Academia.eduAcademia.edu

Beschleunigung

2024, Handbuch Medizin und Lebenszeit

https://doi.org/10.1007/978-3-662-68418-4_17-1

Moderne Gesellschaften sind von einer neuen Qualität der Geschwindigkeit in verschiedenen Bereichen des Lebens geprägt. Entsprechend sind Geschwindigkeit und Beschleunigung in sozialwissenschaftlichen Theorien der Moderne ein zentrales Thema und werden in Zusammenhang mit gestiegener Komplexität des Lebens, kapitalistischer Wirtschaft und Urbanisierung gebracht. Hartmut Rosa hat in seiner Theorie der sozialen Beschleunigung eine systematische Konzeption der Beschleunigung vorgelegt. Dieser Artikel skizziert Rosas Theorie und beleuchtet potenziell belastende Auswirkungen sozialer Beschleunigung auf moderne Menschen. Dabei werden die Dimensionen technischer Fortschritt, sozialer Wandel, und Lebenstempo untersucht sowie die Rolle des Kapitalismus und der Säkularisierung als externe Motoren der Beschleunigung betrachtet. Zusätzlich werden die subjektiven, psychischen Folgen beschleunigter Verhältnisse sowie ein Ausblick auf Rosas Perspektive auf ein gelingendes Leben diskutiert.

Beschleunigung Peter Schulz „Was wir als Tempo des Lebens empfinden, ist das Produkt aus der Summe und der Tiefe seiner Veränderungen“ (Simmel 1989, S. 696). Das moderne Leben ist im Vergleich zu vormodernen Zeiten von einer neuen Qualität der Geschwindigkeit in zahlreichen Bereichen geprägt. Sei es beim Transport von Menschen, Gütern und Informationen, sei es in der Produktion von Waren, der Naturvernutzung oder dem allgemeinen Wandel der Lebensumstände – die Gegenwart ist schneller als ihre Vergangenheit, und für die Zukunft ist zu erwarten, dass sie ebenfalls schneller sein wird. Entsprechend ist die sozialwissenschaftliche Analyse der Gegenwartsgesellschaften von Beobachtungen der Geschwindigkeit und Beschleunigung geprägt. Verschiedene Theoretiker*innen der sozialen Wirklichkeit haben diese Beschleunigung auf verschiedene Ursachen zurückgeführt. So hat etwa der Soziologe Norbert Elias den Zusammenhang von Lebenstempo und gestiegener sozialer Komplexität des Zusammenlebens herausgearbeitet, wenn er erläutert, dass „[d]ieses ‚Tempo‘ [. . .] in der Tat nichts anderes [ist], als ein Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen, gesellschaftlichen Funktion verknoten, und für den Konkurrenzdruck, der aus diesem weiten und dicht bevölkerten Netz heraus jede einzelne P. Schulz (*) Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Deutschland E-Mail: schulz.peter@uni-jena.de Handlung antreibt“ (Elias 1976, S. 337). Das Zusammenleben in Städten, die gestiegene Komplexität arbeitsteiliger Produktion sind für ihn die Quellen des Tempos modernen Lebens. In einer berühmt gewordenen Formulierung im Manifest der Kommunistischen Partei betonen Karl Marx und Friedrich Engels dagegen, dass es die kapitalistische Wirtschaftsform ist, die zu einer „fortwährende[n] Umwälzung der Produktion“ und „ununterbrochene[n] Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ (Engels und Marx 1990, S. 465) führt, da konstante ökonomische Innovation zu einem andauernden Wandel von Arbeitsund Lebensweisen führe. Der Soziologe Niklas Luhmann schließlich arbeitet heraus, dass die Moderne, anders als Epochen vor ihr, am Leitmotiv einer offenen Zukunft orientiert ist und so ‚Neuheit‘ einen Eigenwert gewinnt. Neuheit führt dabei inhärent zu sozialem Wandel, da „Neuheit nicht in die Gegenwart eintreten kann, ohne diesen ihren Charakter zu verlieren“ und sich die gesellschaftliche Zeit daher „ständig in sich selbst [verliert, und so als] Differenz [. . .] instabil [bleibt und] damit Beschleunigungen aus[löst]“ (Luhmann 1998, S. 1005– 1006). Trotz dieser verbreiteten Diagnosen ist eine eigene Theorie dieser steigenden Geschwindigkeit des sozialen Lebens in den Sozialwissenschaften relativ spät entwickelt worden. Der französische Philosoph Paul Virilio (2018) war der erste, der mit seiner Dromologie (von griechisch dromos: Rennbahn) in den 1970er-Jahren einen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2025 S. Deppe et al. (Hrsg.), Handbuch Medizin und Lebenszeit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-68418-4_17-1 1 2 essayistischen Entwurf vorlegte, der diese Diagnosen zuspitzte und als Definitionskriterium für die Moderne ihre Geschwindigkeit vorschlug. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde Zeit zu einem Thema der Sozialwissenschaften, da subjektiv empfundene Zeitnot und verdichtete Handlungsabläufe (s. Kap. ▶ „Zeitwahrnehmung“) zunehmend krisenförmig wurde (Hochschild 1997; Koselleck 1989; Leccardi 1999; Lübbe 1983; Nassehi 1993; Zoll 1988). Im Anschluss an diese konzeptionellen und empirischen Arbeiten hat dann der Soziologe Hartmut Rosa mit seinem 2005 erschienenen Buch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne eine systematisierte Theorie sozialer Beschleunigung vorgelegt, in dem er die Idee, die Moderne von ihren Zeitstrukturen her zu bestimmen mit den soziologischen Beobachtungen der sozialen Beschleunigung verband. Das Werk löste eine breite Rezeption aus und wurde mittlerweile ins englische, französische, spanische und chinesische übersetzt. Folgend soll daher Rosas Theorie sozialer Beschleunigung knapp und mit Fokus auf die potenziell belastenden Auswirkungen der Beschleunigung auf moderne Menschen skizziert werden. Dafür wird erstens auf technologische Innovationen, sozialen Wandel und das Lebenstempo als Dimensionen sozialer Beschleunigung und zweitens auf die Konkurrenzlogik kapitalistischen Wirtschaftens und die Verinnerweltlichung der Lebensziele durch die Säkularisierung als externe Motoren des Beschleunigungskreislaufs eingegangen werden. Drittens werden die damit einhergehenden subjektiven, psychischen Folgen beschleunigter Verhältnisse und – in einem knappen Ausblick – Rosas Perspektive auf ein gelingendes Leben dargestellt werden. Ihre Implikationen für die medizinische Praxis werden hoffentlich durch die entsprechenden Verweise auf andere Kapitel dieses Buches deutlich. Die Dimensionen sozialer Beschleunigung In seinem Buch Beschleunigung bestimmt Rosa soziale Beschleunigung als Grundprinzip und Grunderfahrung der Moderne (vgl. Rosa 2005, P. Schulz S. 51, 441). Soziale Beschleunigung gliedert sich nach Rosa dabei in die drei Dimensionen: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und schließlich die Beschleunigung des Lebenstempos. In allen drei Dimensionen lässt sich in der Moderne eine „Mengenzunahme pro Zeiteinheit“ (Rosa 2005, S. 115) beobachten – wobei als Menge aber je nach Dimension der sozialen Beschleunigung anderes gilt. Die technische Beschleunigung, die schon Lübbe als zentral für „die [t]emporale Innovationsverdichtung“ (Lübbe 1992, S. 305) der Gegenwart ansieht, ist dabei die vielleicht „offensichtlichste und folgenreichste Gestalt moderner Beschleunigung“ (Rosa 2005, S. 124). Mit Dampfschifffahrt, Eisenbahn, Automobil und Flugzeug, Telegrafie, Telefon und Internet, aber auch mit Dampfmaschine, Fließband und Robotik nimmt die Menge an „zurückgelegte[m] Weg, die Anzahl der kommunizierten Zeichen, die produzierten Güter“ (Rosa 2005, S. 115) nicht nur in der Moderne rapide gegenüber aller vorheriger Menschheitsgeschichte zu, sondern steigt auch in der Moderne weiter an: Menschen, Güter und Informationen werden immer schneller um die Erde bewegt, Waren immer schneller produziert. Die Beschleunigung des technischen Wandels meint also sowohl beschleunigte Reise- und Übermittlungsgeschwindigkeiten als auch beschleunigte Abläufe in der Produktion und Distribution von Waren. Als zweite Dimension bestimmt Rosa die Beschleunigung des sozialen Wandels, also eine gesteigerte Geschwindigkeit bei der Veränderung dessen, was als stabiler Teil des eigenen Lebens angesehen wird. So steigt die durchschnittliche „Zahl der Arbeitsstellen pro Erwerbsleben oder die Intimpartnerwechsel pro Jahr“ (Rosa 2005, S. 115) im Verlauf der Moderne deutlich an. Um dieses Phänomen theoretisch zu fassen schließt Rosa dafür an das Konzept der Gegenwartsschrumpfung von Lübbe an. Lübbe bezeichnet im Anschluss an Reinhart Koselleck (1989) mit dem Begriff der Gegenwart den Zeitraum, in dem „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘“ (Lübbe 1992, S. VI) der Menschen gleich bleiben, also sozusagen alles seinen gewohnten Gang geht. Beschleunigung Während die bäuerliche Lebenswelt in der Vormoderne davon geprägt war, dass diese Gegenwart intergenerational stabil war, und man im gleichen Ort lebte und die gleiche Arbeit machte wie seine Eltern oder Großeltern, gab es mit der Moderne einen Umbruch: Erfahrungsraum und Generation fielen tendenziell in eins (s. Kap. ▶ „Lebensverlauf und Biographie“). In der Adoleszenz standen mit Berufswahl und Familiengründung Entscheidungen zu einem lebenslang ausgeübten Beruf, einer Ehe und einen gleichbleibenden Wohnort an. Im Rahmen der ‚Normalbiographie‘ ergaben sich so lebenslange stabile Erwartungsräume, die mit dem Tempo des sozialen Wandels korrespondierten: Man machte es anders als seine Eltern – was zu Generationenkonflikten führte – aber erfuhr das eigene Leben weitgehend gleichbleibend und stabil. Laut Rosa sei seit etwa den 1970ern ein Übergang zu beobachten, sodass mittlerweile mehrere Berufs-, Partner*innen-, und Wohnortwechsel innerhalb eines Lebens die neue Normalität darstellen (vgl. Rosa 2005, S. 352– 390). Für Rosa ist dieser Übergang relativer generationaler Stabilität zu intragenerationaler Instabilität im zeitlichen Sinne so gravierend, dass er hieran den Übergang der Moderne in die Spätmoderne festmacht. Damit geht in der Spätmoderne die Notwenigkeit einer regelmäßigen Neuorientierung einher, da die gewohnte Gegenwart zur Vergangenheit wird, was sich insbesondere auf ältere Menschen, denen eine entsprechende Anpassung schwerfallen kann, negativ auswirkt. Zudem kann mit dem ‚Neu Beginnen‘ nach Berufs-, Partner*innen-, und/oder Wohnortwechsel eine soziale Entbettung einhergehen, sodass Einsamkeit, aber auch geringe soziale Ressourcen in Krisensituationen in der Gegenwart an Bedeutung gewinnen, und dadurch spezifische Anforderungen in professionellen Fürsorge- und Pflegekontexten neu entstehen (s. Kap. ▶ „Zeit in der allgemeinmedizinischen Versorgung älterer Menschen“, s. Kap. ▶ „Lebenszeit und gutes Leben in der Pflege“). Dieser doppelte Umbruch der objektiven Zeitstruktur wie subjektiven zeitlichen Anforderungen von der Vormoderne zur Moderne und der Moderne zur Spätmoderne ist für Rosa zugleich – zusammen mit der dynamischen Stabilisierung 3 (s. u.) – die zentrale Bestimmung, was die Moderne und Spätmoderne als soziale Formation auszeichnet. Auch die dritte Dimension der sozialen Beschleunigung nach Rosa schließt an Lübbe an. Während Lübbe hier die kulturellen „Zeitnutzungszwänge“ (Lübbe 1992, S. 359) zentral stellt, betont Rosa jedoch bei der Beschleunigung des Lebenstempos neben dem zunehmenden subjektiven Zeitmangel und daraus resultierendem Stress auch die objektive Verdichtung der Abläufe innerhalb der Arbeitswelt als auch die gestiegene Geschwindigkeit des sozialen Wandels als bedingende Effekte, da beides die Freizeit unter Druck setzt. Neben den Erholungsanforderungen, die aus der intensivierten und verdichteten Arbeit folgen, und den Anpassungsanforderungen, die sich zunehmend verändernde soziale Strukturen stellen, tritt der Versuch, die so unter Druck geratenen Lebensziele in weniger Zeit zu realisieren. Zugleich produziert die durch technologische Beschleunigung angetriebene Produktion zunehmend mehr Optionen an Dienstleistungen und Waren, um seine Freizeit zu nutzen. Laut Rosa kommt es so zu einer „Erosion denkbarer Ruhepositionen aller Art: Stillstand wird unvermeidlich zu einer Form des Zurückfallens, nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen Dimensionen des sozialen Lebens“ (Rosa 2005, S. 249; Herv. i. Orig.). Rosa betont in seinen Arbeiten die verschärfenden Auswirkungen, die zeitgenössische Phänomene wie Social Media auf den empfundenen Beschleunigungsdruck haben, aber schon in den 1940ern beschrieb der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno, wie „Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird geplant, auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstaltungen oder auch nur mit möglichst rascher Fortbewegung ausgefüllt“ (Adorno 2003, S. 157). Adorno und andere, an die Marxsche Analyse des Kapitalismus anschließende Soziolog*innen sehen diese Übertragung wirtschaftlicher Normen der Effizienz und Konkurrenz auf das Privatleben als typisch für die Moderne, und nicht bloß die Spätmoderne, an (vgl. Zoll 1988). Das in Folge dieser Anforderungen beschleunigte Lebenstempo wiederum legt technische 4 Möglichkeiten der Beschleunigung und Optimierung nahe, die das Versprechen in sich tragen, unter den Bedingungen steigenden zeitlichen Drucks weiterhin seine Lebensziele zu realisieren. Dies geschieht etwa, indem die angesprochene soziale Entbettung mittels Kommunikationstechnologien und schnellen Reisen begegnet wird, wenn Kontakt zu Eltern und Freund*innen oder sogar Intimbeziehungen über Distanz aufrechterhalten werden, oder wenn digitale Selbstoptimierungstechnologien in Anschlag gebracht werden, um eine effizientere Freizeitnutzung zu unterstützen (vgl. Schulz 2016). Diese Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen sozialer Beschleunigung beschreibt Rosa wiederum als „Akzelerationszirkel“ (Rosa 2005, S. 243), in dem technische Beschleunigung den sozialen Wandel antreibt, weil sich das Arbeitsleben, aber auch die grundlegenden Technologien der Freizeitgestaltung ändern, der beschleunigte soziale Wandel die Zeitressourcen der Menschen durch den erhöhten Anpassungsdruck verringern (s. Kap. ▶ „Zeitsouveränität“) und so eine Erhöhung des Lebenstempos nahelegen, die wiederum technologische Lösungen zur Geschwindigkeitserhöhung motiviert. Die soziale Beschleunigung gewinnt so den Charakter einer selbststabilisierenden sozialen Formation, eine Beobachtung, die Rosa später unter dem Begriff der „dynamische[n] Stabilisierung“ (Rosa 2016, S. 671) zum zentralen und definitorischen Charakteristikum moderner Gesellschaften macht. Kapitalistische Wirtschaft und Säkularisierung als Motoren sozialer Beschleunigung Rosa stellt sich dennoch die Frage, wie dieser Akzelerationszirkel in Gang gekommen ist und identifiziert externe Motoren, die einen zusätzlichen Antrieb für ihn darstellen. Ursprünglich konzipiert er drei Motoren, die er je mit einer Dimension koppelt, korrigiert diese Perspektive aber in späteren Schriften und spricht mittlerweile von einem strukturellen und einem kulturellen externen Motor der Beschleunigung (Rosa 2013, S. 34–41). P. Schulz Als strukturellen Motor nennt er das „System der kapitalistischen Wirtschaft“ (Rosa 2005, S. 257), das aufgrund seiner inhärenten Funktionsweise über die marktvermittelte Konkurrenz zwischen einzelnen Unternehmen andauernden Druck der Extensivierung und Intensivierung der Produktion von allen einzelnen Marktakteur*innen erfordert. Um sich in der Konkurrenz behaupten zu können, muss jedes einzelne Unternehmen versuchen, schneller und günstiger als die anderen zu produzieren, um so einen Vorteil zu haben – ein Vorteil, der wieder verschwindet, sobald sich diese Effizienzinnovation verallgemeinert hat (vgl. Rosa 2005, S. 257–279). Der Kapitalismuskritiker Moishe Postone nennt diese Eigenschaft des Kapitalismus den „Tretmühleneffekt“ (Postone 2003, S. 436), in dem die konstante Beschleunigung den Status quo aufrechterhält. Diese der modernen Wirtschaftsweise inhärente Dynamik treibt nicht nur die technische Beschleunigung zusätzlich an, sondern wirkt sich auch im Rahmen des Akzelerationszirkels auf den beschleunigten Wandel von Berufsbildern, Mobilitätsanforderungen und über die von ihm angestoßene Urbanisierung und Produktion neuer Warentypen auf Lebens- und Konsummuster aus. Als kulturellen Motor der sozialen Beschleunigung sieht Rosa die Säkularisierung. Durch sie trat an die Stelle des im Mittelalter kulturell dominanten Heilsversprechens einer Ewigkeit im Jenseits das Konzept, sein gutes Leben im Diesseits und damit in der beschränkten Zeit des eigenen Lebens zu verwirklichen. Für die säkularisierte Moderne gilt, so Rosa, „dass das gute Leben das erfüllte Leben sei“ (Rosa 2005, S. 290; Herv. i. Orig.) und es daher anzustreben ist, möglichst viele positive Erlebnisse in der eigenen Lebenszeit unterzubringen (s. Kap. ▶ „Irreversibilität“). Der strukturelle und der kulturelle Motor sind laut Rosa wiederum über das Geld verknüpft, das als universeller „Kontingenzbewältiger an die Stelle Gottes tritt“ (Rosa 2005, S. 285). Geld ist einerseits das zentrale Funktionsmedium kapitalistischen Wirtschaftens, andererseits ist der Geldbesitz aber auch das Versprechen, sich den Zugang zu Erlebnissen kaufen zu können. Da Geld durch den Erwerb von Waren und Dienstleistun- Beschleunigung gen in (nahezu) alle Formen von Erlebnissen umwandelbar ist, wird es in der Moderne zu dem symbolischen Träger des Zugangs zum ‚guten Leben‘. Zeitnot, Desynchronisation und Entfremdung Die Dimension der Beschleunigung des Lebenstempos geht laut Rosa mit den zunehmenden „Empfindungen der Zeitnot, des Zeitdrucks und des stressförmigen Beschleunigungszwangs“ (Rosa 2005, S. 136) einher. Diese Beobachtung lässt sich empirisch gut belegen und geht nicht mit tatsächlichem absolutem Zeitmangel einher (sowohl die Arbeitszeit als auch die Zeit, die auf Schlafen verwendet wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten verringert), sondern steht im Zusammenhang mit der Beschleunigung des Lebens (vgl. Rosa 2005, S. 216), deren Zunahme mit einer Zunahme der Auseinandersetzung mit Stress in der Medizin, Ratgeberliteratur und Öffentlichkeit korrespondiert. Der Historiker Patrick Kury hat 2012 in seinem Buch Der überforderte Mensch rekonstruiert, wie mit zunehmender sozialer Beschleunigung und Flexibilisierung Stress von einem Konzept mit Bezug zu akuten Krisen (wie etwa Kriegssituationen) über ein Phänomen bestimmter Berufsgruppen (wie Manager*innen) zu einem allgemeinen und zentralen Bezugsproblem des Lebens in der Spätmoderne geworden ist (vgl. Kury 2012). Neben dem Anstieg der empfundenen Zeitnot und des Stresses beobachtet Rosa zwei zentrale, problematische Folgen sozialer Beschleunigung: Desynchronisation und Entfremdung. Desynchronisation wird von ihm zunächst als Problem auf der makrosoziologischen Ebene herausgearbeitet: Auf die Beschleunigung des sozialen Wandels droht die „Desynchronisation von Prozessen, System und Perspektiven infolge einseitiger“ (Rosa 2005, S. 44) – oder genauer: unterschiedlicher – Beschleunigung zu folgen. Rosa erläutert dies am Beispiel des Verhältnisses zwischen kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik. Während der Konkurrenzzwang in der Wirtschaft zu konstanter Beschleunigung führt, die durch 5 technologische Entwicklungen wie etwa digitale Kommunikationstechnologien auf dem Finanzmarkt ermöglicht und dann zugleich gefordert wird, ist die Demokratie nur „sehr beschränkt beschleunigungsfähig“ (Rosa 2005, S. 395), da die parlamentarischen Aushandlungsprozesse ebenso wie die Erarbeitung der Regulation etwa des Finanzmarkts durch die Exekutive bestimmte Zeiträume ihren eigenen zeitlichen Logiken folgen. Unter den Bedingungen der sozialen Beschleunigung gerät die Politik so in die Gefahr, statt aktiv zu gestalten bloß reaktiv agieren zu können – oder sich vom Anspruch der Gestaltung insgesamt zurückzuziehen. In seinem Buch Resonanz von 2016 richtet Rosa seinen Blick auf ein anderes Desynchronisationsphänomen, die „Psychokrise“ (Rosa 2016, S. 711). Mit ihr beschreibt er, wie die menschliche Psyche selbst nicht beliebig stark beschleunigbar ist, und es somit zu Entsynchronisierungen zwischen ihr und der sozialen Wirklichkeit kommen kann, in der das Leben schlicht zu schnell läuft. Rosa betont dabei, dass es nicht um absolute Grenzen der Psyche hinsichtlich der Geschwindigkeit geht und verweist dazu auf die Anpassungsschwierigkeiten, die Menschen bei den Fahrten mit den ersten Eisenbahnen hatten – Geschwindigkeiten, die uns heute keinerlei Probleme bereiten – sondern vielmehr um Grenzen der Beschleunigbarkeit der Psyche (Rosa 2005, S. 484). Diese Desynchronisation kann laut Rosa eine Reihe psychischer Erkrankungen begünstigen, in denen eine gänzliche Entkoppelung und ein Rückzug von der beschleunigten Wirklichkeit gesucht wird (s. Kap. ▶ „Psychotherapie und das gute Leben in der Zeit“). Entfremdung dagegen wird von Rosa von vornherein auf der mikrosoziologischen Ebene verortet: Soziale Beschleunigung beeinflusst, die „Art und Weise, in der Subjekte ‚in die Welt gestellt‘ sind“ (Rosa 2005, S. 170) und zu sich selbst, zu anderen Menschen und ihrer restlichen Umwelt in Beziehung treten. Diese Beziehungen werden durch die soziale Beschleunigung zunehmend instabil, da der beschleunigte soziale Wandel die Sicherheit, die die erwartbare Gegenwart bietet, unterminiert (vgl. Rosa 2005, S. 35), sich zunehmend technische Geräte zwischen die Be- 6 ziehungspartner*innen schieben – sei es bei der technisch beschleunigten Kommunikation via Telefon und Internet oder durch das technisch beschleunigte Reisen mit Eisenbahn, Automobil oder Flugzeug – und die Beschleunigung des Lebenstempos die Möglichkeit der zeitraubenden Anverwandlung der Beziehungen unterminiert. Ohne diese stabilen Beziehungen ist, so Rosa, auch die personale Identität gefährdet, die sich erst in und mit solchen Beziehungen ausbildet. An die Stelle einer stabilen personalen Identität tritt eine situative Identität. Bei ihr tritt an die Stelle relativ gleichbleibender Selbstdeutungen und Werte bloße „Flexibilität und Wandlungsbereitschaft“ (Rosa 2005, S. 379), die zwar einerseits eher in der Lage ist, mit den beschleunigten sozialen Verhältnissen zurecht zu kommen und damit weniger dem Risiko der Desynchronisation ausgesetzt ist, andererseits aber zugleich keine inneren Quellen hat, aus denen Entscheidungen motiviert werden können. Statt langfristig orientierte und im Bezug zum eigenen Selbstbild stehende Entscheidungen zu treffen, verfolgen Menschen zunehmend „aus eigenem Antrieb Handlungslinien [. . .], die sie aus einer zeitstabilen Perspektive nicht präferieren“ (Rosa 2005, S. 483). Diese Struktur nennt Rosa Entfremdung. Entfremdung meint also, dass Menschen sich in ihren eigenen Handlungen nicht mehr wiedererkennen können, weil sie unter den Bedingungen sozialer Beschleunigung keine stabile personale Identität ausbilden – soziale Beschleunigung untergräbt damit letztlich die personale Autonomie ebenso wie das Empfinden sinnhaften Lebens (s. Kap. ▶ „Sinn“). Im Anschluss an seine Theorie sozialer Beschleunigung arbeitet Rosa das Konzept der Entfremdung mehrdimensional aus, und unterscheidet dabei in Anschluss an Marx in Entfremdung vom Raum, von der Zeit, von den Dingen, von den eigenen Handlungen, und von den Mitmenschen (Rosa 2013). Gemeinsam ist diesen Dimensionen, dass die soziale Beschleunigung zu einer so raschen Veränderung der Lebenswirklichkeit um uns führt, dass für eine bedeutungsvolle Beziehung zur Umwelt, zu sich selbst und zu anderen die Zeit fehlt. Die Gegenwart ist sozusagen zu kurz, um die nötige Anverwandlung des Gegenübers der Beziehung zu ermöglichen. Rosas meist P. Schulz verwendetes Beispiel ist hierbei die sich mittlerweile in hoher Geschwindigkeit austauschenden elektronischen Geräte, deren Funktionsumfang von ihren Nutzern nicht einmal mehr neugierig erschlossen wird, sondern die ihnen zunehmend fremd erscheinen. Bedeutsamer ist Entfremdung in diesem Sinne jedoch da, wo sie sich auf uns nahestehende Personen oder unsere eigene Berufstätigkeit und andere Identitätsmerkmale erstreckt, die dann nicht mehr als sinnstiftend oder bedeutsam erfasst werden können. Als Gegenbegriff zur Entfremdung und als Konzept für eine Soziologie des gelingenden Lebens entwickelt Rosa im Anschluss im gleichnamigen Buch den Begriff der Resonanz (Rosa 2016; s. Kap. ▶ „Resonanz als Grundbegriff einer Theorie des guten Lebens“). In ihm formuliert er Kriterien für nicht-entfremdete Beziehungen zu anderen Menschen oder Dingen. Resonanz ist dabei kein Gefühl oder einfach mit Glück gleichzusetzen, sondern charakterisiert sinnstiftende soziale Beziehungen (s. Kap. ▶ „Gutes Leben“, s. Kap. ▶ „Glück und Zeit“). Rosa nennt für resonante Beziehungen vier Merkmale: In ihnen müssen sowohl das eigene Selbst als auch das Gegenüber mit ‚eigener Stimme‘ zur Geltung kommen, das heißt die Beziehungen dürfen nicht einseitig dominiert sein, sondern beide Seiten der Beziehung müssen in ihrer Eigenheit zur Geltung kommen. Drittens müssen Resonanzbeziehungen dafür offen sein, die Beteiligten zu verändern (Rosa spricht vom transformierenden Charakter der Resonanz), und schließlich bleibt viertens die Resonanz unverfügbar, das heißt sie kann zwar durch Rahmenbedingungen begünstigt, aber nicht instrumentell hergestellt oder erzwungen werden. Mit diesem Konzept entwickelte er einen schillernden Begriff, der insbesondere in der Pädagogik und Seelsorge viel Anklang gefunden, allerdings auch konzeptionell umstritten ist (siehe hierfür Schulz und Peters 2017). Deutlich wird aber in der Rezeption von Resonanz, dass die Diagnose der durch die temporalen Strukturen der Gegenwart unter Druck geratenden, sinnstiftenden, bedeutsamen und stabilisierenden Beziehungen selbst einen Nerv der Zeit getroffen hat, in dem sie ein Problem der Gegenwartsgesellschaften angesprochen hat. Beschleunigung Literatur Adorno, Theodor W. 2003. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften. Band 8), Hrsg. von R. Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Elias, Nobert. 1976. Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Engels, Friedrich, und Karl Marx. 1990. Manifest der Kommunistischen Partei. In Marx Engels Werke, Bd. 4, 11. Aufl. Berlin: Dietz. Hochschild, Arlie Russell. 1997. The time bind. When work becomes home & home becomes work. New York: Henry Holt. Koselleck, Reinhart. 1989. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kury, Patrick. 2012. Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout. Frankfurt a. M.: Campus. Leccardi, Carmen. 1999. Time, young people and the future. Young 7(1): 3–18. Lübbe, Hermann. 1983. Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts. Graz/Wien/Köln: Styria. Lübbe, Hermann. 1992. Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin/Heidelberg: Springer. Luhmann, Niklas. 1998. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 7 Nassehi, Armin. 1993. Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden: Springer. Postone, Moishe. 2003. Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg i.Br.: ça ira. Rosa, Hartmut. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rosa, Hartmut. 2013. Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp. Rosa, Hartmut. 2016. Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. Schulz, Peter. 2016. Lifelogging – Projekt der Befreiung oder Quelle der Verdinglichung? In Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel, Hrsg. Stefan Selke, 45–64. Wiesbaden: Springer VS. Schulz, Peter, und Christian Helge Peters, Hrsg. 2017. Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Bielefeld: transcript. Simmel, Georg. 1989. Philosophie des Geldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Virilio, Paul. 2018. Geschwindigkeit und Politik. Berlin: Merve. Zoll, Rainer, Hrsg. 1988. Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
pFad - Phonifier reborn

Pfad - The Proxy pFad of © 2024 Garber Painting. All rights reserved.

Note: This service is not intended for secure transactions such as banking, social media, email, or purchasing. Use at your own risk. We assume no liability whatsoever for broken pages.


Alternative Proxies:

Alternative Proxy

pFad Proxy

pFad v3 Proxy

pFad v4 Proxy