Beschleunigung
Peter Schulz
„Was wir als Tempo des Lebens empfinden, ist das
Produkt aus der Summe und der Tiefe seiner Veränderungen“ (Simmel 1989, S. 696).
Das moderne Leben ist im Vergleich zu vormodernen Zeiten von einer neuen Qualität der
Geschwindigkeit in zahlreichen Bereichen geprägt. Sei es beim Transport von Menschen, Gütern und Informationen, sei es in der Produktion
von Waren, der Naturvernutzung oder dem allgemeinen Wandel der Lebensumstände – die Gegenwart ist schneller als ihre Vergangenheit, und
für die Zukunft ist zu erwarten, dass sie ebenfalls
schneller sein wird. Entsprechend ist die sozialwissenschaftliche Analyse der Gegenwartsgesellschaften von Beobachtungen der Geschwindigkeit und Beschleunigung geprägt. Verschiedene
Theoretiker*innen der sozialen Wirklichkeit
haben diese Beschleunigung auf verschiedene Ursachen zurückgeführt. So hat etwa der Soziologe
Norbert Elias den Zusammenhang von Lebenstempo und gestiegener sozialer Komplexität des
Zusammenlebens herausgearbeitet, wenn er erläutert, dass „[d]ieses ‚Tempo‘ [. . .] in der Tat nichts
anderes [ist], als ein Ausdruck für die Menge der
Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen,
gesellschaftlichen Funktion verknoten, und für
den Konkurrenzdruck, der aus diesem weiten
und dicht bevölkerten Netz heraus jede einzelne
P. Schulz (*)
Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Deutschland
E-Mail: schulz.peter@uni-jena.de
Handlung antreibt“ (Elias 1976, S. 337). Das Zusammenleben in Städten, die gestiegene Komplexität arbeitsteiliger Produktion sind für ihn die
Quellen des Tempos modernen Lebens. In einer
berühmt gewordenen Formulierung im Manifest
der Kommunistischen Partei betonen Karl Marx
und Friedrich Engels dagegen, dass es die kapitalistische Wirtschaftsform ist, die zu einer „fortwährende[n] Umwälzung der Produktion“ und
„ununterbrochene[n] Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ (Engels und Marx 1990,
S. 465) führt, da konstante ökonomische Innovation zu einem andauernden Wandel von Arbeitsund Lebensweisen führe.
Der Soziologe Niklas Luhmann schließlich arbeitet heraus, dass die Moderne, anders als Epochen vor ihr, am Leitmotiv einer offenen Zukunft
orientiert ist und so ‚Neuheit‘ einen Eigenwert
gewinnt. Neuheit führt dabei inhärent zu sozialem
Wandel, da „Neuheit nicht in die Gegenwart eintreten kann, ohne diesen ihren Charakter zu verlieren“ und sich die gesellschaftliche Zeit daher
„ständig in sich selbst [verliert, und so als] Differenz [. . .] instabil [bleibt und] damit Beschleunigungen aus[löst]“ (Luhmann 1998, S. 1005–
1006).
Trotz dieser verbreiteten Diagnosen ist eine
eigene Theorie dieser steigenden Geschwindigkeit des sozialen Lebens in den Sozialwissenschaften relativ spät entwickelt worden. Der französische Philosoph Paul Virilio (2018) war der
erste, der mit seiner Dromologie (von griechisch
dromos: Rennbahn) in den 1970er-Jahren einen
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2025
S. Deppe et al. (Hrsg.), Handbuch Medizin und Lebenszeit,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-68418-4_17-1
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essayistischen Entwurf vorlegte, der diese Diagnosen zuspitzte und als Definitionskriterium für
die Moderne ihre Geschwindigkeit vorschlug. In
den 1980er- und 1990er-Jahren wurde Zeit zu
einem Thema der Sozialwissenschaften, da subjektiv empfundene Zeitnot und verdichtete Handlungsabläufe (s. Kap. ▶ „Zeitwahrnehmung“) zunehmend krisenförmig wurde (Hochschild 1997;
Koselleck 1989; Leccardi 1999; Lübbe 1983;
Nassehi 1993; Zoll 1988). Im Anschluss an diese
konzeptionellen und empirischen Arbeiten hat
dann der Soziologe Hartmut Rosa mit seinem
2005 erschienenen Buch Beschleunigung. Die
Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne
eine systematisierte Theorie sozialer Beschleunigung vorgelegt, in dem er die Idee, die Moderne
von ihren Zeitstrukturen her zu bestimmen mit
den soziologischen Beobachtungen der sozialen
Beschleunigung verband.
Das Werk löste eine breite Rezeption aus und
wurde mittlerweile ins englische, französische, spanische und chinesische übersetzt. Folgend soll daher
Rosas Theorie sozialer Beschleunigung knapp und
mit Fokus auf die potenziell belastenden Auswirkungen der Beschleunigung auf moderne Menschen
skizziert werden. Dafür wird erstens auf technologische Innovationen, sozialen Wandel und das Lebenstempo als Dimensionen sozialer Beschleunigung und zweitens auf die Konkurrenzlogik
kapitalistischen Wirtschaftens und die Verinnerweltlichung der Lebensziele durch die Säkularisierung
als externe Motoren des Beschleunigungskreislaufs
eingegangen werden. Drittens werden die damit
einhergehenden subjektiven, psychischen Folgen
beschleunigter Verhältnisse und – in einem knappen
Ausblick – Rosas Perspektive auf ein gelingendes
Leben dargestellt werden. Ihre Implikationen für die
medizinische Praxis werden hoffentlich durch die
entsprechenden Verweise auf andere Kapitel dieses
Buches deutlich.
Die Dimensionen sozialer
Beschleunigung
In seinem Buch Beschleunigung bestimmt Rosa
soziale Beschleunigung als Grundprinzip und
Grunderfahrung der Moderne (vgl. Rosa 2005,
P. Schulz
S. 51, 441). Soziale Beschleunigung gliedert
sich nach Rosa dabei in die drei Dimensionen:
die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und schließlich die
Beschleunigung des Lebenstempos. In allen drei
Dimensionen lässt sich in der Moderne eine
„Mengenzunahme pro Zeiteinheit“ (Rosa 2005,
S. 115) beobachten – wobei als Menge aber je
nach Dimension der sozialen Beschleunigung anderes gilt.
Die technische Beschleunigung, die schon
Lübbe als zentral für „die [t]emporale Innovationsverdichtung“ (Lübbe 1992, S. 305) der Gegenwart ansieht, ist dabei die vielleicht „offensichtlichste und folgenreichste Gestalt moderner
Beschleunigung“ (Rosa 2005, S. 124). Mit
Dampfschifffahrt, Eisenbahn, Automobil und
Flugzeug, Telegrafie, Telefon und Internet, aber
auch mit Dampfmaschine, Fließband und Robotik
nimmt die Menge an „zurückgelegte[m] Weg, die
Anzahl der kommunizierten Zeichen, die produzierten Güter“ (Rosa 2005, S. 115) nicht nur
in der Moderne rapide gegenüber aller vorheriger
Menschheitsgeschichte zu, sondern steigt auch in
der Moderne weiter an: Menschen, Güter und
Informationen werden immer schneller um die
Erde bewegt, Waren immer schneller produziert.
Die Beschleunigung des technischen Wandels
meint also sowohl beschleunigte Reise- und Übermittlungsgeschwindigkeiten als auch beschleunigte Abläufe in der Produktion und Distribution
von Waren.
Als zweite Dimension bestimmt Rosa die Beschleunigung des sozialen Wandels, also eine gesteigerte Geschwindigkeit bei der Veränderung
dessen, was als stabiler Teil des eigenen Lebens
angesehen wird. So steigt die durchschnittliche
„Zahl der Arbeitsstellen pro Erwerbsleben oder
die Intimpartnerwechsel pro Jahr“ (Rosa 2005,
S. 115) im Verlauf der Moderne deutlich an. Um
dieses Phänomen theoretisch zu fassen schließt
Rosa dafür an das Konzept der Gegenwartsschrumpfung von Lübbe an. Lübbe bezeichnet
im Anschluss an Reinhart Koselleck (1989) mit
dem Begriff der Gegenwart den Zeitraum, in dem
„‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘“
(Lübbe 1992, S. VI) der Menschen gleich bleiben,
also sozusagen alles seinen gewohnten Gang geht.
Beschleunigung
Während die bäuerliche Lebenswelt in der Vormoderne davon geprägt war, dass diese Gegenwart intergenerational stabil war, und man im
gleichen Ort lebte und die gleiche Arbeit machte
wie seine Eltern oder Großeltern, gab es mit der
Moderne einen Umbruch: Erfahrungsraum und
Generation fielen tendenziell in eins (s. Kap.
▶ „Lebensverlauf und Biographie“). In der Adoleszenz standen mit Berufswahl und Familiengründung Entscheidungen zu einem lebenslang
ausgeübten Beruf, einer Ehe und einen gleichbleibenden Wohnort an. Im Rahmen der ‚Normalbiographie‘ ergaben sich so lebenslange stabile Erwartungsräume, die mit dem Tempo des sozialen
Wandels korrespondierten: Man machte es anders
als seine Eltern – was zu Generationenkonflikten
führte – aber erfuhr das eigene Leben weitgehend
gleichbleibend und stabil. Laut Rosa sei seit etwa
den 1970ern ein Übergang zu beobachten, sodass
mittlerweile mehrere Berufs-, Partner*innen-, und
Wohnortwechsel innerhalb eines Lebens die neue
Normalität darstellen (vgl. Rosa 2005, S. 352–
390). Für Rosa ist dieser Übergang relativer generationaler Stabilität zu intragenerationaler Instabilität im zeitlichen Sinne so gravierend, dass er
hieran den Übergang der Moderne in die Spätmoderne festmacht.
Damit geht in der Spätmoderne die Notwenigkeit einer regelmäßigen Neuorientierung einher,
da die gewohnte Gegenwart zur Vergangenheit
wird, was sich insbesondere auf ältere Menschen,
denen eine entsprechende Anpassung schwerfallen kann, negativ auswirkt. Zudem kann mit dem
‚Neu Beginnen‘ nach Berufs-, Partner*innen-,
und/oder Wohnortwechsel eine soziale Entbettung einhergehen, sodass Einsamkeit, aber auch
geringe soziale Ressourcen in Krisensituationen
in der Gegenwart an Bedeutung gewinnen, und
dadurch spezifische Anforderungen in professionellen Fürsorge- und Pflegekontexten neu entstehen (s. Kap. ▶ „Zeit in der allgemeinmedizinischen Versorgung älterer Menschen“, s. Kap.
▶ „Lebenszeit und gutes Leben in der Pflege“).
Dieser doppelte Umbruch der objektiven Zeitstruktur wie subjektiven zeitlichen Anforderungen von der Vormoderne zur Moderne und der
Moderne zur Spätmoderne ist für Rosa zugleich
– zusammen mit der dynamischen Stabilisierung
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(s. u.) – die zentrale Bestimmung, was die Moderne und Spätmoderne als soziale Formation
auszeichnet.
Auch die dritte Dimension der sozialen Beschleunigung nach Rosa schließt an Lübbe an.
Während Lübbe hier die kulturellen „Zeitnutzungszwänge“ (Lübbe 1992, S. 359) zentral stellt,
betont Rosa jedoch bei der Beschleunigung des
Lebenstempos neben dem zunehmenden subjektiven Zeitmangel und daraus resultierendem
Stress auch die objektive Verdichtung der Abläufe
innerhalb der Arbeitswelt als auch die gestiegene
Geschwindigkeit des sozialen Wandels als bedingende Effekte, da beides die Freizeit unter Druck
setzt. Neben den Erholungsanforderungen, die
aus der intensivierten und verdichteten Arbeit folgen, und den Anpassungsanforderungen, die sich
zunehmend verändernde soziale Strukturen stellen, tritt der Versuch, die so unter Druck geratenen
Lebensziele in weniger Zeit zu realisieren. Zugleich produziert die durch technologische Beschleunigung angetriebene Produktion zunehmend mehr Optionen an Dienstleistungen und
Waren, um seine Freizeit zu nutzen. Laut Rosa
kommt es so zu einer „Erosion denkbarer Ruhepositionen aller Art: Stillstand wird unvermeidlich zu einer Form des Zurückfallens, nicht nur in
der Wirtschaft, sondern in allen Dimensionen des
sozialen Lebens“ (Rosa 2005, S. 249; Herv. i.
Orig.).
Rosa betont in seinen Arbeiten die verschärfenden Auswirkungen, die zeitgenössische Phänomene wie Social Media auf den empfundenen
Beschleunigungsdruck haben, aber schon in den
1940ern beschrieb der Philosoph und Soziologe
Theodor W. Adorno, wie „Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird geplant, auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstaltungen oder auch nur mit möglichst
rascher Fortbewegung ausgefüllt“ (Adorno 2003,
S. 157). Adorno und andere, an die Marxsche
Analyse des Kapitalismus anschließende Soziolog*innen sehen diese Übertragung wirtschaftlicher Normen der Effizienz und Konkurrenz auf
das Privatleben als typisch für die Moderne, und
nicht bloß die Spätmoderne, an (vgl. Zoll 1988).
Das in Folge dieser Anforderungen beschleunigte Lebenstempo wiederum legt technische
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Möglichkeiten der Beschleunigung und Optimierung nahe, die das Versprechen in sich tragen,
unter den Bedingungen steigenden zeitlichen
Drucks weiterhin seine Lebensziele zu realisieren.
Dies geschieht etwa, indem die angesprochene
soziale Entbettung mittels Kommunikationstechnologien und schnellen Reisen begegnet wird,
wenn Kontakt zu Eltern und Freund*innen oder
sogar Intimbeziehungen über Distanz aufrechterhalten werden, oder wenn digitale Selbstoptimierungstechnologien in Anschlag gebracht werden, um eine effizientere Freizeitnutzung zu unterstützen (vgl. Schulz 2016).
Diese Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen sozialer Beschleunigung beschreibt
Rosa wiederum als „Akzelerationszirkel“ (Rosa
2005, S. 243), in dem technische Beschleunigung
den sozialen Wandel antreibt, weil sich das Arbeitsleben, aber auch die grundlegenden Technologien der Freizeitgestaltung ändern, der beschleunigte soziale Wandel die Zeitressourcen
der Menschen durch den erhöhten Anpassungsdruck verringern (s. Kap. ▶ „Zeitsouveränität“)
und so eine Erhöhung des Lebenstempos nahelegen, die wiederum technologische Lösungen zur
Geschwindigkeitserhöhung motiviert. Die soziale
Beschleunigung gewinnt so den Charakter einer
selbststabilisierenden sozialen Formation, eine
Beobachtung, die Rosa später unter dem Begriff
der „dynamische[n] Stabilisierung“ (Rosa 2016,
S. 671) zum zentralen und definitorischen Charakteristikum moderner Gesellschaften macht.
Kapitalistische Wirtschaft und
Säkularisierung als Motoren sozialer
Beschleunigung
Rosa stellt sich dennoch die Frage, wie dieser
Akzelerationszirkel in Gang gekommen ist und
identifiziert externe Motoren, die einen zusätzlichen Antrieb für ihn darstellen. Ursprünglich konzipiert er drei Motoren, die er je mit einer Dimension koppelt, korrigiert diese Perspektive aber in
späteren Schriften und spricht mittlerweile von
einem strukturellen und einem kulturellen externen Motor der Beschleunigung (Rosa 2013,
S. 34–41).
P. Schulz
Als strukturellen Motor nennt er das „System
der kapitalistischen Wirtschaft“ (Rosa 2005,
S. 257), das aufgrund seiner inhärenten Funktionsweise über die marktvermittelte Konkurrenz
zwischen einzelnen Unternehmen andauernden
Druck der Extensivierung und Intensivierung der
Produktion von allen einzelnen Marktakteur*innen erfordert. Um sich in der Konkurrenz behaupten zu können, muss jedes einzelne Unternehmen
versuchen, schneller und günstiger als die anderen
zu produzieren, um so einen Vorteil zu haben – ein
Vorteil, der wieder verschwindet, sobald sich
diese Effizienzinnovation verallgemeinert hat
(vgl. Rosa 2005, S. 257–279). Der Kapitalismuskritiker Moishe Postone nennt diese Eigenschaft
des Kapitalismus den „Tretmühleneffekt“ (Postone 2003, S. 436), in dem die konstante Beschleunigung den Status quo aufrechterhält.
Diese der modernen Wirtschaftsweise inhärente Dynamik treibt nicht nur die technische Beschleunigung zusätzlich an, sondern wirkt sich
auch im Rahmen des Akzelerationszirkels auf
den beschleunigten Wandel von Berufsbildern,
Mobilitätsanforderungen und über die von ihm
angestoßene Urbanisierung und Produktion
neuer Warentypen auf Lebens- und Konsummuster aus.
Als kulturellen Motor der sozialen Beschleunigung sieht Rosa die Säkularisierung. Durch sie
trat an die Stelle des im Mittelalter kulturell dominanten Heilsversprechens einer Ewigkeit im
Jenseits das Konzept, sein gutes Leben im Diesseits und damit in der beschränkten Zeit des eigenen Lebens zu verwirklichen. Für die säkularisierte Moderne gilt, so Rosa, „dass das gute Leben
das erfüllte Leben sei“ (Rosa 2005, S. 290; Herv.
i. Orig.) und es daher anzustreben ist, möglichst
viele positive Erlebnisse in der eigenen Lebenszeit unterzubringen (s. Kap. ▶ „Irreversibilität“).
Der strukturelle und der kulturelle Motor sind
laut Rosa wiederum über das Geld verknüpft, das
als universeller „Kontingenzbewältiger an die
Stelle Gottes tritt“ (Rosa 2005, S. 285). Geld ist
einerseits das zentrale Funktionsmedium kapitalistischen Wirtschaftens, andererseits ist der Geldbesitz aber auch das Versprechen, sich den Zugang zu Erlebnissen kaufen zu können. Da Geld
durch den Erwerb von Waren und Dienstleistun-
Beschleunigung
gen in (nahezu) alle Formen von Erlebnissen umwandelbar ist, wird es in der Moderne zu dem
symbolischen Träger des Zugangs zum ‚guten
Leben‘.
Zeitnot, Desynchronisation und
Entfremdung
Die Dimension der Beschleunigung des Lebenstempos geht laut Rosa mit den zunehmenden
„Empfindungen der Zeitnot, des Zeitdrucks
und des stressförmigen Beschleunigungszwangs“
(Rosa 2005, S. 136) einher. Diese Beobachtung
lässt sich empirisch gut belegen und geht nicht mit
tatsächlichem absolutem Zeitmangel einher (sowohl die Arbeitszeit als auch die Zeit, die auf
Schlafen verwendet wird, hat sich in den letzten
Jahrzehnten verringert), sondern steht im Zusammenhang mit der Beschleunigung des Lebens
(vgl. Rosa 2005, S. 216), deren Zunahme mit
einer Zunahme der Auseinandersetzung mit Stress
in der Medizin, Ratgeberliteratur und Öffentlichkeit korrespondiert. Der Historiker Patrick Kury
hat 2012 in seinem Buch Der überforderte
Mensch rekonstruiert, wie mit zunehmender sozialer Beschleunigung und Flexibilisierung Stress
von einem Konzept mit Bezug zu akuten Krisen
(wie etwa Kriegssituationen) über ein Phänomen
bestimmter Berufsgruppen (wie Manager*innen)
zu einem allgemeinen und zentralen Bezugsproblem des Lebens in der Spätmoderne geworden ist
(vgl. Kury 2012).
Neben dem Anstieg der empfundenen Zeitnot
und des Stresses beobachtet Rosa zwei zentrale,
problematische Folgen sozialer Beschleunigung:
Desynchronisation und Entfremdung. Desynchronisation wird von ihm zunächst als Problem auf
der makrosoziologischen Ebene herausgearbeitet:
Auf die Beschleunigung des sozialen Wandels
droht die „Desynchronisation von Prozessen, System und Perspektiven infolge einseitiger“ (Rosa
2005, S. 44) – oder genauer: unterschiedlicher –
Beschleunigung zu folgen. Rosa erläutert dies am
Beispiel des Verhältnisses zwischen kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik.
Während der Konkurrenzzwang in der Wirtschaft
zu konstanter Beschleunigung führt, die durch
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technologische Entwicklungen wie etwa digitale
Kommunikationstechnologien auf dem Finanzmarkt ermöglicht und dann zugleich gefordert
wird, ist die Demokratie nur „sehr beschränkt
beschleunigungsfähig“ (Rosa 2005, S. 395), da
die parlamentarischen Aushandlungsprozesse
ebenso wie die Erarbeitung der Regulation etwa
des Finanzmarkts durch die Exekutive bestimmte
Zeiträume ihren eigenen zeitlichen Logiken folgen. Unter den Bedingungen der sozialen Beschleunigung gerät die Politik so in die Gefahr,
statt aktiv zu gestalten bloß reaktiv agieren zu
können – oder sich vom Anspruch der Gestaltung
insgesamt zurückzuziehen.
In seinem Buch Resonanz von 2016 richtet
Rosa seinen Blick auf ein anderes Desynchronisationsphänomen, die „Psychokrise“ (Rosa 2016,
S. 711). Mit ihr beschreibt er, wie die menschliche
Psyche selbst nicht beliebig stark beschleunigbar
ist, und es somit zu Entsynchronisierungen zwischen ihr und der sozialen Wirklichkeit kommen
kann, in der das Leben schlicht zu schnell läuft.
Rosa betont dabei, dass es nicht um absolute
Grenzen der Psyche hinsichtlich der Geschwindigkeit geht und verweist dazu auf die Anpassungsschwierigkeiten, die Menschen bei den
Fahrten mit den ersten Eisenbahnen hatten – Geschwindigkeiten, die uns heute keinerlei Probleme bereiten – sondern vielmehr um Grenzen
der Beschleunigbarkeit der Psyche (Rosa 2005,
S. 484). Diese Desynchronisation kann laut Rosa
eine Reihe psychischer Erkrankungen begünstigen, in denen eine gänzliche Entkoppelung und
ein Rückzug von der beschleunigten Wirklichkeit
gesucht wird (s. Kap. ▶ „Psychotherapie und das
gute Leben in der Zeit“).
Entfremdung dagegen wird von Rosa von
vornherein auf der mikrosoziologischen Ebene
verortet: Soziale Beschleunigung beeinflusst, die
„Art und Weise, in der Subjekte ‚in die Welt
gestellt‘ sind“ (Rosa 2005, S. 170) und zu sich
selbst, zu anderen Menschen und ihrer restlichen
Umwelt in Beziehung treten. Diese Beziehungen
werden durch die soziale Beschleunigung zunehmend instabil, da der beschleunigte soziale Wandel die Sicherheit, die die erwartbare Gegenwart
bietet, unterminiert (vgl. Rosa 2005, S. 35), sich
zunehmend technische Geräte zwischen die Be-
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ziehungspartner*innen schieben – sei es bei der
technisch beschleunigten Kommunikation via Telefon und Internet oder durch das technisch beschleunigte Reisen mit Eisenbahn, Automobil
oder Flugzeug – und die Beschleunigung des Lebenstempos die Möglichkeit der zeitraubenden
Anverwandlung der Beziehungen unterminiert.
Ohne diese stabilen Beziehungen ist, so Rosa,
auch die personale Identität gefährdet, die sich erst
in und mit solchen Beziehungen ausbildet. An die
Stelle einer stabilen personalen Identität tritt eine
situative Identität. Bei ihr tritt an die Stelle relativ
gleichbleibender Selbstdeutungen und Werte bloße
„Flexibilität und Wandlungsbereitschaft“ (Rosa
2005, S. 379), die zwar einerseits eher in der Lage
ist, mit den beschleunigten sozialen Verhältnissen
zurecht zu kommen und damit weniger dem Risiko
der Desynchronisation ausgesetzt ist, andererseits
aber zugleich keine inneren Quellen hat, aus denen
Entscheidungen motiviert werden können. Statt
langfristig orientierte und im Bezug zum eigenen
Selbstbild stehende Entscheidungen zu treffen, verfolgen Menschen zunehmend „aus eigenem Antrieb
Handlungslinien [. . .], die sie aus einer zeitstabilen
Perspektive nicht präferieren“ (Rosa 2005, S. 483).
Diese Struktur nennt Rosa Entfremdung.
Entfremdung meint also, dass Menschen sich
in ihren eigenen Handlungen nicht mehr wiedererkennen können, weil sie unter den Bedingungen sozialer Beschleunigung keine stabile
personale Identität ausbilden – soziale Beschleunigung untergräbt damit letztlich die personale Autonomie ebenso wie das Empfinden
sinnhaften Lebens (s. Kap. ▶ „Sinn“).
Im Anschluss an seine Theorie sozialer Beschleunigung arbeitet Rosa das Konzept der Entfremdung mehrdimensional aus, und unterscheidet dabei in Anschluss an Marx in Entfremdung
vom Raum, von der Zeit, von den Dingen, von
den eigenen Handlungen, und von den Mitmenschen (Rosa 2013). Gemeinsam ist diesen Dimensionen, dass die soziale Beschleunigung zu einer
so raschen Veränderung der Lebenswirklichkeit
um uns führt, dass für eine bedeutungsvolle Beziehung zur Umwelt, zu sich selbst und zu anderen die Zeit fehlt. Die Gegenwart ist sozusagen zu
kurz, um die nötige Anverwandlung des Gegenübers der Beziehung zu ermöglichen. Rosas meist
P. Schulz
verwendetes Beispiel ist hierbei die sich mittlerweile in hoher Geschwindigkeit austauschenden
elektronischen Geräte, deren Funktionsumfang
von ihren Nutzern nicht einmal mehr neugierig
erschlossen wird, sondern die ihnen zunehmend
fremd erscheinen. Bedeutsamer ist Entfremdung
in diesem Sinne jedoch da, wo sie sich auf uns
nahestehende Personen oder unsere eigene Berufstätigkeit und andere Identitätsmerkmale erstreckt, die dann nicht mehr als sinnstiftend oder
bedeutsam erfasst werden können.
Als Gegenbegriff zur Entfremdung und als
Konzept für eine Soziologie des gelingenden Lebens entwickelt Rosa im Anschluss im gleichnamigen Buch den Begriff der Resonanz (Rosa
2016; s. Kap. ▶ „Resonanz als Grundbegriff
einer Theorie des guten Lebens“). In ihm formuliert er Kriterien für nicht-entfremdete Beziehungen zu anderen Menschen oder Dingen. Resonanz
ist dabei kein Gefühl oder einfach mit Glück
gleichzusetzen, sondern charakterisiert sinnstiftende soziale Beziehungen (s. Kap. ▶ „Gutes Leben“, s. Kap. ▶ „Glück und Zeit“). Rosa nennt für
resonante Beziehungen vier Merkmale: In ihnen
müssen sowohl das eigene Selbst als auch das
Gegenüber mit ‚eigener Stimme‘ zur Geltung
kommen, das heißt die Beziehungen dürfen nicht
einseitig dominiert sein, sondern beide Seiten der
Beziehung müssen in ihrer Eigenheit zur Geltung
kommen. Drittens müssen Resonanzbeziehungen
dafür offen sein, die Beteiligten zu verändern
(Rosa spricht vom transformierenden Charakter
der Resonanz), und schließlich bleibt viertens
die Resonanz unverfügbar, das heißt sie kann
zwar durch Rahmenbedingungen begünstigt,
aber nicht instrumentell hergestellt oder erzwungen werden. Mit diesem Konzept entwickelte er
einen schillernden Begriff, der insbesondere in
der Pädagogik und Seelsorge viel Anklang gefunden, allerdings auch konzeptionell umstritten ist
(siehe hierfür Schulz und Peters 2017).
Deutlich wird aber in der Rezeption von Resonanz, dass die Diagnose der durch die temporalen
Strukturen der Gegenwart unter Druck geratenden, sinnstiftenden, bedeutsamen und stabilisierenden Beziehungen selbst einen Nerv der Zeit
getroffen hat, in dem sie ein Problem der Gegenwartsgesellschaften angesprochen hat.
Beschleunigung
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Schulz, Peter, und Christian Helge Peters, Hrsg. 2017.
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