falschen Begriff eines Subjekts als Subjekt des Bewußtseins aus und kommt damit logisch nicht umhin, an Subjektivität als spezifisch humanitärer Struktur festzuhalten, ohne das Festgehaltene freilich zu
explizieren. Nietzsche mutet uns die Antithetik einer unvernünftigen Vernunftform des Subjekts zu. Unterstellt wird eine Hyper-Vernunft von solcher Dignität, eine Obervernunft des Subjekts als "Obermensch", die unter ihrem gleißenden Schein der "neuen Morgenröte" alles andere - Erkenntnis, Moral, Glückselig-
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keit - als unerheblich, als bedeutungslos ins Dunkel hinabfallen läßt. Wenn
der "Mensch etwas ist, das überwunden werden muß:' stellt sich zum wenigsten
die Frage, was das Bessere, Höhere sein so", das an seine Stelle tritt. Worin bestehen die befreienden Momente dieser ekstatischen Subjektivität als
Wille zur Macht? Im heimlichen Gelächter des Philosophen, der errät, daß wir
·seinen "Obermenschen - Teufel heißenl,,?5
5. Demontage der Außen- und Innenwelt
Oie subjekttheoretischen Implikationen der lehre von Karl Marx stehen an der
Schwelle eines ideengeschichtlichen Paradigmawechsels, dessen Grenzlinie wenige Jahrzehnte später durch die Radikalisierungsstufe einer (vergeblichen)
Dekonstruktion von Subjektivität durch Nietzsche gezogen wird. Zum einen ist
Marx nichts anderes als würdiger Nachfahre jener aufklärungsphilosophischen
Subjektemphase. für die Nietzsche nichts als Hohn übrig haben wird. Zum anderen kann er als Ahnherr aller soziologisch fundierten Subjektkritik gelten,
weil er als erster Subjekttheorie in der Perspektive einer Gesellschaftstheorie begründet.
Als solche hat sie gegenüber der identitätsphilosophischen lösung Hegels wie
gegenüber den nachhegelianischen Negationsversuchen, die alle auf der Ebene
abstrakter Begriffsmetaphysik bleiben, den Vorzug, konkrete gesellschaftliche
Ursachen namhaft zu machen, die dazu führen, daß die Subjektkategorie einen
im schlechten Sinn utopischen, mehr noch: einen ideologischen Charakter an.nimmt. Trotz dieser durch seine Kapitalanalyse vermittelten Erkenntnisse insistiert Marx kontraf~sch
auf jener von ihm geschichtsphilosophisch erweiterten, im Programm der kommunistischen Zukunftsgesellschaft zentrierten Zielbestimmung, die in der allseitigen Selbstverwirklichung des gesellschaftlich
unterdrückten, "geknechteten" Subjekts besteht. Und er forscht mit eben dieser normativen Prämisse nach den materiellen sozialen Gründen, die der Verwirklichung dieses Ziels im Wege stehen, dabei - wie sich zeigen wird - die
Normativität dieses Ziels aus dem Auge verlierend.
In einem e r s t e n Beg r ü n dun 9 s s ehr i t t bestimmt Marx
Subjektivität als Resultat der wirklichen Praxis kooperativ arbeitender, sich
sozial organisierender Menschen, die er als körperliche, sinnliche und deshalb bedürftige Wesen begreift. Als solche sind sie auf Gesellschaft als Naturvoraussetzung menschlichen Lebens angewiesen: Die Gesellschaft ist Marx zu5 Nietzsche, Friedrich: Werke, hrsg. v. K. Schlechta, München 1969, Bd. 11,
s. 398.
- 78 -
folge die Bedingung realer Subjektivität, und so, "wie die Individuen ihr
Leben äußern, so sind sie".6
Unter kapitalistischen Arbeits und Lebensbedingungen, d.h. unter Bedingungen
der Entfremdung. die Marx vor allem auf den Warencharakter der Arbeit zurückführt, ist das Subjekt, so zeigt er in einem z w e i t e n a n a 1 y t i s ehe n S c h r i t t . das Gegenteil seiner selbst: Objekt.
Diese SubjektObjektVerkehrung präzisiert er im Kontext der Warenanalyse. Weil
. alle Arbeiten Warenform annehmen, der Wertabstraktion des Geldes assimiliert
werden, können die Individuen nicht ihrer Subjektivität fnne werden. Denn fUr
Marx ist A r bei t das Me d i u m f UrS u b j e k t i v i t ä t: "Wenn man von Arbeit spricht, so hat man es unmittelbar mit dem Menschen selbst zu tun ... 7 Subjektivität konstituiert sich, so lautet der d r i t t e Beg rUn dun g s asp e k t von Marx, im Arbeitsvollzug als Selbstschöpfung und Selbstentäußerung des Menschen. Er erfährt sich in seiner Subjektivität im selbstgeschaffenen Arbeitsgegenstand, der materialisiertes Spiegelbild seiner Persönlichkeit ist; er findet sich in der Verwendung dieses Gegenstandes durch die eigene und fremde Person in seiner Individualität bestätigt.
Diese Materialisierung von Subjektivität durch die als Arbeit gefaßte gesellschaftliche Praxis macht neben der Einsicht in die Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit des Individuums den enormen Erkenntnisgewinn der Theorie von
Marx aus. Sein Preis ist jedoch. daß die Wahrheit des Subjekts in exklusive Abhängigkeit von der VernUnftigkeit bzw. UnvernUnftigkeit, Autonomie bzw. Heteronomie der Arbeit gerät.
Dieser unentrinnbare Determinationszusammenhang von Arbeit und Subjektivität
wandelt sich im Maße der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse,
jedoch wie bereits vor dem Hintergrund des Entfremdungstheorems angedeutet
wurde von einer positiven Relation in eine n e g a t i v e F akt i z i t ä t. Denn, so wie die Arbeit im Kapitalismus den "völligen Verlust des
Menschen", "universelles Leiden" bedeutet, so wenig vermögen die Subjekte ihre
anthropOlogisch gegebenen Potentiale der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu entfalten. Subjektlosigkeit, Asozialität und ·Ahistorizität sind die
von Mar~
pointierten Folgen der NichtBeziehung des Produzenten zu seinem Produkt. Aus diesem Grund bedarf es der Befreiung des Subjekts von der Kapitalherrschaft. Denn als "Klassenindividuum" findet das Subjekt seine "Lebensbe{
6 Marx, Karl: Oie deutsche Ideologie, MEW, 3, Berlin 1969, S. 21.
7 Marx, Karl: ökonomischphilosophische Manuskripte. MEW, Ergänzungsband I,
Herlin 1981, S. 521.
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dingungen prädestiniert" vor. Und seine Beziehungen erscheinen als Beziehungen von Dingen, weil die Individuen bloß als Warenbesitzer, als Träger von
Arbeitskraft miteinander in Verbindung treten.>
Diese Abdankung selbstbewußter Subjektivität zugunsten der Waren behandelt
Marx unter dem Begriff des "Warenfetischismus" , die Entäußerung und Verwirklichung des Subjekts orientiert sich an nichts anderem als der Austauschbeziehung, der Wertabstraktion. Damit projezieren die Menschen ihre Subjektivität in eine dinglichUbersubjektive Sphäre.
Auf diesen Sachverhalt glaubt Marx in der Weise theoretisch reagieren zu mUssen, daß er seinen Subjektbegriff auf die Deskription dessen reduziert. was
der fall ist. Indem er die Subjekte eindimensional als Repräsentanten von Waren klassifiziert und die Subjektkategorie zu einer Klassifikationskategorie
zusammenzieht. vollzieht er eine Reformulierung seiner Subjekttheorie.
Sie ist im Rahmen der Werttheorie eine Theorie systemisch bedingter Zerstörung
von Subjektivität. Subjekttheorie wird zur Theorie des ökonomisch bedingten
Elends des Individuums, zur Theorie der totalen Unvernunft der Organisationsweise gesellschaftlicher Arbeit.
Das aus gesellschaftlicher Praxis Uberhaupt erst resultierende Subjekt wird
Opfer dieser seiner Praxis: Die als Unvernunft dechiffrierte lohnarbeit bedingt die Irrealität von Subjektvernunft als einer empirischen Größe. Indem
Marx sich auf den Nachweis dieser Tatsache konzentriert, wird der von ihm ursprUnglieh kritsch~nomav
intendierte Subjektbegriff um seinen Wahrheitsgehalt gebracht. Die kategoriale Ebene ist dann nur noch Spieg2lbild der tatsächlichen Entmenschlichung. Damit gibt Marx jene von ihm selbst vertretene Position preis, wonach Subjektivität als normativer Referenzpunkt fUr seine Gesellschaftsanalyse präSkriptive GU1tigkeit beanspruchte. Er insuniert seinen
idealen Subjektbegriff als Realkategorie der Geschichtsdynamik. Hier rächt
sich jener Anspruch eines Konzepts identischer Subjektivität, die sich vermöge ihrer eigenen kollektiven Tat alles untertan machen soll, was nicht ihresgleichen ist.
Dieses Dilemma zwischen Begriff und Realität von Subjektivität versucht Marx
dadurch zu lösen, daß er ähnlich wie Hege1 die Subjektivität von ihrem
individuellen Träger loslöst und sie der geschichtlichen Bewegung anvertraut.
Dadurch überlebt Subjektivität zum einen negativ als die Selbstbewegung des
Kapitals, das als bewußtloser, eigengesetzlicher Automatismus "hinter dem
RUcken u der handelnden Subjekte wirkt und diese zur bloßen "Charaktermaske"
herabsetzt. zum anderen flUchtet sich Subjektivität positiv in die Gestalt
des Proletariats als des eigentlichen Subjekts der Weltgeschichte. Die&es Meta-
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subjekt trägt Marx zufolge als revolutionäre Klasse "die Zukunft in ihren
Händen"; die Zukunft einer wirklichen Allgemeinheit allseitiger Subjektivität.
Diesen geschichtsphilosophischen Optimismus mochte S 1 g m und F r e u d
nicht teilen. In seiner Psychoanalytischen Theorie kulminieren die subjektkritischen Einsichten in die Heteronomie der Individuen als natürliche und gesellschaftliche Wesen.
'Während bisher die Kritik bis zur Erkenntnis der Maskenhaftigkeit der Vernunft
im Subjekt vorgestoßen war, ohne deshalb den Träger der Maske. das Subjekt. als
gattungsgeschichtlich avancierte. humanitäre Existenzform zu Fall zu bringen,
blickt Freud erstmals hinter die Maske: Er nimmt die "Fakteninnenwelt" ihres
Trägers kritisch in den Blick. Dieser Blick hinter die Maske nötigt zwar zur
Preisgabe aller metaphysischen, idealistischen Illusionen. Aber der damit unaufhaltsame Sturz des demaskierten Subjekts ist nicht bodenlos. Zwar ist das
Subjekt, wie Freud uns lehrt, mitnichten "Herr im eigenen Haus", zwar wird es
von unbewußten Triebmächten dirigiert, die als "inneres Ausland" in ihm walten,
zwar ist es "unterwürfiger Knecht". Stätte der Angst vor der Realität. vor der
moralischen Gewissensinstanz und vor der Triebstärke, zwar ist es Feind der
Kultur und destruktiv todessehnsüchtig gegen sich selbst, aber trotz aller
Nichtigkeit bewußter Subjektivität gibt es der immanenten Argumentation Freuds
zufolge keine Alternative zur historischen Erbschaft der Vernunftform des Subjekts. "Wo Es war, 5011 Ich werden", lautet sein therapeutisches Programm, das
ganz dem traditionellen Aufklärungsprogramm entspricht. Darauf insistiert er
trotz seiner revolutionären Einsichten in die Wirkungskräfte eines widersprüchlichen und gespaltenen Subjekts, dessen Vernunft wenig trägt (sondern trUgt).
die aber unhintergehbar ist, wenn der Gedanke des Menschen als Subjekt und damit Gedanken Uberhaupt weitergedacht werden sollen. Freud weiß es selbst am
besten, daß seine Erkenntnisse eine Schwächung des Subjekts implizieren. "Aber
es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist
leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende. nach
unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es dOch.,,8
Freud macht deutlich, daß jede leugnung der Hinfälligkeit der Vernunft im SubI
jekt falsch wäre, es gilt hingegen offenen Auges das Fragile und Verletzliche
ebenso wie das VernUnftige und Unvernünftige, das Autonome und Heteronome des
Subjekts zu akzeptieren, ohne diese WidersprUchlichkeit im Subjekt durch Ersatzkonstruktionen eines Meta oder Kollektivsubjekts zu kaschieren.
8 Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, in: Fragen der Gesellschaft
UrsprUnge der Religion, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt 1974, S. 186.
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Ist Freuds eklatanter Widerspruch in seiner Theorie zwischen der Erkenntnis
und seinem Beharren auf
eines unbewuBt-triebabhängigen Subjekts einrs~t
der Subjektwerdung, auf Ich-Stärke andererseits nicht vielleicht konstitutiv
für Subjektivität überhaupt? Eine theoretische Auflösung der antinomischen
Subjektivität zeitigt jene am Beispiel von Nietzsche und Marx angedeuteten
Aporien der philosophischen und soziologischen Subjektkritik, die trotz aller Negation und Destruktion fixiert bleibt auf den Gegenstand ihrer Kritik:
Auf das neuzeitliche Subjekt als autonomem Individuum, dem jeweils nur andere. wechselnde Gewänder angelegt werden, damit es mal als Weltgeist, mal als
Wille, mal als Obermensch. mal als Klassensubjekt in Erscheinung trete. Freud
hingegen entkleidet das Subjekt, ohne es zugleich der Scham der Nacktheit
preiszugeben oder es definitiv des Raums zu verweisen.
Damit bietet sich die Schlußfolgerung an, daß die Antithetik zwischen Geist
und Natur, Rationalität und Irrationalität. Bewußtsein und Unbewußtem, Ich
und Es konstitutiv ist für die Vernunftform des Subjekts. Die Idee des Subjekts als autonomem Individuum. die in der Renaissance geboren und seitdem
geschichtsträchtig wurde, wäre dann nicht mehr, aber auch nicht weniger als
eine regulative Idee, die kontrafaktisch Geltung beanspruchen kann und beanspruchen muß. 9
Die Entscheidung soll offen bleiben, ob das ein Rückfall auf eine Idee ist,
die während der beginnenden Moderne unbescheiden und so gesehen revolutionär
war, die heute aber im Horizont der postmodernen Liquidation des Subjekts
einer "neuen Bescheidenheit" Vorschub leistet und vielleicht 'bloß dazu beiträgt, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten.
9 Zu dieser hier nur aufgeworfenen Frage verweise ich auf die Kritik an den
Radikalisierungsstufen jener vernunftkritischen "Theorien" eines Abschieds
von der Moderne von Blanke, Thomas/MUllerDoohm, Stefan: Eulen der herrschenden Unvernunft, in: Ästhetik und Kommunikation, 19 ,17. Jg., Heft
64: Altantis, S. 93102.
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BATKIN, Leonid, Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung
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BORKENAU, Franz, Der Obergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Darmstadt 1980
- 82 BURKE, Peter, Die Renaissance in Italien Sozialgeschichte einer Kultur
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ELIAS, Norbert, Ober den Prozeß der Zivilisation Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. I und 11, Frankfurt 1977
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HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Theorie Werkausgabe, Frankfurt 1970
HELLER, Agnes, Der Mensch der Renaissance, Hohenheim 1982
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MARX, Karl/ENGELS, Friedrich, MEW, Bd. 3, Berlin 1969
MARX, KarlIENGELS, Friedrich, MEW, Ergänzungsband I, Berlin 1981
MARX, KarlIENGELS, Friedrich, MEW, Bd. 23, Berlin 1965
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WEBER, Max, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist, in: Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. v. Eduard Baumgarten,
Stuttgart 1973
Stefan MüllerDoohm
Jahnstraße 13
2900 Oldenburg