Äpfel und Birnen.
Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften
Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder, Tilo Renz (Hg.)
Äpfel und Birnen.
Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften
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Inhalt
Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder und Tilo Renz
Einleitung:
Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften
7
Konfrontationen, Vergleiche, Verknüpfungen
Elisabeth Bronfen
Shakespeare in Hollywood:
Cross-mapping als Leseverfahren
23
Horst Wenzel
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
41
Iulia-Karin Patrut
»Zigeuner« und andere Fremde.
Zur diachronen Vergleichbarkeit von Fremdheitsentwürfen
in literarischen und expositorischen Texten
57
Alexandra Tacke
Aus dem Rahmen (ge-)fallen.
Tableaux vivants in Goethes Wahlverwandtschaften
und bei Vanessa Beecroft
73
Julia B. Köhne
Krieg spielen.
Ein britischer wissenschaftlicher Film (1918)
und eine BBC-Documentary (2002)
95
Steffen Greschonig
Lüge und Utopie
117
Silke Förschler
Odaliske reproduziert.
Umrisslinien des Aktes im 19. Jahrhundert zwischen
Malerei und Fotografie
131
Markus Rautzenberg
Zeichen/Präsenz. Zu einer vermeintlichen Dichotomie
149
Über vergleichende Verfahren
Tilo Renz
Cross-mapping diskurshistorisch
165
Karsten Lichau
Kunst des Ver-Gleichens.
Zur Blickführung in Physiognomiken des späten
18. und des frühen 20. Jahrhunderts
183
Wiebke-Marie Stock
Lichtmetaphysik und Fotografie.
Zu einem Essay von Georges Didi-Huberman
203
Jörn Ahrens
Menschen-Bilder. Zum Vergleich einer Spezies mit sich selbst
219
Daniel Tyradellis
Olive und Urkilo. Im Zeitalter des Vergleichens
239
Autorinnen und Autoren
249
Abbildungsnachweis
255
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
Einleitung:
Illegitimes Vergleichen
in den Kulturwissenschaften
Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder und Tilo Renz
Tanja Lucic, die Ich-Erzählerin des Romans Das Ministerium der
Schmerzen von Dubravka Ugresic, hat ihre Heimatstadt Zagreb wegen
des Krieges in Ex-Jugoslawien verlassen.1 Sie beschreibt, wie sie
eines Abends vor ihrem Fernseher in Amsterdam sitzt und sich die
Verfilmung von Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit
des Seins anschaut. Der Einzug der russischen Panzer in Prag erzeugt
plötzlich und unerwartet einen Strudel der Bilder. Es ist ihr bewusst,
dass das, was sie dort sieht, nur eine vage Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Geschichte hat, und doch wird diese uneigentliche Ähnlichkeit
zum Eigentlichen, drängt sich ihr der illegitime Vergleich auf:
»Ein Wort, vom Absender seinem Nachbarn ins Ohr geflüstert, durchläuft von
einem Ohr zum andern eine lange Kette und kommt schließlich aus dem Mund des
Letzten in der Reihe wie das Kaninchen aus dem Zylinder des Zauberers. Auch der
Schlag, der mir vorhin die Luft nahm, legte einen langen und verschlungenen
Weg zurück, er wechselte Mittler, Absender und Medien, ging von einer Hand zur
anderen, um am Ende in der Gestalt von Juliette Binoche vor mir zu erscheinen.
Sie war die letzte in einer langen Reihe der Übermittler, sie war es, die mir meinen eigenen Schmerz in meine Sprache übersetzte. […] Obwohl ich nur auf die
›jugoslawische‹ Story ein copyright zu haben glaubte, waren in diesem Augenblick
alle Storys ›mein‹. Ich weinte innerlich, schluchzte über den imaginären Wust der
durcheinandergeratenen Filmbänder, die willkürliche Etiketten trugen wie Ost-,
Mittel-, Südosteuropa, jenes andere Europa.«2
1. Dubravka Ugresic: Das Ministerium der Schmerzen, Berlin 2005.
2. Ebenda, S. 257f.
7
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
Nicht nur der Leser, auch die Erzählerin selbst weiß um die Illegitimität des beschriebenen Vergleichs. Es ist ihr unangenehm, dass die
»Filmbänder« in ihrem Kopf durcheinander geraten sind, dass sie
dieser »vagen Ähnlichkeit« so ausgesetzt ist, dass das Betrachten eines
Films sie politische Kontexte vergleichen lässt, die gewöhnlich als
unvergleichbar angesehen werden.
Warum aber haben die Filmbilder in diesem Moment das Vermögen und die Kraft, die Betrachterin so zu treffen, dass sie ihren eigenen
Schmerz in ihre Sprache übersetzt? Der vorliegende Band stellt genau
diese Frage: Er fragt nach Denkfiguren, die einen langen verschlungenen Weg zurückgelegt haben, nach ihren medialen Umschriften und
nach den Möglichkeiten ihrer Tradierung, Transformation und Re-Inszenierung. Es geht um Austauschbeziehungen, die jenseits der gültigen Hoheitsbereiche und Raster des Vergleichens scheinbar Entlegenes und zeitlich voneinander Unabhängiges verbinden und in Beziehung setzen. Diese zu erkunden haben Stephen Greenblatt mit der
Frage nach der Zirkulation sozialer Energie und Elisabeth Bronfen mit
dem Verfahren des cross-mapping bereits begonnen.3
Das Gebiet sanktionierter Vergleiche zu verlassen und die Kategorie des Vergleichs an sich zu hinterfragen (und damit zugleich die
Figur der Ähnlichkeit und die Prozesse der Analogiebildung) bedeutet,
die menschliche Wahrnehmung, das Einrichten von Wissensordnungen und die Bildung von Theorien auf ihre innersten Mechanismen
hin zu untersuchen. Entlang welcher Gebote und Gewohnheiten der
Analogiebildung formieren sich Vergleiche, und wie entsteht ein Wissen darum, welche produktiv, angemessen, richtig bzw. welche unstatthaft und illegitim sind?
Für einen Empiriker wie David Hume folgt die vergleichende
Welterschließung noch vergleichsweise klaren Regeln. Wenn er auch
zugesteht, dass das »die Vorstellungen vereinende Prinzip nicht als die
Vorstellungen untrennbar verknüpfend gedacht werden« darf, so ist
dieser Wechsel doch an keiner Stelle ohne eine erkennbare und ratifizierbare Regel und Methode. Der Faktor der Ähnlichkeit stellt für ihn
eine elementare Funktion menschlicher Wahrnehmung dar. »Es ist
klar«, schreibt er, »dass die Einbildungskraft […] leicht von einer Vor-
3. Stephen Greenblatt: »Die Zirkulation sozialer Energie«, in: Ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt am Main 1993, S. 9-33 und Elisabeth Bronfen: »Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache«, in: Lutz Musner,
Gotthard Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen,
Wien 2002, S. 110-134.
8
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
stellung, zu einer beliebigen anderen, die ihr ähnlich ist, übergeht«.
Zwei Gegenstände werden »nicht nur dann […] miteinander verknüpft
[…], wenn einer dem anderen unmittelbar gleicht, [mit] ihm zeitlich
oder räumlich zusammenhängt, oder die Ursache desselben ist, sondern auch dann, wenn ein dritter Gegenstand zwischen sie eingeschoben ist, welcher zu beiden in einer der genannten Beziehungen steht«.4
Wie aber bestimmt sich die erwähnte Gleichartigkeit? Und was
passiert, wenn wir die von Hume eingenommene Perspektive und den
noch vergleichbar festen Boden der Empirie verlassen und uns in die
»Ortlosigkeit der Sprache« begeben, dorthin also, wo plötzlich auf dem
Operationstisch der Regenschirm auf die Nähmaschine trifft5 und
damit die »tausendjährige Handhabung des Gleichen und Anderen […]
in Unruhe versetzt« werden kann?6 Auf welchem »Tisch«, so gilt es
mit Michel Foucault zu fragen, und »gemäß welchem Raum an Identitäten, Ähnlichkeiten, Analogien haben wir die Gewohnheit gewonnen,
so viele verschiedene und ähnliche Dinge einzuteilen? Welche Kohärenz ist das, von der man sofort sieht, daß sie weder durch eine Verkettung a priori und notwendig determiniert ist, noch durch unmittelbar
spürbare Inhalte auferlegt wird?«7
Wenn illegitime Vergleiche die fundamentalen Codes von Wissensordnungen irritieren, indem sie an den Rändern der gültigen Raster
von Empirie und Gewohnheit operieren oder sie gar verletzen, so ist
darüber hinaus festzustellen, dass derartige Verstöße in den verschiedenen Disziplinen auf ganz unterschiedliche Weise als problematisch
und provokant gewertet werden. »Poetry teaches us to compare apples
and oranges«, schreibt W.J. Mitchell und erklärt die Poesie zu einer Art
umfriedeten Spezialbereich, in dem überraschende, ungewohnte und
undisziplinierte Vergleiche nicht nur erlaubt sind, sondern für Originalität und Geist bürgen.8 Dort aber, wo der Vergleich nicht nur der
Überraschung, dem sinnlichen Vergnügen oder der spielerischen Freizeitunterhaltung dienen soll, sondern als Erkenntnisinstrument angelegt ist, wo er also einleuchtend und evident zu sein hat, da wird der
schlechte Ruf der Kategorie des Vergleichs generell nur allzu deutlich.
4. David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch I (1739).
Über den Verstand, Hamburg 1989, S. 21f.
5. Foucault greift das durch den Surrealismus berühmt gemachte Wort
von Lautréamont auf. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1994, S. 19.
6. Ebenda, S. 17.
7. Ebenda, S. 22.
8. William J. Mitchell: Placing Words. Symbols, Space, and the City, Cambridge (Mass.) 2005, S. 48.
9
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
Beweisen lässt sich mit einem Vergleich nichts, das Differente wird
nur nebeneinander gestellt. Bedeutungen werden verschoben und
verlagert, anstatt sie in Bahnen der Notwendigkeit zu lenken. So
scheint es zumindest. Ist aber nicht bei genauerer Betrachtung der
Vergleich das Richtmaß für jede Form von Wahrheit, die sich entsprechend der abendländischen Tradition als adaequatio rei et intellectus
versteht.
Wenn man nun mit Nietzsche die Systeme ernster nimmt, als sie
sich selbst nehmen, dann gibt es in Zeiten, die von der logisch-moralischen Evidenz gekennzeichnet sind, dass Kontexte nicht begrenzbar
sind9, nur mehr illegitime Vergleiche. Das, was ohne externes Kriterium von sich her vergleichbar wäre, müsste vollkommen identisch
sein: A = A – in seiner Geschichte wie in seiner Präsenz. Bis auf weiteres ist jedoch in jedem Fall ein tertium auszuweisen, ein Richtmaß, das
über die Vergleichbarkeit entscheidet. Jede mögliche Antwort auf den
Ertrag eines Vergleichs ist durch dieses Dritte im Voraus determiniert.
Oder nicht? »Könnte es möglich sein, von der Sache her, von den zu
vergleichenden Themen, Dingen, Personen, Epochen, die Frage nach
der Vergleichbarkeit selbst zu modifizieren? Dies wäre eine Utopie des
Vergleichs, so wie ein Spiel, das darin bestünde, mit jedem einzelnen
Zug die Regeln des Spiels zu verändern.«10 Ein solches Vorgehen
brächte die Legitimät-Illegitimitäts-Differenz zum Verschwinden. Die
Lösung eines Problems bemerkt man, wie Wittgenstein sagte, am
Verschwinden des Problems. Worum geht’s?
*
Die Rede vom Vergleich von »Äpfeln und Birnen« zieht eine Grenze
zwischen legitimen und illegitimen, d.h. als wissenschaftlich und als
unwissenschaftlich angesehenen Vorgehensweisen und kann als Antwort auf die Provokation etablierter methodologischer Praktiken verstanden werden. Sie bezieht sich, so unsere Beobachtung, in den kulturwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen gegenwärtig vor allem auf
Vergleiche, deren vermeintliche Illegitimität aus der Überwindung
einer zeitlichen Differenz resultiert, die also diachron angelegt sind,
sowie auf solche, die synchron Medien- oder Diskursgrenzen transzendieren. Zunächst zu den letztgenannten: Diskurstheoretische Überle9. Vgl. z.B. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt am Main 1992.
10. Daniel Tyradellis: »nolens, volens, ludens«, in: Ders.: Ausgelassene
Schriften, Nexö 2006 (im Erscheinen).
10
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
gungen, die sich insbesondere an Foucault orientieren, und an sie
anknüpfend medientheoretische Ansätze, die nach der Materialität der
Medien fragen11, führen nicht nur zur so genannten kulturwissenschaftlichen Öffnung traditioneller historischer, philologischer und
bildwissenschaftlicher Disziplinen, sondern sie fordern diese Wissenschaften zugleich dazu auf, diskursive und mediale Kontexte zu berücksichtigen, in denen ein untersuchtes Artefakt steht. Den Kontextbezug einzuklagen wäre noch nicht neu; diese Forderung wird jedoch
in einer radikalisierten Weise formuliert. Diskurs- und Medientheorie
haben den Blick darauf gelenkt, dass bestimmte diskursive Reglementierungen ebenso wie mediale Codierungen den Bereich dessen, was
sagbar ist, d.h. die Ausformung von Aussagen sowie ihre Beziehungen
untereinander, erst konstituieren. Das Archiv einer jeweiligen Kultur,
so formuliert Foucault in der Archäologie des Wissens, sei das, »was an
der Wurzel der Aussage […] von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert. […] Es [das Archiv] ist das allgemeine System der Formation
und der Transformation der Aussagen.« (Hervorhebungen im Original)12
Offensichtlich geht es also um mehr als um die Rekonstruktion eines
Kontextes, der im Sinne der Hermeneutik Verstehen erst ermöglicht.
Gefragt wird nach Regelungen, die produktive Effekte haben auf die
formale Dimension realisierbarer Aussagen.13
Damit ist nicht alles Teil desselben umfassend verstandenen kulturellen Textes – und es ergibt sich das Problem, wie verschiedene Abschnitte dieses Textes miteinander in Verbindung zu bringen sind.
Andererseits jedoch scheinen auch nicht sämtliche Relationen innerhalb dieses Textes von vornherein als differentiell bestimmt werden zu
können. Foucaults Bekenntnis zum Positivismus geht mit dem Bestreben einher, die aufgewiesenen Gesetzmäßigkeiten (neu) zu ordnen
und zusammenzufassen.14 Wissensformationen können strukturiert
11. Friedrich Kittler hat bereits im Nachwort der Aufschreibesysteme explizit diesen Aspekt der Foucault’schen Diskursarchäologie aufgegriffen und programmatisch seine Ausweitung auf die Reflexion technischer Medien gefordert.
Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, München 1995, S. 519.
Wolfgang Ernst hat diese Verbindung von Diskurstheorie und Mediengeschichte
kürzlich wieder aufgegriffen. Vgl. Wolfgang Ernst: »Das Gesetz des Sagbaren. Foucault und die Medien«, in: Peter Gente (Hg.): Foucault und die Künste, Frankfurt
am Main 2004, S. 238-259.
12. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 2002,
S. 188.
13. Zur Einführung des Begriffs der »diskursiven Formation«, deren Elemente alle den gleichen »Formationsregeln« unterworfen sind vgl. ebenda, S. 58.
14. Vgl. ebenda, S. 40f.
11
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
werden, etwa indem man sie in unterschiedliche Diskurse auffächert
oder indem man episteme aufeinander folgen lässt, und auch das Verhältnis unterschiedlicher Medien lässt sich für eine spezifische historische Situation bestimmen, so dass Medienumbrüche chronologisch
geordnet werden können. Kulturelle Artefakte, die synchron verglichen
werden, sind damit auf systematische diskursive und mediale Differenzen hin zu befragen. Bei diachronen Vergleichen hingegen ist zu überlegen, wie mit der historischen Distanz der verglichenen Gegenstände
umgegangen werden kann.
Der diachrone Vergleich provoziert zunächst die ursprünglich
historistische Auffassung, nach der ein jedes historisches Objekt aus
seiner Zeit, seiner geistes-, sozial-, wirtschafts-, politik- und mediengeschichtlichen Bedingtheit zu betrachten sei, und nur aus dieser. Eine
solche zentrierte Historiografie kann nur idealtypisierend verfahren,
d.h. in Weberscher Manier einen Zeitgeist, eine Struktur, vielleicht
auch einen Diskurs oder eine episteme konstruieren, die – will man
schon vergleichen – als tertium comparationis dienen kann, um schließlich als tatsächliches Erkenntnisinteresse der historiografischen Arbeit
die Spezifika und Eigenheiten der synchron verglichenen Gegenstände
umso schärfer zu konturieren. Dass auch der historistische Monismus
alles andere als frei von Problemen ist, hat schon früh z.B. Karl-Heinz
Stierle betont: »Nur die Vorstellung der Epochenidentität macht die
Paradoxie denkbar, daß zwei zeitlich entfernte Punkte sich näher sein
können als zwei zeitlich benachbarte.«15
Setzt sich der diachrone Vergleich über das historistische Paradigma hinweg, so lassen sich zwischen zwei historisch distanten Gegenständen – und immer entlang des tertium comparationis – nicht nur
Unterschiede feststellen, sondern auch Gemeinsamkeiten. Auf diese
Weise aber entsteht das Problem der Wiederholung von Geschichte.
Und wo sich Geschichte wiederholt, lauert das Gespenst der historia als
magistra vitae schon hinter der nächsten Ecke.16 Die Idee, aus der qua
Vergleichung erkannten Wiederholungsstruktur lernen zu können, hat
in politischer Hinsicht legitimatorische Funktion. In kulturwissenschaftlicher Perspektive kann sie zu einer historischen oder Kultur-Anthropologie führen, die immer neue Antworten auf die immer gleichen
15. Karl-Heinz Stierle: »Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts«, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik
XII), München 1987, S. 455-496, hier S. 455.
16. Vgl. Reinhart Koselleck: »Historia magistra vitae. Über die Auflösung
des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«, in: Ders.: Vergangene
Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 31995, S. 38-66.
12
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
Fragen zu finden meint. Die Engführung von diachronem Vergleich
und der Suche nach Wiederholungen erscheint nur naheliegend, geht
es doch in beiden Fällen um Strukturanalogien, die Unterschiede um
ein Gemeinsames herum gruppieren lassen. Dieses Gemeinsame wird
dann nur zu schnell gefeiert oder verteufelt – je nach politischer oder
wissenschaftlicher Absicht. Ob die Wiederholung der Geschichte eine
Farce ist oder eine Renaissance, hängt nur mehr von der Fragerichtung, nicht von der Fragestellung ab. Dagegen ist und bleibt dem historistischen Paradigma zugute zu halten, dass es lange vor jeder Feier
des »ethnologischen Blicks« in den Kulturwissenschaften die Aufmerksamkeit lenkt auf die Vergangenheit als radikale Alterität der
Gegenwart. Diese bildet nicht mehr die beste aller Welten, aber man
sieht, dass es auch anders geht.
Bei diachronen Vergleichen steht also die historische Erzählung in
Frage, die diesen – explizit oder nicht – zugrunde gelegt wird. Neben
den bereits genannten Modellen der Epochenidentität und der Wiederholung ist es denkbar, mit der Annahme einer kontinuierlichen Tradition zu argumentieren, im Zuge derer Wandlungsprozesse zu berücksichtigen und aufzuweisen sind. Es ist sodann möglich, mit dem mehr
oder weniger linear angelegten Modell zunehmender Ausdifferenzierung und Reintegration zu operieren, das medienhistorische Ansätze
durchzieht.17 Oder es könnte schließlich erneut Foucault ins Spiel
kommen – diesmal der der Ordnung der Dinge –, d.h., es können epistemische Wechsel behauptet werden, also Zeitpunkte, an denen sich
Wissensformationen vollständig umstrukturieren. Nach Foucault vollziehen sich solche Transformationen spontan und ohne dass eine
Gesetzmäßigkeit aufgewiesen werden kann, die sie steuert.18 Er beschreibt episteme als Räume, in denen Wandel und Zeitlichkeit suspendiert zu sein scheinen.19 Illegitim werden diachrone Vergleiche im
Sinne dieses Modells nur dann, wenn die Grenze zwischen zwei epistemen überschritten wird. Die Nähe zur bereits angesprochenen historistischen Annahme der Epochenidentität ist augenfällig. Doch wie in
der geschichtswissenschaftlichen Praxis Epochengrenzen stets umstritten sind, werden auch epistemische Bruchstellen nicht einheitlich
bestimmt. Ob aber ein Vergleich legitim oder illegitim erscheint, hängt
letztlich davon ab, wo man die epistemische – oder medienhistorische
17. Vgl. z.B. Friedrich A. Kittler: »Geschichte der Kommunikationsmedien«,
in: Jörg Huber, Alois Martin Müller (Hg.): Interventionen 2. Raum und Verfahren,
Basel/Frankfurt am Main 1993, S. 169-188.
18. Vgl. Foucault: Ordnung (wie Anm. 5), S. 12ff.
19. So beschreibe die Diskursarchäologie »Systeme der Gleichzeitigkeit«.
Ebenda, S. 26.
13
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
– Grenze zieht. In der Ordnung der Dinge bietet Foucault für die abendländische Geschichte seit der Frühen Neuzeit ein dreischrittiges Modell
an: auf die episteme der Analogien folgt die des klassischen Zeitalters,
welche wiederum von der des Menschen abgelöst wird. Den Bruch zur
episteme des Menschen oder zur Moderne setzt Foucault um 1800 an,
Friedrich Kittler z.B. bestätigt diesen aus medienhistorischer Perspektive und argumentiert für einen weiteren um 1900, der mit der Entwicklung der technischen Medien Grammophon, Film und Schreibmaschine unmittelbar in Verbindung steht. Jonathan Crary wiederum
siedelt den Wechsel zur Moderne für die Ordnung des Sehens – insbesondere anhand der Entwicklung der Stereoskopie – in den dreißiger
Jahren des 19. Jahrhunderts an.20 Die für die letzten 200 Jahre behaupteten medienhistorischen Wechsel haben sich also in jüngerer
Zeit vermehrt. Dieser Befund konvergiert mit Foucaults Revision des
Begriffs der episteme in der Archäologie des Wissens. Wissensformationen werden hier nicht mehr wie Epochen durch klare Einschnitte voneinander getrennt, sondern nun als »Verflechtung von Kontinuitäten
und Diskontinuitäten« gedacht.21 Die Tendenz zur Diversifizierung
epistemischer und mediengeschichtlicher Wechsel stellt die konkrete
Arbeit am Material vor die Aufgabe, diejenigen Wandlungsprozesse
oder Brüche aufzuweisen, die für den jeweiligen Vergleich relevant
erscheinen.
Die knapp skizzierten Positionen der gegenwärtig in den Kulturwissenschaften weit verbreiteten diskurs- und mediengeschichtlichen
Ansätze können als Korrektiv dienen für Bestrebungen, das, was ähnlich erscheint, auch umgehend gleich machen zu wollen. Sie provozieren jedoch auch die Frage, was denn überhaupt noch vergleichbar oder
ähnlich sein könnte. Es mag sich, so wäre vielleicht zu entgegnen, um
eine literarische Figur, ein Bildmotiv, um eine Problemkonstellation
oder eine Denkfigur handeln. Aber lässt sich mit solchen überhistorischen und medienindifferenten Konzepten angesichts der skizzierten
Ansätze überhaupt noch arbeiten? Ist beispielsweise ein Bildmotiv, das
sich um 1800 findet und hundert Jahre später erneut auftaucht, dass
einmal malerisch festgehalten und später dann fotografiert wird, noch
dasselbe, da doch die dargestellten Sujets einander ähneln? Lassen die
hier angesprochenen Theoreme, die auf eine diskursive oder mediale
Steuerung des Sagbaren hin tendieren und diese zudem stark historisch ausdifferenzieren, derartige Ähnlichkeiten auf der repräsentationalen Ebene nicht fragwürdig erscheinen? – fragwürdig deshalb, weil
20. Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im
19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996.
21. Foucault: Archäologie (wie Anm. 10), S. 251.
14
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
Ähnlichkeiten von Repräsentation einen möglicherweise radikal differenten diskurs- und medienhistorischen Kontext verdecken, von dem
zudem nach Maßgabe der skizzierten Theorieansätze angenommen
werden kann, dass er, was dargestellt ist, allererst generiert hat.
Ist es aber nicht trotz oder gerade als Konsequenz dieser methodischen Schwierigkeiten möglich, wie die Mediävistin und Körperhistorikerin Caroline Walker Bynum vorgeschlagen hat, strukturell vergleichbare Problemkonstellationen zu analysieren und zugleich ihre
kontextspezifische Generierung zu berücksichtigen? Bynum gesteht
einem Problem die Möglichkeit zu, einen spezifischen Kontext zu
überdauern oder an verschiedenen historischen Orten hervorzutreten.22
Dabei sei im Blick zu behalten, wie eine derartige konstante oder wiederkehrende Problemkonstellation auf je unterschiedliche Weisen zu
kontextualisieren ist. Im Zuge des Vergleichs kann, so Bynum, nicht
lediglich die Identität eines Problems in unterschiedlichen historischen
Zusammenhängen konstatiert werden, sondern es können zudem die
Analogiebeziehungen herausgearbeitet werden zwischen den jeweiligen Ausprägungen einer Problemkonstellation und den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie stehen. Bynum sei hier als Beispiel für
den Versuch angeführt, den historisierenden Kontextbezug und die
Argumentation mit strukturellen Homologien zusammen zu denken.
Nur, so wäre weiter zu fragen, was sind überhaupt strukturell vergleichbare Problemkonstellationen, wie entstehen sie, durch welche
medialen und kulturellen Kanäle und Codes sind sie erst hervorgebracht worden?
Ein weiteres Theorieangebot, das durch die Beiträge dieses Bandes
vielfach aufgegriffen wird, ist Elisabeth Bronfens Vorschlag einer kulturwissenschaftlichen Praxis des cross-mapping. Dieser bezieht seine
Legitimation aus einer tief liegenden Sehnsucht, mit den Worten Stephen Greenblatts: dem »Wunsch, mit den Toten zu sprechen«.23
Bronfen definiert cross-mapping als das »Feststellen und Festhalten von
Ähnlichkeiten, die sich zwischen ästhetischen Werken ergeben, für die
22. Vgl. Caroline Walker Bynum: »Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin«, in: Historische Anthropologie 4 (1996), H.1,
S. 1-33, hierzu S. 28ff.
23. Stephen Greenblatt: »Die Zirkulation sozialer Energie«, in: Christoph
Conrad, Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge
zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 219-250, hier S. 219. Die Ausgabe des
Fischer-Verlags übersetzt Greenblatts fulminante Einleitung dagegen mit: »Es begann mit dem Wunsch, mit dem Toten zu sprechen.« (Hervorhebung H.L., J.-F.M.,
T.R.) (Greenblatt: Zirkulation [wie Anm. 3], S. 9). Vgl. Bronfen: Cross-Mapping
(wie Anm. 3).
15
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen im Sinne von explizit
thematisierten Einflüssen festgemacht werden können«.24 Die Motivation des Vorgehens besteht in eben der Sehnsucht, jene »kulturellen
Energien« festzustellen und festzuhalten, die seltsamerweise Shakespeare, Antoine Watteau und Elvis Presley nicht nur zu Zeugen einer
Vergangenheit, sondern zu Dialogpartnern der Gegenwart machen
können. Dies aber – und das scheint uns das Entscheidende zu sein –
gilt nicht nur für das Zirkulieren kultureller Energien zwischen einzelnen »ästhetischen Werken« und der Kulturwissenschaftlerin, sondern
vielmehr auch und gleichzeitig zwischen historischen Gegenständen
selbst. Kulturwissenschaftler werden so zu Radiopiraten, die sich in
den Funkverkehr zwischen historischen Artefakten und anderen Gegenständen einschalten, um dann diachron vergleichend gleichsam die
Frequenz zu notieren. Das Bild ist nicht zufällig gewählt. Aby Warburg
hat in seinem Mnemosyne-Projekt eine ganze Theorie des mnemischen Signalverkehrs ausgearbeitet, die nicht nur Künstler und Historiker analogisiert, sondern vor allem auch die Kopräsenz von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im diachronen Vergleich reflektiert.25
Künstler und Historiker empfangen Wellen »mnemischer Energie« –
fast der gleiche Begriff wie bei Greenblatt –, die die Brücke zwischen
Vergangenheit und Gegenwart bilden. Es kommt darauf an, diese
Energie zu empfangen, um sie dann schöpferisch, d.h. künstlerisch
wie historiografisch zu »entladen«. Diese Entladung wiederum ist
keineswegs eine analogische Repräsentation des Empfangenen, sondern stets eine »energetische Inversion«.26 Warburg beschreibt so
eine Kulturgeschichte ohne Einflussangst aus dem Geiste der Nachrichtentechnik und Energetik.27 Den Modellen Warburgs, Greenblatts
24. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 3), S. 111. Interessanterweise verbirgt sich nach Moritz Baßler hinter dem »Wunsch mit den Toten zu sprechen«
eben doch eine Suche nach »Intertextualität der Kultur« (Hervorhebung im Original). Vgl. Moritz Baßler: »New Historicism und Textualität der Kultur«, in: Musner, Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften (wie Anm. 3), S. 292-312, hier S. 298.
25. Vgl. Ulrich Raulff: »Der Teufelsmut der Juden. Warburg und Nietzsche
in der Transformatorenhalle«, in: Ders.: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003, S. 117-150.
26. Das entsprechende Zitat aus den Allgemeinen Ideen zum Mnemosyne-Atlas aus Warburgs Notizbuch von 1927: »Das antikische Dynamogramm wird in maximaler Spannung aber unpolarisiert in Bezug auf die passive oder aktive Energetik des nachfühlenden, nachsprechenden (erinnernden) überliefert. Erst der Kontakt mit der Zeit bewirkt die Polarisation. Diese kann zur radikalen Umkehr (Inversion) des echten antiken Sinnes führen.« Zitiert nach Ernst H. Gombrich: Aby
Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1981, S. 338.
16
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
und in gewisser Weise auch Bronfens liegt eine Vorstellung von Latenz
zugrunde. Cross-mapping achtet nach Bronfen auf »das Nachwirken
kultureller Gesten« und konstatiert Zusammenhänge, »die weder intendiert noch vorausgesagt, dafür aber immer angelegt waren«.28
Cross-mapping als Praxis des diachronen Vergleichens leistet also beides: Rekonstruktion der Gegenstände entweder qua Empfang mnemischer Energien oder qua detaillierter Quellenarbeit und energetische
Inversion qua Konstruktion latenter Bezüge. Latenz und Konstruktivität bilden dabei zwei Pole der Arbeit am diachronen Vergleich, die
eigentlich unvereinbar erscheinen. Was latent ist, muss nicht konstruiert, allenfalls mnemisch empfangen und energetisch inversiv »entladen« werden. Gleichwohl sind beide einer Theorie des cross-mapping
inhärent.
Dieser Widerspruch muss nicht aufgelöst werden, vielmehr kann
er fruchtbar gemacht werden für die vergleichende Praxis selbst. Dafür
allerdings muss der Fokus der Analyse leicht verschoben werden. Steht
bei Warburg, Greenblatt und auch Bronfen vor allem die Energie selbst
im Zentrum des Interesses, die die Gegenstände einander nahe rückte,
so liegt das klassische Interesse des Vergleichs in erster Linie entweder
in der individualisierenden wechselseitigen Erhellung der einzelnen
Vergleichsgegenstände oder in der generalisierenden Identifizierung
gemeinsamer Merkmale.29 Die Latenz der Verbindung zwischen zwei
Gegenständen des Vergleichs bewirkt, dass endlich keine Einflussfragen mehr diskutiert werden müssen und auch keine diskursive Metastruktur identifiziert zu werden braucht, sondern neue Fragen auftauchen, die beide Seiten bewusst aus dem diskursiven, medialen und
historischen Kontext rücken, sie offensiv fehllesen. Auf diese Weise
umgeht ein fehllesender Vergleich auch die Gefahr sowohl des Rückfalls in das Modell von historia magistra vitae als auch die Einschränkungen diskursiver und medialer Zentrierungen. Dagegen fragt der
fehllesende Vergleich weiterhin nach den Spezifika der einzelnen Gegenstände, nur auf eine neue Art und Weise, die aus den besonderen
Merkmalen des jeweils anderen Gegenstandes gewonnen wurde.
27. Zur Rolle der Medientechnologien in Warburgs Mnemosyne-Projekt vgl.
Ulrich Port: »›Transformatio energetica‹. Aby Warburgs Bild-Text-Analyse Mnemosyne«, in: Stefan Andriopoulos, Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 9-30.
28. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 3), S. 134.
29. Vgl. zusammenfassend Hartmut Kaelble: »Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer«, in: Ders., Jürgen Schriewer (Hg.): Vergleich und
Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main/New York 2003, S. 469-493.
17
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
Die vorliegenden Beiträge liefern Beispiele für solche bewussten
Entgrenzungen des Vergleichbaren. »Äpfel und Birnen« zu vergleichen
bildet daher nicht nur eine Provokation kulturwissenschaftlicher Praxis, sondern eröffnet auch die Chance, neue und veränderte Kartografien des Kulturellen zu entwerfen. Die Beiträge dieses Bandes sind
vorerst nur Inseln auf solchen neuartigen Karten. Ob sich noch ganze
Kontinente einzeichnen lassen, wird sich zeigen.
*
Die versammelten Aufsätze behandeln die hier umrissenen Fragen
und Probleme, die sich aus dem Vergleich von »Äpfeln und Birnen«
ergeben können, auf ihre je eigene Weise. Die Herausgeberin und die
Herausgeber haben die Texte zwei Gruppen zugeordnet. Im ersten Teil
des Buches, überschrieben Konfrontationen, Vergleiche, Verknüpfungen,
stellen Autorinnen und Autoren Verbindungen her, die sich auf den
ersten Blick nicht unmittelbar aufdrängen. Die Produktivität derartiger
Konfrontationen wird so erprobt, und Leserinnen und Leser bekommen die Möglichkeit, ungewohnte Blickwinkel auf bekannte Gegenstände einzunehmen. Im zweiten Abschnitt, Über vergleichende Verfahren, steht die Reflexion vergleichender Vorgehensweisen in den Kulturwissenschaften – und gelegentlich auch in anderen Diskursen – im
Vordergrund. Selbstverständlich nehmen, wie in den Aufsätzen des
ersten Teils, auch hier Autorinnen und Autoren selbst Verknüpfungen
vor, über deren Legitimität sich streiten ließe; und umgekehrt wird im
ersten Abschnitt nicht nur konfrontiert, verglichen und verknüpft,
sondern es werden darüber hinaus Betrachtungen über die in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen etablierten Praktiken des Vergleichens
angestellt. Die Ordnung des Bandes Äpfel und Birnen ist also weniger
trennscharf als die Aufschreibetechnik »Inhaltsverzeichnis« zu signalisieren scheint.
Elisabeth Bronfen eröffnet den Band und erläutert zentrale Thesen
zu dem von ihr eingeführten Begriff des cross-mapping. Sie stellt das
Verfahren der kontrastierenden Lektüre vor, indem sie das Motiv der
von den Gesetzen des Tages befreiten Nacht in Shakespeares A Midsummer Night’s Dream und Romeo and Juliet sowie in films noirs und
neo-noirs analysiert. Horst Wenzel zeigt in seinem Beitrag Verbindungen auf zwischen Initialen in der mittelalterlichen Buchkultur und
Icons auf den Benutzeroberflächen von Computern. Bei der Gegenüberstellung der Gestaltung wie der Funktionen dieser in einen Text
bzw. in ein Programm einführenden grafischen Elemente werden
Aspekte, die offenbar kontinuierlich tradiert worden sind, ebenso deut18
Einleitung: Illegitimes Vergleichen
lich, wie Differenzen, die sich aus medientechnischen Veränderungen
ergeben. Iulia-Karin Patrut nähert sich der Frage nach der Legitimität
von Vergleichen aus der Perspektive der Alteritätsforschung: Zunächst
beschreibt sie die Praxis des Erfassens und Klassifizierens von ethnischen Gruppen als illegitimes Vergleichen und untersucht dann zwei
Texte, die solche Taxonomien vornehmen bzw. thematisieren, aber in
verschiedenen historischen Zusammenhängen entstanden sind und
unterschiedlichen Textsorten zugehören. Unter dem Gattungsgrenzen
überschreitenden Begriff des tableau vivant bringt Alexandra Tacke in
ihrem Beitrag Goethes Wahlverwandtschaften mit den Performances der
Gegenwartskünstlerin Vanessa Beecroft zusammen. Bei beiden fragt
Tacke nach den spezifischen Techniken der Rahmung »lebender«
Bilder sowie nach ihrer Auflösung, nach dem Zerfall dieser ephemeren
Form von Bildlichkeit. Julia Köhne konfrontiert einen medizinischen
Dokumentar- und Lehrfilm über Kriegshysteriker aus der Zeit des
Ersten Weltkriegs mit einer Fernseh-Dokumentation von 2001, die
eine Schlacht der englischen Armee nachstellt. Köhne untersucht, wie
die Filmbilder jeweils auf die historischen Situationen bezogen sind,
die sie zum Thema haben, und welche Funktion für kollektive Imaginationen ihnen zukommt. Steffen Greschonig zeichnet Stationen der
diskursgeschichtlichen Entwicklung der Konzepte Lüge und Utopie
nach. An verschiedenen Schauplätzen arbeitet er heraus, inwiefern die
Rede von der anderen, besseren Welt als lügenhaft zu charakterisieren
ist. Aus kunsthistorischer Perspektive untersucht Silke Förschler Beziehungen zwischen Aktdarstellungen des 19. Jahrhunderts in den
Medien Malerei und Fotografie. Dabei wird nicht das oft beschriebene
»Pornografische« der frühen Aktfotografie sichtbar, sondern vor allem
ihre Orientierung an der Malerei. Markus Rautzenberg geht in seinem
Beitrag der Frage nach, wie in Folge der Verabschiedung von Vorstellungen der Präsenz in der an Derrida orientierten Semiotik ästhetische
Erfahrung gedacht werden kann. Eine zentrale Rolle für die medienphilosophische Verknüpfung von semiosis und aisthesis kommt, so
Rautzenberg, dem Begriff des Mediums im Allgemeinen und im Besonderen der Computertechnologie zu.
Im zweiten Teil des Bandes beschäftigt sich Tilo Renz mit Elisabeth Bronfens Verfahren des cross-mapping. Eine verdeckte, aber bei
Bronfen durchaus angelegte Verbindung zur Diskurstheorie Foucaults
wird genutzt, um das Lektüreverfahren zu problematisieren und seine
Erweiterung vorzuschlagen. Karsten Lichau untersucht, wie in den
Physiognomischen Fragmenten Johann Kaspar Lavaters und in physiognomischen Schriften aus der Zeit der Weimarer Republik auf je unterschiedliche Weise Verknüpfungen zwischen Text und Bild hergestellt werden. Die herausgearbeiteten Differenzen bezieht Lichau auf
19
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz
medienhistorische Veränderungen. Wiebke-Marie Stock zeichnet
Georges Didi-Hubermans Konfrontation von Lichtmetaphysik und
Fotografie in seinem Aufsatz Der Erfinder des Wortes »photographieren«
nach und erläutert, inwiefern Didi-Hubermans Vorgehen Einsichten
über den einen ebenso wie über den anderen Gegenstand erbringt.
Jörn Ahrens analysiert die jüngst vergangenen politischen Diskussionen um den Schutz frühembryonaler Lebensformen in Deutschland
und die darin in Anschlag gebrachten Vorstellungen vom Menschen.
Ahrens betont, dass die untersuchten Menschenbilder nicht nur
sprachlich entworfen werden, sondern auch mit Hilfe visueller Repräsentationen. Olive und Urkilo, grundlegende Gewichtsmaße in der
jüdischen respektive der modernen westlichen Kultur, dienen als Ausgangspunkt für Überlegungen, die Daniel Tyradellis abschließend zu
den Bedingungen und Möglichkeiten kulturwissenschaftlicher Vergleiche anstellt.
Hervorgegangen ist der Band Äpfel und Birnen aus der 3. Interkollegialen Arbeitstagung, die im Juni 2004 am Kulturwissenschaftlichen
Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand und für das
Graduiertenkolleg Codierung von Gewalt im medialen Wandel von den
Herausgebern konzipiert und organisiert wurde. Die Drucklegung des
Buches wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, der
wir an dieser Stelle für die Unterstützung danken. Die Herausgeber
sind außerdem einer Reihe von Personen zu Dank verpflichtet, ohne
deren Hilfe weder die Durchführung der Tagung noch die Realisierung
dieses Bandes möglich gewesen wäre. Namentlich nennen möchten
wir Elisabeth Wagner, Daniel Tyradellis und Claus-Michael Schlesinger
sowie Andreas Hüllinghorst und Gero Wierichs vom transcript-Verlag.
20
Konfrontationen, Vergleiche,
Verknüpfungen
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
Shakespeare in Hollywood:
Cross-mapping als Leseverfahren
Elisabeth Bronfen
Am Ende von John Hustons Maltese Falcon (1941) bemerkt der Polizist
Tom, nachdem er die femme fatale und ihre Verbündeten bereits festgenommen hat, die schwarze Statue, die auf dem Tisch in der Wohnung Sam Spades steht. Er nimmt sie in die Hand und fragt seinen
Freund, was das Ding, um das soviel Lärm gemacht worden war, denn
eigentlich sei. Dieser ist bereits zu ihm getreten und hat selber begonnen, den bleiernen Vogel – als wäre es eine Wunderlampe – mit seiner
linken Hand zu reiben. Dann antwortet Humphrey Bogart mit den
Worten von Shakespeares Prospero: »[T]he stuff dreams are made of.«
Verwundert blickt Tom ihm nach, während Sam Spade die Statue an
sich nimmt und seine Wohnung verlässt. John Huston ist nicht der
einzige Hollywood-Regisseur, der bei Shakespeare Bilder, Figuren und
Handlungen entlehnt, um Geschichten über Liebe, Verrat, Verbrechen
und Verderben zu erzählen, aber auch um das eigene Medium zu
reflektieren. Um der Fruchtbarkeit illegitimer Vergleiche für die Kulturwissenschaften nachzugehen, soll deshalb im Folgenden ein crossmapping des Nachlebens Shakespeares im Hollywood-Kino vorgeführt
werden, das sich an einer thematischen Koinzidenz festmacht.1 Im
Werk Shakespeares spielt das Durchwandern der Nacht als spezieller
Chronotopos, in dem Helden und Heldinnen besondere Erfahrungen
machen und Erkenntnisse gewinnen können, nicht nur wiederholt
eine zentrale Rolle. Brisant für die Frage des thematisch orientierten
1. Siehe Elisabeth Bronfen: »Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache«, in: Lutz Musner, Gotthart
Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002,
S. 110-136, sowie die »Einleitung«, in: Dies.: Liebestod und Femme fatale. Der
Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film, Frankfurt am Main
2004, S. 9-19.
23
Elisabeth Bronfen
Textvergleiches ist zudem der Umstand, dass Shakespeare zeitgleich
zwei Stücke geschrieben hat, in denen Liebende eine von Fantasien,
Begehren und Ängsten geprägte Nacht durchleben. So stellen A Midsummer Night’s Dream und Romeo and Juliet, als Textpaar betrachtet, die
komödienhafte und die tragische Seite der gleichen Medaille vor, behandeln sie doch ähnliche philosophische und ästhetische Erkenntnisse in Bezug auf ein Wissen und ein Leben, das nicht mit den Gesetzen
des Tages konform ist oder nur bedingt in diese Gesetze überführt
werden kann.
Als zweite thematische Koinzidenz ist der Umstand zu verstehen,
dass Shakespeares Werk im Sinne eines kulturellen Nachlebens medial
eine poetische Energie entwickelt hat, die von der Renaissance-Bühne
zum Hollywood-Mainstream führt: einerseits zur sophisticated comedy
der dreißiger Jahre, andererseits zum film noir, der mit John Hustons
Maltese Falcon einsetzt, jedoch nicht nur in den achtziger Jahren im
neo-noir eine Renaissance erfahren, sondern auch eine ShakespeareVerfilmung wie Baz Luhrmans Romeo and Juliet (1997) nachhaltig
geprägt hat. Bekanntlich hat Shakespeare immer wieder auf das Denkbild, die Welt sei ein Theater, zurückgegriffen: beispielsweise in der
Theateraufführung von Pyramus und Thisbe, die von den Handwerkern im Midsummer Night’s Dream geprobt und dann am Hof während
der Hochzeitsfeier aufgeführt wird. Ebenso verweist auch das Genrekino des Hollywood-Mainstreams in seiner Blütezeit wie in seiner PopRefiguration gerne darauf, dass es nur Träume herstellt. Für beide
passt Prosperos Diktum, mit dem er dem verwunderten Ferdinand im
4. Akt des Tempest die kuriosen Erscheinungen erklärt, die er auf der
Insel seit seiner Ankunft angetroffen hat: »These our actors […] were all
spirits, and are melted into air, into thin air; and like the baseless fabric
of this vision […] shall dissolve […] We are such stuff as dreams are
made on.« (4.1.148-157) Fällt am Ende eines jeden Stückes der Vorhang, löst sich am Ende jedes Films das Schattenspiel im Licht oder im
Dunkel auf. Um diese unbestimmte Leere, aus der alle Darstellungen,
Sprache und Bestimmungen entstehen, gegen die sie aber auch gerichtet sind und die sie deshalb unwillkürlich immer wieder einholen wird,
zu beschreiben, soll cross-mapping als vergleichendes Leseverfahren
ebenfalls vorgestellt werden.
Die Freude der Analogie
Wie erhalten kulturelle Gegenstände, Ausdrucksformen und Praktiken
ihre treibende Kraft, genauer: ihre Fähigkeit, über den historischen
Augenblick, aus dem sie entstanden sind, zu wirken und uns zu ergrei24
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
fen, man könnte auch sagen über die Zeiten und in verschiedenen
Medien sich zu entwickeln? Um diese kulturelle Überlebenskraft zu
beschreiben, hat der amerikanische Shakespeare-Forscher Stephen
Greenblatt den rhetorischen Begriff der energia als soziale und historische Kategorie wieder aufleben lassen. Für ihn steht dabei die Verschränkung einer zeitgenössischen Erfahrung von Affiziertheit mit
einer historischen Transaktion auf dem Spiel. Die ästhetische Kraft von
Stücken wie Romeo and Juliet oder A Midsummer Night’s Dream soll
nicht als direkte Entwicklung aus einer historischen Zeit in unsere
begriffen werden, da die soziokulturellen Umstände jedes dieser Stücke, aus denen es entstanden ist und die es repräsentierte, sich im
Verlauf der Jahrhunderte wesentlich verändert haben. Gleichzeitig
streichen diese Umschriften, die das Überleben eines ästhetischen
Werkes sicherstellen, die historische Vergangenheit auch nicht aus, als
wären wir in einer anhaltenden Gegenwart eingeschlossen. Greenblatts
Rückgriff auf den Begriff der energia besagt statt dessen: Die hartnäckig
sich immer wieder durchsetzende Kraft eines Shakespeare-Stückes ist
auf einen Prozess der Verhandlungen und des Austausches zurückzuführen, der bereits im ursprünglichen Entstehen eines Werkes (im
Falle Shakespeares die Renaissance-Bühne) bemerkbar war und dann
anschließend von den kulturellen Umschriften – den Aufführungen,
Übersetzungen und Zitaten dieses Werkes – entwickelt worden ist.
Vom Austausch sozialer Energien zu sprechen, bedeutet also, darauf
zu beharren, dass es zwar keine direkte, ungetrübt rekonstruierbare
Verbindung zwischen unserem zeitgenössischen Empfinden und den
früheren historischen Bedingungen, die ein Shakespeare-Stück geprägt
haben, gibt. Das Nachleben im Sinne einer kulturellen Umwandlung
des Stückes wird hingegen vornehmlich an der Konsequenz abgelesen,
mit der die in dem jeweiligen Text eingeschriebenen sozialen Energien
aufgegriffen und entwickelt werden. Diese energia kann, laut Greenblatt, nur indirekt als Wirkung festgestellt werden: An der Fähigkeit
bestimmter textueller Spuren, ein kollektives kulturelles Imaginäres
herzustellen, zu gestalten und zu organisieren. Die Frage, was denn an
sozialen Energien zirkuliere, beantwortet Greenblatt folgendermaßen:
»Macht, Charisma, sexuelle Erregung, kollektive Träume, Staunen,
Begehren, Angst, religiöse Ehrfurcht, zufällige, intensive Erlebnisse.«2
Man könnte auch sagen: Alles, was an Empfindungen und Vorstellungen von einer Gesellschaft erzeugt und von dieser repräsentiert wird.
Ausgehend vom Konzept der Umschrift als kultureller Kraft, die
2. Stephen Greenblatt: »Die Zirkulation sozialer Energie«, in: Ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt am Main 1993, S. 31.
25
Elisabeth Bronfen
die ästhetischen Werke den Tod ihrer Autoren und das Ableben der
Kultur, aus der sie entstammen, überleben lässt, soll im Folgenden ein
thematisch ausgerichteter Textvergleich durchgespielt werden, den ich
cross-mapping nenne. Dabei geht es mir um das Aufeinanderlagern
oder Kartografieren von Denkfiguren: in diesem konkreten Fall das
Eintreten und Durchwandern eines nächtlichen Raums als Chiffre für
die Erfahrung einer liebesbedingten Umnachtung, die zum fröhlichen
Entdecken eines bislang unerforschten Zustandes der Enthemmung
führen kann, aber auch zum erschreckenden Ausbruch rachsüchtiger
Gewalt und wechselseitiger Zerstörung. Von cross-mapping wird deshalb gesprochen, weil bei diesem Lektüreverfahren Ähnlichkeiten
zwischen den Shakespeare-Stücken und dem Hollywood-Kino aufgezeigt und festgehalten werden sollen, für die wenig eindeutige intertextuelle Beziehungen festgemacht werden können. Dabei geht es mir
sowohl um die Entwicklung, die sich durch die Bewegung von einer
historischen Zeit in eine andere ergibt, wie um die Bewegung von
einem medialen Diskurs in einen anderen. Cross-mapping als Leseverfahren entstammt dem analytischen Anliegen, ein modernes Nachleben bestimmter Denkfiguren wie der nächtlichen Liebesverwirrung im
Hollywood-Mainstream aufzuspüren. Bei diesem Suchen nach Analogien geht es jedoch weniger um die Frage, warum eine Denkfigur überlebt, sondern darum, welche Entwicklung diese Denkfigur in der Bewegung vom Medium des Theaters ins Medium des Kinos erfahren
hat: um die kulturellen Konsequenzen einer historischen und medialen
Umschrift.
Fordert ein auf Analogien basierendes cross-mapping den Interpretierenden heraus, eine Denkfigur wie das nächtliche Herumirren von
immer neuen Gesichtspunkten aus zu betrachten, muss gleichzeitig
festgehalten werden: Es geht immer auch darum, die Differenz auszuloten, die sich durch kulturelle Umschriften ergibt. Wenn im Folgenden Hollywood-Filme mit zwei Shakespeare-Stücken verglichen werden, dann deshalb, um der Frage nachzugehen, wie das Kino nicht nur
die energia früherer Denkfiguren aufgreift und diese neu entwickelt,
sondern auch, wie dabei eine entscheidende Differenz erzeugt wird.
Denn den Spuren Shakespeares in der sophisticated comedy und im film
noir nachzugehen, bedeutet auch, das Erbe der Geschichte ernst zu
nehmen. Jeder zeitgenössische Akt der Repräsentation ist unwillkürlich damit beschäftigt, sich mit den kulturellen Denkfiguren, die ihm
vorausgehen, auseinanderzusetzen, wenn auch in Form einer Refiguration. Wenn sich also ein später geschaffenes ästhetisches Gebilde
unweigerlich in ein früheres einschreibt – wie Baz Luhrman dies mit
seiner Verfilmung von Shakespeares Romeo and Juliet tut –, erweist
sich ein Erforschen der Analogien zwischen der Repräsentation der
26
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Refiguration als transhistorische Arbeit. Mieke Bal hat den Begriff »vornachträgliche Geschichte«
(»preposterous history«) geprägt, um einem auf illegitime Vergleiche
ausgerichteten kulturanalytischen Arbeiten die Historizität nicht zu
entziehen. Es geht ihr dabei weder darum, die Vergangenheit in der
Gegenwart verschwinden zu lassen, noch darum, die Vergangenheit zu
vergegenständlichen, um sie somit in den Griff zu bekommen. Vielmehr geht es ihr darum, sich in Form einer Umkehrung mit einer so
genannten »history today« auseinanderzusetzen: »This reversal, which
puts what came chronologically first (›pre-‹) as an aftereffect behind
(›post‹) its later recycling, is what I would like to call a preposterous history.«3
Umschlag von Tragödie in Komödie
Was zeichnet die Verwendung und Entwicklung jener energia aus, die
als nächtliche Liebesverwirrung bezeichnet werden kann, und welche
Konsequenzen lassen sich von den an ihr erprobten Umschriften ableiten? Romeo and Juliet und A Midsummer Night’s Dream, beide um 1595
geschrieben, spielen die rites de passage diverser Liebespaare durch, die
die strengen Verbote einer richtenden väterlichen Instanz überschreiten und vor ihr an nächtliche Schauplätze und somit auch in eine Liebesumnachtung fliehen. Jeweils ziehen die Liebenden den Traum ihrer
Vereinigung gegenüber einer Konvention, die diese verbieten würde,
vor. Demzufolge werten sie die Nacht gegenüber dem Tag auf, gewinnen dort Erkenntnisse, die in den Tag hinein wirken sollen. In beiden
Stücken stellt die Nacht als Schauplatz und als psychische Einstellung
der sie Bewohnenden somit einen Kommentar und eine Alternative
zum Tag dar. Das gewalttätige Treiben der jungen Montagues und
Capulets spiegelt den Hass, den ihre Eltern gegenseitig hegen, und
wendet diesen in einen Liebestod, dessen Konsequenzen auch keiner
der Überlebenden ausweichen kann. Das gewaltsame Herumirren der
Liebenden im nächtlichen Wald bestreitet das unnachsichtige väterliche Gesetz, das für ungehorsame Töchter nur das Kloster oder den Tod
vorsieht, und führt dazu, dass Hermias Anspruch, den Gatten selbst zu
wählen, anerkannt werden muss. Leicht lassen sich zudem die beiden
Stücke als tragische und komische Variation derselben Geschichte
lesen, da sich in beiden nicht nur auf Grund von Zufällen, die die Liebenden voneinander plötzlich trennen, die Wankelmütigkeit einer auf
3. Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History,
Chicago 1999, S. 7.
27
Elisabeth Bronfen
Verzauberung basierenden Liebe zeigt, sondern auch die Schnelligkeit,
mit der diese in Gewalt umschlagen kann.
Gerade weil die beiden Stücke sich gegenseitig spiegeln, muss
jedoch auch nach der unterschiedlichen Auflösung der in ihnen vollzogenen Nachtreisen gefragt werden. Warum können die Liebenden in
der Komödie die Stadt verlassen, in den Wald eintreten, der wie der
Schauplatz ihrer verborgenen oder verbotenen Liebesfantasien sie diese
erproben und stückweise auch abstreifen lässt? Warum hingegen ist es
den Liebenden in der Tragödie nicht möglich, Verona zu verlassen,
sondern sich nur immer mehr in den Strudel der Liebesverblendung
hineinziehen zu lassen, bis sich als einziger Ausweg der Liebestod
auftut? Warum können die Liebenden in A Midsummer Night’s Dream
am nächsten Morgen am Rand des Waldes von Hippolyta und Theseus
aufgeweckt werden und mit ihnen am Ende des nächsten Tages die
Hochzeitsnacht feiern, während Romeo und Juliet konsequent eine
ewige Nacht ansteuern, um bei Morgengrauen als Doppelleiche in der
Gruft ihrer Ahnen aufgefunden zu werden? Welche Haltung muss
man der Nacht gegenüber einnehmen, um aus ihr wieder austreten zu
können? Zu fragen ist somit nicht nur, wie es kommt, dass im Midsummer Night’s Dream die Katastrophe noch rechtzeitig abgebogen
werden kann, die in Romeo and Juliet bis zur fatalen Konsequenz ausgekostet wird? Man muss auch danach fragen, was Romeo and Juliet
mit seinem Beharren auf einer tödlichen Konsequenz der Liebesfantasien über das glückliche Ende in A Midsummer Night’s Dream aussagt?
Welche Erkenntnisse, die in der Nacht gewonnen wurden, lassen sich
in den Tag hinübertragen, und welche müssen wieder verdrängt werden?
Während Hermia und der ihr verbotene Lysander in A Midsummer
Night’s Dream die Einbildungskraft besitzen, Athen zu verlassen, weil
sie sich vorstellen können, an einem anderen Ort gemeinsam zu leben,
fehlt Romeo und Juliet diese Vision, werden sie doch bereits im Prolog
als »star-crossed lovers« (0.6) eingeführt, »whose misadventured
piteous overthrows doth with their death bury their parents’ strife«.
(0.7-8) Ihre Geschichte – »the fearful passage of their death-marked
love« (0.9) – kann sich nur in Richtung Tod entwickeln. Denn obgleich
ihre Liebe einen Raum außerhalb des täglichen Zwistes der Eltern zu
schaffen sucht und an diesem anderen nächtlichen Schauplatz Hass in
Liebe umschlagen kann, können die beiden Liebenden der »continuance of their parents’ rage« (0.10) nichts entgegen halten.4 In ihrer
Absage an alle irdischen Tage können sie diese nur konsequent zu
4. Alle Zitate entstammen dem von Stephen Greenblatt herausgegebenen
Norton Shakespeare, der auf der Oxford Edition basiert (New York 1997).
28
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
Ende führen. Der geheime Vollzug der Ehe, von dem Juliet auf ihrem
Balkon erwartungsvoll träumt, hat zur Folge, dass, um jene Liebe zu
erhalten, die nur an nächtlichen Schauplätzen auszuleben ist, die Braut
diese Nachtwelt nicht mehr verlassen kann. Sie vermag zwar, die Vorzeichen des Treibens ihrer Eltern zu wenden, aus deren Streitsucht
eine Liebeslust entstehen zu lassen, doch sie bleibt deren unnachgiebiger Haltung verhaftet: Hat sie sich Romeo im Liebesritual einmal
hingegeben, kann es nur noch ihre Nacht einer ungeteilten, ewig anhaltenden Liebe geben. Dass für diese Ausschließlichkeit der Tod der
Preis sein wird, ahnt sie im Voraus. Als Geschenk dafür, dass die
Nacht den Geliebten sicher zu ihr führt, verspricht Juliet, diese dürfe
Romeo, wenn er erst einmal gestorben ist, auch wieder zu sich nehmen. Als Vorahnung sowohl der erotischen Selbstverschwendung, die
sie sich von der Hochzeitsnacht verspricht, wie auch der tödlichen
Folgen, die diese Überschreitung des väterlichen Gesetzes mit sich
bringen wird, entwirft sie sprachlich ein Körperkunstwerk als Hommage an ihre nächtliche Liebe: »[C]ome, loving, black-browed night,
give me my Romeo, and when I shall die, take him and cut him out in
little stars, and he will make the face of heaven so fine that all the world
will be in love with night and pay no worship to the garish sun.«
(3.2.20-25)
In den darauf folgenden Tagen wird sich eine fatale Liebeslogik
entfalten. Weil Romeo und Juliet ihre transgressive Leidenschaft nur in
der Nacht auskosten dürfen, können sie nur nachts leben. Dabei lässt
sich weniger von einer Überflutung des Tages durch ein schicksalhaftes Liebesgesetz der Nacht sprechen als davon, dass das von Juliet verkörperte Licht, das Romeo eine Sonne der Nacht nennt, nicht in den
Tag hinüber getragen werden kann. Ist die Welt der Nacht eine, in der
Liebe aus Hass geboren und Träume verwirklicht werden, stellt der Tag
einen rigiden Zeitraum dar, in dem von der eingeschlagenen Bahn des
Streits nicht abgewichen werden kann. Zwar hofft der Bruder Lorenzo,
den Lauf der Geschehnisse umzukehren; zwar überbringt die Amme
erfolgreich Juliets Botschaft und ermöglicht so die geheime Hochzeit.
Doch hat die schillernde Beweglichkeit der Liebesnacht Romeos und
Juliets am Tag keinen Platz; deren spielerische Verwandlungskraft lässt
sich mit der grausamen Logik eines Bürgerkrieges nicht verbinden. So
kann es, weil sich der in der Nacht realisierte Traum der Liebe am Tag
nicht aufrecht erhalten lässt, nur zur radikalen Abspaltung der beiden
Welten kommen.
Unter der heißen Nachmittagssonne schlägt Liebe in Hass um,
wendet sich der nächtliche Traum der Versöhnung in die erschütternde Erkenntnis, dass es zwischen diesen beiden Häusern nur Streit
geben kann. Hier lebt Tybalt die Rache aus, die ihm nachts untersagt
29
Elisabeth Bronfen
wurde. Romeo versucht zwar, in den Zweikampf zwischen ihm und
Mercutio einzugreifen. Doch seine Einmischung verfestigt nur noch
die Front zwischen den beiden Häusern und verhilft Tybalt zur Gelegenheit, seinen Feind Mercutio zu erstechen. In der grellen Hitze des
Nachmittags muss Romeo einsehen: Das Verwandlungsspiel, das vor
dem Balkon Juliets aus Hass eine unüberwindbare Liebe werden ließ,
entpuppt sich im Licht des Tages als fatale Auflösung der Grenze zwischen Feind und Freund. Beide sind in der Todesökonomie des
schwarzen Schicksals, das tagsüber regiert, eingefangen; es gibt nichts
außerhalb des Streits. Für die Überlebenden hingegen bringt der Morgen nur einen »glooming peace« (5.3.304). Die Versöhnung, die auf das
schreckliche Erwachen der Eltern folgt, ist eine hoffnungslose. Im
kalten, grauen Licht des Morgens müssen die Eltern den Konsequenzen ihres Streits ins Auge sehen. Die goldene Statue, die die Doppelleiche der Kinder ersetzt, hebt den Streit der Eltern auf, indem sie diesen – weil sie an ihn erinnert – gleichzeitig auch festschreibt. Sie ist
auch die Antwort des grauen Tages und seines ernüchternden Gesetzes
auf das Körperkunstwerk, das Juliet sich für die Leiche Romeos ausgedacht hatte: als Hommage an ihre Liebe der Nacht, die das Licht der
grellen Sonne auf ewig überbieten sollte.
Nun könnte A Midsummer Night’s Dream ebenfalls mit dem Errichten einer Gedenkstatue enden, widersetzt sich doch Hermia wie Juliet
dem strengen Vater Egeus, der – weil sie laut des Athener Gesetzes
sein Eigentum ist – ihr befehlen kann, einen Mann zu heiraten, den sie
nicht liebt. Auch sie sucht Schutz in der Dunkelheit der Nacht, um mit
ihrem Geliebten Lysander zu dessen Tante zu gelangen, die außerhalb
der Gerichtsbarkeit des Athener Hofs wohnt. Auch diese Liebenden
werden durch Zufälle davon abgehalten, den Wald wie geplant zu
durchqueren und könnten, weil auch für sie Liebe in Streit umschlägt,
dort einem schicksalhaften Tod erliegen. Doch in der Komödie laufen
die Überschreitungen nicht auf die Versteinerung eines nächtlichen
Begehrens, das als radikale Alternative zum alltäglichen Streit der
Eltern entsteht, hinaus, sondern auf den Triumph jener Macht der
Transformation, die ebenfalls im Feenwald – als Gegenplatzierung zu
den Gesetzen der Vernunft und der Gehorsamkeit – zelebriert wird.
Auch hier erweist sich Liebe als Infektion des Auges – sagt Helena
doch »love looks not with the eyes, but with the mind« (1.1.234) –, der
Vorstellungen also, nicht der Sinne. Auch hier lässt die substanzlose
Einbildungskraft der Nachtwanderer verwirrende Träume Gestalt
annehmen, bis sie kurz vor Morgengrauen erschöpft ein Ende des
Spuks herbei sehnen. Doch in A Midsummer Night’s Dream garantieren
die Feen des Waldes einen reversiblen Lauf der Einbildungskraft. Zwar
bewirkt ihr Zauberspiel, dass Liebe in Hass und Gewalt umschlägt,
30
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
aber auch Streit in Begehren und Versöhnung. Dank ihrer Verwandlungsmacht sind im Wald die Liebesobjekte austauschbar, bleibt das
Begehren beweglich und somit nicht einer vorgezeichneten Bahn verhaftet. Zudem eröffnet der nächtliche Wald ein heterotopes Widerlager,
das den Liebenden nicht nur die Möglichkeit bietet, die Verbote des
Tages zu bestreiten und zu ihren Gunsten zu wenden. Die Erkenntnisse, die dort gewonnen werden, können – als bruchstückhafte Erinnerungsspuren – in den nächsten Tag hinüber getragen werden.
Im nächtlichen Wald werden Hermias schlimmste Fantasien des
Liebesleids Gestalt annehmen. An diesen Schauplatz folgt ihr nämlich
nicht nur die von Demetrius verschmähte Helena, die bereit ist, alles
für ihn zu opfern, sondern auch der abgelehnte Bräutigam selbst, dem
Hermias Nebenbuhlerin von den Fluchtplänen der anderen beiden
Liebenden erzählt hat. Im Verlauf dieser Nacht werden alle vier jungen
Athener willenlos einer von Robin gesteuerten Liebeskraft folgen und
sowohl die grausame Zufälligkeit der Liebeswahl erfahren wie auch die
barbarische Gewalt, die unter der Oberfläche der Zivilität lauert. An
einer Stelle meint Hermia in Demetrius den Mörder ihres Geliebten zu
erkennen, und bittet ihn, sie auch zu töten. Zwar wirft er ihr seinerseits vor, er wäre der Erschlagene und sie die nächtliche Täterin, doch
er bekennt sich auch zu seiner Grausamkeit. Lieber würde er den
Leichnam seines Rivalen seinen Hunden übergeben, erklärt er, als
Hermia ausliefern. Oberon greift zwar in Robins nightrule ein und
verzaubert nun selber Demetrius’ Augen, doch unter der Regie des
Nachtschwärmers, der sich gerade an den Verwirrungen des Begehrens
erfreut, herrscht im nächtlichen Wald eine Kontingenz der Liebesblicke. Am Höhepunkt der Austauschbarkeit von Liebesobjekten angelangt, sind alle miteinander zerstritten. Doch obgleich Liebe in Wut,
Anklage und Verleumdung umschlägt, verfallen die umnachteten
jungen Menschen nur einer fantasierten Ausübung von Gewalt. Im
Gegensatz zu Romeo, der Tybalt töten muss, obgleich er ihn als angeheirateten Vetter auch liebt, kann Lysander von Hermia sagen: »[W]hat,
should I hurt her, strike her, kill her dead? Although I hate her, I’ll not
harm her so.« (3.2.270f.) Ein zweites Mal greift Oberon in Robins
vergnüglich kontingente nightrule ein, um dessen Spiel entstellter Liebesformen wieder einer den Hierarchien des Tages anpassbaren Ordnung zu unterwerfen. Weil ihm daran liegt, dass die durch seinen
Zauber erschaffene Liebesordnung sich in den Tag hinüber tragen
lässt, findet die Entzauberung von Lysanders Augen kurz vor Morgengrauen statt. Zudem wünschen die Liebenden selber, anders als Romeo
und Juliet, den Tag herbei. Stellvertretend für alle ruft Helena schließlich nach einem Ende der Nacht: »O weary night, O long and tedious
night, abate thy hours.« (3.3.19f.) Die Grenze von dieser verzauberten
31
Elisabeth Bronfen
Nacht in den Tag kann nur im Zustand völliger Vergessenheit der
traumatischen Erkenntnisse, die in ihr gewonnen wurden, überschritten werden.
Liebesgewalt wird in der Komödie auf der Ebene der Traumgeschehen also durchaus ausgekostet, aber derart, dass diese nach dem
Aufwachen wieder vergessen werden kann. Im Morgengrauen lassen
Theseus und Hippolyta die Liebenden am Rand des Waldes aufwecken
und erbitten sich eine Erklärung dafür, warum die beiden Rivalen so
friedlich nebeneinander liegen. Halb schlafend, halb wachend bekundet Lysander: »I cannot truly say how I came here« (4.1.145), während
Demetrius gesteht, eine ihm unerklärliche Macht hätte seine Liebe zu
Hermia in eitle Erinnerung verwandelt. Am Ende dieser Nacht ist er,
der als einziger noch die Zaubertropfen Oberons auf den Augen hat, in
seiner Liebe zu Helena zurückgekehrt, mit der er, ehe er Hermia sah,
verlobt war. Die beiden jungen Frauen benennen ihrerseits den unheimlichen Beigeschmack ihres Erwachens. Hermia sieht alles »with
parted eye, when everything seems double« (4.1.186f.), und Helena
erkennt in dem wiedergefundenen Demetrius »a jewel, mine own and
not mine own« (4.1.188f.). Weil es ihnen – wie jedem sterblichen
Träumer – erlaubt ist, die bedrohlichsten Teile der in der Nacht erfahrenen psychischen Verletzungen mit dem Überschreiten der Grenze in
den Morgen auszublenden, bleiben den jungen Liebenden nach dem
Erwachen nur Erinnerungsfetzen der dunklen Nebenwirkungen ihrer
Liebe. Auf der Bühne des nächtlichen Waldes konnte der Hass als
Gegenstück zur Liebe benannt und durchlebt werden, ohne im Tod
enden zu müssen, weil die diesem Schauplatz und den an ihm entfachten Traumvisionen zugeschriebene Umwandlungsfähigkeit von Gefühlen aus dem Tag nie radikal ausgeschlossen war. So kann in diesen Tag
auch das traumatische Wissen um die Nachtseite der Liebe, vom Mantel des Vergessens beschützt, eingeführt werden und dort produktiv
nachwirken.
Shakespeares Nachleben
Diese Differenz, die sich beim Vergleich der thematischen Koinzidenz
der nightrule in beiden Stücken ergibt, leitet über zur Umschrift, die
Shakespeares Komödie in der sophisticated comedy erfährt. Stanley Cavell, der als erster den illegitimen Vergleich zwischen A Midsummer
Night’s Dream und George Cukors Philadelphia Story angestellt hat,
macht die Beziehung zwischen beiden Texten an der Frage eines Wissens fest, das nachts gewonnen, am Tag aber wieder vergessen werden
muss. Laut Cavell basieren beide Stücke auf der Idee, dass die öffentli32
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
che Welt des Tages ihre Konflikte nicht abgetrennt von Entschlüssen
lösen könne, die den privaten Kräften der Nacht zugeschrieben werden
müssen. Das Eintauchen in eine nachtgeweihte Welt führt zur Therapie der Ängste und Wünsche des Tages insofern, als am anderen
Schauplatz – dem nächtlichen Ort der Halluzinationen – etwas erinnert wird, durch das man zu einem Wissen erwacht. An die nächtliche
Reise ist aber auch der Umstand geknüpft, dass etwas vergessen wird,
was uns erlaubt, aus diesem traumartigen qua traumatischen Wissen
wieder aufzuwachen. Nicht an einem soliden Beweis für die Beziehung
zwischen Cukors Philadelphia Story und Shakespeares Komödie ist ihm
gelegen. Sein Erkenntnisinteresse beschreibt Cavell vielmehr folgendermaßen: »[D]iscovering, given the thought of this relation, what the
consequences of it might be. This is a matter not so much of assigning
significance to certain events of the drama as it is of isolating and relating the events for which significance needs to be assigned.«5
Ausschlaggebend ist die illegitime Analogie, die sich zwischen der
Feenkönigin Titania und der von Katherine Hepburn gespielten Tracy
Lord ergibt, die, wie ihr Nachname ankündigt, fürstlich die Villa ihrer
Eltern in einem reichen Vorort Philadelphias bewohnt und dort eine
zweite Ehe mit dem aus der Arbeiterschicht aufgestiegenen George
Kittered schließen möchte. Dabei wird sie am Tag vor der Hochzeit von
ihrem ersten Mann, C.K. Dexter Haven, von dem sie sich zwei Jahre
vorher hatte scheiden lassen, gestört. Der von einer früheren Alkoholsucht genesene Dexter, Cary Grant, übernimmt die Rolle des Oberon.
Um die Ehre dieser alteingesessenen Familie zu retten, hat er sich auf
eine Intrige eingelassen. Dem Chef der Klatschzeitung Spy verhilft er
zu einer Exklusiv-Reportage über die Hochzeitsvorbereitungen dieser
society bride, um zu verhindern, dass ein Bericht über die Liebschaft
zwischen Tracys Vater und einer Tänzerin öffentlich gemacht wird.
Dafür führt er den jungen Journalisten Mike Connor (James Stewart)
und die Fotografin Liz Imbrie (Ruth Hussey) im Haus der Lords ein
und übernimmt die Rolle des Regisseurs der Verwicklungen und
nächtlichen Verwirrungen der Sinne, die schlussendlich nicht nur das
Ansehen der Familie retten werden, sondern ihm auch eine Versöhnung mit der zerstrittenen Gemahlin beschert.
Dexter, der als Hochzeitsgeschenk ein Modell der Yacht True Love
mitgebracht hat, auf der er mit Tracy die Flitterwochen verbrachte, löst
am Swimmingpool einen Streit aus, der um die Deutung ihres Begehrens kreist. Zuerst entwirft er ein Bild der strengen Tracy, die für
Schwächen anderer, wie seine Alkoholsucht, kein Verständnis aufbrin5. Stanley Cavell: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge (Mass.) 1981, S. 144-145.
33
Elisabeth Bronfen
gen konnte, ein Vorurteil gegen jegliche Makel des Verhaltens hat und
ihn – in seinen Augen zumindest – auf die Rolle eines Hohen Priesters
im Tempel einer jungfräulichen Göttin festzulegen versuchte. Dann
wirft er ihr vor, sie könne erst eine erstklassige Frau (»firstclass human
being and firstclass woman«) sein, wenn sie von ihrem Hang zur göttlichen Perfektion abließe, um eine Achtung für menschliche Fehltritte
an den Tag treten zu lassen. Auch der Bräutigam George, der am Ende
ihres Streits zu ihnen gestoßen ist, nennt sie eine kühle, unnahbare
Königin, nur empfindet er ihre undurchdringliche Reinheit als eine
wunderbare Gabe und vergleicht sie mit einer Statue, die er bewundern
will. Tracys Erwiderung, sie wolle nicht bewundert, sondern geliebt
werden, versteht keiner der beiden Männer. In der darauf folgenden
Sequenz nehmen alle einen Cocktail zu sich, bevor sie auf das Fest
gehen, das zu Ehren der Braut von ihrem Onkel veranstaltet wird. Nur
Tracy bleibt eine Weile allein zurück. Auch ihr Vater hatte ihr eine
jungfräuliche Selbstgefälligkeit vorgeworfen und sie mit einer bronzenen Statue verglichen. Über die Beschuldigungen, die ihr so unerwartet am Vorabend ihrer Hochzeit entgegen gehalten wurden, verwirrt,
leert sie – die sonst nie trinkt – die Champagnergläser der anderen.
Wie der Blütensaft, den Robin auf die Augen der Liebenden träufelt,
verzaubert der Saft von Miss Pommery 1926 auch ihren Blick, nicht
jedoch – und darin liegt die entscheidende Differenz zu Shakespeares
Komödie – für das nächste Wesen, das sie trifft, sondern für die Art,
wie sie sich selbst als Frau wahrnimmt.
Auf dem Fest tanzt Tracy von einer plötzlichen Sinnesfreude entfacht bis tief in die Nacht. Weil kraft ihres Rausches die Anstandsformen des Tages an Wichtigkeit verloren haben und durch eine allgemeine Ausgelassenheit ersetzt wurden, verlässt sie im Streit den Bräutigam, der über diese Veränderung seiner Braut entsetzt ist, und fährt
mit dem ebenfalls berauschten Mike nach Hause. Enthemmt tanzen
sie zuerst im Mondlicht um einen kleinen Teich im Garten, gehen
dann aber bald zu einem Liebesstreit über, der den zwischen Dexter
und Tracy in neuem Licht erscheinen lässt. Verführerisch lächelnd
erklärt auch Mike, sie dürfe George nicht heiraten, während sie dies als
Ausdruck seines Vorurteils abzutun versucht. Nun ist sie jedoch nicht
mehr die unnahbare Frau, die vor den verbalen Angriffen sich in sich
selber zurückzieht, sondern sie setzt souverän ihre Gegenrede als
Verführungsgeste ein. Die von Cukor gewählte Beleuchtung lässt sie
glitzernd, hell und von einer inneren Leidenschaft erwärmt erscheinen,
während sie auf den jungen Schriftsteller die Beschuldigung der Gefühlskälte überträgt, die sie am Vortag zu hören bekommen hatte.
Aufgrund seines Standesdünkels nennt sie ihn einen intellektuellen
Snob und wiederholt, als wäre es ein Tagesrest, den sie in dieser
34
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
Nachtszene auf entstellte Weise abreagieren muss, was Dexter ihr
vorgeworfen hatte: dass man erst dann ein erstklassiger Mensch sein
könne, wenn man menschliche Fehlbarkeiten anzuerkennen bereit ist.
Doch im Gegensatz zu Dexter wendet Mike sich nicht in zorniger
Gekränktheit von ihr ab. Er unterbricht den Streit, indem er auf ihren
Vorwurf der Arroganz mit einer anderen Verblendung der Sinne –
dem Liebesrausch – antwortet. Auch er trägt ihr sein Bild von ihr vor,
doch schildert er damit die erhabene Herrlichkeit (»magnificence«), die
sie für ihn darstellt.
Cukor zeigt seine Heldin in einer Nahaufnahme, um hervorzuheben, wie anders sie diese Einschätzung ihrer Erscheinung aufnimmt
als die, mit der sie am Vortag am Pool konfrontiert wurde. Auf der
Bühne dieses nächtlichen Gartens erzeugt Mikes verzückte Sprachkunst Tracy als eine von innerem Feuer erleuchtete, prächtige Frauengestalt; als golden girl, das Leben, Wärme und Wonne ausstrahlt, während Cukor die künstlich beleuchtete Nachtszene einsetzt, um die
Schauspielerin Katherine Hepburn ebenfalls mit dem Zauber des
Glamourstars strahlen zu lassen. Nachdem er sie stürmisch geküsst
und sie mit gleicher Leidenschaft den Kuss erwidert hat, erklärt sie:
»We’re out of our minds.« Und er antwortet: »[R]ight into our hearts«,
bevor sie ihn – wie Titania ihren Zettel – nicht in ihre Liebeslaube,
dafür aber zum Swimming Pool führt. Von dort wird Mike eine fröhlich trunkene, singende Tracy, nur mit einem Bademantel bekleidet, in
seinen Armen zurück tragen und dort auf die beiden Männer stoßen,
die sie am Vortag noch in ganz anderem Licht sehen wollten.
Die Hochzeit, die am nächsten Tag stattfinden wird, ist davon
geprägt, wie das in der Enthemmung der Nacht enthüllte Begehren im
Licht des Tages anerkannt werden kann. Kurz nach Mittag betritt die
übernächtigte Tracy die sonnenüberflutete Veranda und hat scheinbar
die Ereignisse der Nacht tatsächlich vergessen. Den aus verschiedenen
Säften zusammen gemischten stinger, den Dexter ihr bringt, um – wie
das Gegengift Oberons – den Stachel des Alkohols zu entfernen, lehnt
sie ab und zeigt damit, dass sie im Gegensatz zu Shakespeares Titania
ihrem ersten Gemahl nicht erlaubt, ihrem nächtlichen Blick eine diesen kränkende Ernüchterung entgegenzuhalten. Mike, der mit seinem
Blick und seinen Worten ihr weiterhin versichert, sie könne an einer
Heirat mit George nicht festhalten, hat ihr bereits die Augen geöffnet.
In der vergangenen Nacht war ihr Esel nicht der als potenter Liebhaber
entstellte Handwerker (Zettel als George), sondern der junge Schriftsteller, der auch bei Tageslicht an erotischer Ausstrahlung nichts verloren hat. Vor allem aber will Cukors Königin den stinger nicht trinken,
damit der Zauber der Nacht, der sie von ihren strengen moralischen
Prinzipien hat abkommen lassen, weiterhin nachwirken kann.
35
Elisabeth Bronfen
Obwohl sie die Einzelheiten ihrer gemeinsamen Liebesverblendung nicht mehr weiß, und somit für ihr Verhalten keine Erklärung
hat, ist Tracy die Selbsterkenntnis, die sie im nächtlichen Garten gewonnen hat, nicht verloren gegangen. Sie will den Fehltritt gerade
nicht vergessen, sondern die in der nächtlichen Verzauberung gewonnene Menschlichkeit auch den anderen beiden Männern vorführen. Da
diese verwandelte Tracy seinem Bild der gesellschaftsfähigen Königin
nicht mehr entspricht, ist der soziale Aufsteiger George nicht bereit,
ihr zu verzeihen. Sie selbst aber ist es, die mit ihrer Entscheidung,
auch in Zukunft nicht auf einen ungehemmten Ausbruch ihrer Lust zu
verzichten, die Verlobung abbricht. Wenn Dexter hingegen die von
Tracy in der Nacht gewonnene Schwäche in Liebe anerkennt, dann
deshalb, weil sie nach der Erkenntnis, die sie in der Nacht gewonnen
hat, bereit ist, ihre Fehlbarkeit von ihm anerkennen zu lassen. Aufgrund der Zauberkraft von Miss Pommery 1926 hat sie sich selber als
vermenschlichte Göttin neu geschaffen und kann die Rettung, die ihr
erster Gatte ihr als Versöhnung anbietet, auch annehmen: nicht als
Zeichen, dass sie – wie Titania ihrem Oberon – nun unterlegen ist,
sondern als Garant der Parität ihres neuen Ehegelübdes.
Vor den versammelten Gästen beginnen die Musiker mit dem
Hochzeitsmarsch. Mike, sich seiner Verantwortung bewusst, bietet
Tracy die Heirat an, doch obwohl sie ihm versichert, sie sei ihm in
Dankbarkeit verbunden, erkennt sie auch, dass die ausgelassene Begeisterung, die sie in der Nacht für einander entdeckt haben, keine
Basis für eine Ehe ist. Wie Titania weiß sie von der erotischen Enthemmung, die sie nachts erfahren hat – und nur nachts erfahren
konnte –, und kann dieses Wissen in den Tag hinübertragen. Im Gegensatz zu Shakespeares Königin bedeutet dies aber keine Unterwerfung unter die Deutungshoheit ihres wieder gewonnenen Gatten.
Stattdessen verkörpert sie auch mitten am Tag, was zuerst nur Mike im
nächtlichen Garten sehen und benennen konnte: eine erhabene weibliche Pracht.
Auch der film noir setzt die Frage des Erwachens aus einer nächtlichen Verstrickung von Liebe und Gewalt gerne ins Zentrum seiner
Geschichten, wobei mal das glückliche Vergessen, das eine Rückkehr
in den Tag erlaubt, sich durchsetzen kann, mal jene in Romeo and Juliet
durchgespielte radikale Trennung von Tag und Nacht, die nur ein Erwachen im Tod erlaubt. In Charles Vidors Gilda (1946) lässt sich die
dunkle Welt krimineller Intrigen wie eine Refiguration des nächtlichen
Zauberwaldes lesen, in dem die Liebenden zuerst die Gewalt ihrer
Leidenschaft auskosten dürfen, bevor sie dann erwacht miteinander
einen neuen Tag beginnen können. Gerade die von Rita Hayworth
gespielte femme fatale bietet zudem eine Rückführung zu Shakespeares
36
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
Titania, wird sie doch in der berüchtigten Striptease-Szene, in der sie
einzig einen seidenen Handschuh auszieht, von ihrem ersten Gatten
Johnny Farrell (Glenn Ford) öffentlich gedemütigt. Nur erweist er sich
am Ende auch als der Esel, mit dem eine Ehe jenseits von Verblendungen und gegenseitigen Verletzungen einzugehen möglich erscheint,
weil für beide mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Zauber der
argentinischen Night-Club-Szene erloschen ist. In der Abschlusssequenz von Jean Negulescos Road House (1948) finden wir hingegen
zwei Paare, die wie Shakespeares Liebende durch eine Nachtlandschaft
irren, von der Angst, der Gewalt, aber auch der Hoffnung, die die romantische Verblendung bei ihnen ausgelöst hat, voran getrieben. Wie
Lysander und Hermia versucht das eine Paar, sich gemeinsam zu
retten, während die von ihnen verlassene Susie (Celeste Holm) ihnen
folgt. Wie Helena ist sie von Pete (Cornel Wilde) wegen Lily (Ida Lupino) als Geliebte verlassen worden. Ihnen jagt der psychotische Roadhouse-Besitzer Jefty (Richard Widmark) hinterher, um das Liebespaar
für ihren Betrug und Fluchtversuch zu bestrafen. Der illegitime Vergleich mit A Midsummer Night’s Dream, der sich allein auf diese Abschlusssequenz bezieht, ist deshalb fruchtbar, weil der Film dramaturgisch visualisiert, was im Shakespeare-Stück nur sprachlich ausgeführt
wird – die Gewalt als Triebkraft der Liebe. Jefty wird tatsächlich versuchen, seinen Rivalen wie einen entlaufenen Hund zu töten, während
Lily ihn erschießen muss, um mit ihren beiden Freunden in die Morgendämmerung zu gehen.
Andere Filme des noir-Genres übernehmen von Shakespeares
Tragödie den uneingeschränkten Todesgenuss, der die Liebe aller
modernen »star-crossed lovers« ausmacht. Weil Jo (Sylvia Sidney) ihre
Liebe für den ausgebrochenen Sträfling Eddie (Henry Fonda) gegen
alle Vernunftgesetze des Tages aufrecht hält, versucht sie in You only
live once (1937), mit ihm zu fliehen. Kurz vor der Grenze nach Kanada
müssen sie wegen einer Polizeisperre ihr Auto verlassen und werden,
wenige Meter bevor sie in Sicherheit wären, erschossen. Mit seinem
Abschlussbild erinnert Fritz Lang an die Umarmung von Romeo und
Juliet, trägt Eddie doch die bereits tödlich getroffene Jo noch einige
Schritte in seinen Armen, bevor er selbst zusammenbricht. Die Doppelleiche als Chiffre für schicksalhafte Verstrickungen, die ein Vergessen der Gewaltlust und somit einen Gang in den Tag unmöglich machen, bildet auch in Joseph H. Lewis’ Gun crazy (1949) das Abschlussbild eines traurigen Morgens. Die beiden Bankräuber Annie (Peggy
Cummins) und Bart (John Dall) haben die Nacht im Schilf verbracht
und warten dort bei Anbruch des Tages auf die Polizei. Noch einmal
gesteht Bart ihr seine bedingungslose Liebe, bevor er Annie – im Gegensatz zu Shakespeares tragischem Held – selber den Tod gibt. Wie37
Elisabeth Bronfen
der erlaubt der illegitime Vergleich, im film noir die logische Konsequenz einer Liebe zu entdecken, die die beiden jungen Menschen radikal vom Überleben im Tag abgeschnitten hat. Bart erschießt seine
Geliebte vordergründig, weil er befürchten muss, dass ihre Lust am
Schießen seinen Schulfreund, der ihnen ins Schilf folgt, das Leben
kosten wird. Dass Bart seine Geliebte mit seiner Kugel trifft, er selber
aber von der seines Freundes getroffen wird, treibt das Spiel jener
verhängnisvollen Verstrickung auf die Spitze, die in Romeo and Juliet
Figuren des Dritten – Tybalt und Mercutio – als Störer der nächtlichen
Liebe eingesetzt hatte. In der nebligen Landschaft dieses grauen Morgens verschränkt die Doppelleiche den nächtlichen Liebestod mit der
Gewalt bei hellem Tageslicht, die in Shakespeares Tragödie getrennt
und zugleich verdeckt waren.
Gerade jene energia einer schicksalhaften Liebe als Triebkraft der
Gewalt, die der film noir dem Werk Shakespeares entlehnt, hat Baz
Luhrman in seiner Verfilmung von Romeo and Juliet als dramaturgisches Prinzip aufgegriffen. Wiederholt hat der australische Regisseur
betont, dass es ihm bei seiner Inszenierung darum ging, den Geist der
Vergangenheit mit dem Zeitgeist auf illegitime Art in Analogie zu setzen. So versetzt er Shakespeares Bürgerkrieg zweier Häuser, »both
alike in dignity« (0.1), in die gang wars der postmodernen amerikanischen Großstadt, vergleicht aber gerade in einer Szene, die dramaturgisch ausschmückt, was im Shakespeare-Text nur sprachlich angedeutet werden kann, seine Interpretation mit jenem Filmgenre, das nach
dem Zweiten Weltkrieg den Denkfiguren Shakespeares zu einem
brisanten Nachleben in Hollywood verholfen hat. Am Ende des vierten
Aktes läuft Romeo gegen die Zeit, hat ihn der Brief des Paters, der ihm
vom Scheintod Juliets berichtet, doch nicht rechtzeitig erreicht. So
glaubt er, die aufgebahrte Geliebte sei wirklich tot, besorgt sich vom
Apotheker Gift und eilt zur Gruft ihrer Ahnen, wo er zuerst den Nebenbuhler Paris und dann sich selber tötet. Um hervorzuheben, dass
die stürmische Gewaltlust des tragischen Helden, die ihn vor allen
Gesetzen in die Ausschließlichkeit seiner Liebe fliehen lässt, jenes
Umschlagen in die Komödie vereitelt, das der Pater sich vorgestellt hat,
lässt Luhrman Leonardo DiCaprio wie viele junge Gangster der noirWelt mit seiner Waffe in der Hand durch die Nacht laufen, blind um
sich schießend, bis er in der Dunkelheit der Kirche bei seiner Geliebten
angekommen ist. Romeo realisiert mit dieser Geste jenen Ausnahmezustand, von dem Juliet auf ihrem Balkon träumte. Baz Luhrman lässt
ihn in eine von Kerzen beleuchtete Traumwelt des Liebestodes eintreten, die kein anderes Licht braucht außer der Helligkeit, die die beiden
Liebenden sich gegenseitig spenden. Die Pop-Geste seiner Inszenierung, die aus dem Off Wagners Liebestod-Motiv erklingen lässt, zeigt
38
Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren
aber auch – Luhrmans Romeo tritt nicht nur in eine Welt jenseits der
alltäglichen Gesetze der Vernunft ein, sondern auch in eine des Zitats
– the stuff that dreams are made on. Im illegitimen Vergleich löst Baz
Luhrmans Filmbild den Shakespeare-Text nicht nur ein, es löst sich in
diesem auch auf.
39
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
Initialen in der Manuskriptkultur
und im digitalen Medium
Horst Wenzel
1.
Man soll »Äpfel und Birnen« nicht vergleichen, lautet eines der geflügelten Worte, das zum deutschen »Volksvermögen« zählt. Die Aussage
dieser Redewendung verweist darauf, dass man sich von vermeintlichen Ähnlichkeiten nicht dazu verleiten lassen solle, unterschiedliche
Dinge zusammenzuwerfen: Äpfel und Birnen wachsen in denselben
Gärten, liegen in derselben Obstschale, werden gleichermaßen geschnitten und geschält, haben also zahlreiche Gemeinsamkeiten. Aber
der sprichwörtlichen Warnung nach sind diese Übereinstimmungen
ebenso äußerlich wie in dem parallelen Sprichwort aus dem Spanischen, das sich auf Orangen und Melonen bezieht: no comparar naranjas con melones. Tatsächlich gehören Orangen und Melonen unterschiedlichen Spezies an und lassen sich ebensowenig kreuzen wie
Äpfel und Birnen.
»Unzulässige« Vergleiche provozieren das »gesicherte« Vorverständnis darüber, was sinnvoll, angemessen und erfolgversprechend
scheint. Sie bieten aber auch die Chance für überraschende Einsichten
und übersehene Zusammenhänge. Wer im Brustton der Überzeugung
äußert, Äpfel und Birnen solle man nicht vergleichen, beruft sich auf
ein verbreitetes Vorurteil. Wer sich damit nicht begnügt, wer Wissenschaft und »Volksvermögen« neugierig kombiniert, entdeckt, dass
unser Sprichwort die Vorgeschichte beider Früchte ignoriert oder vergessen hat: Die sichtbare Differenz verbirgt, dass sich aus den Blüten
beider Sorten die Fruchtblätter zu einem pergamenthäutigen Balg als
Teil des Kerngehäuses entwickeln. Äpfel wie Birnen gehören gleichermaßen zur Familie der Rosengewächse und darin wieder zur Gruppe
der Kernobstgewächse. Sie sind deshalb genetisch verwandt, wiewohl
dieses Wissen sprichwörtlich überdeckt ist.
41
Horst Wenzel
Ähnlich überraschend sind vergessene historische oder aktuelle
systematische Bezüge, die uns über den Abstand von Zeit und Raum in
dem Sinne affizieren, wie es Elisabeth Bronfen mit dem Begriff des
cross-mapping beschreibt, den sie im Rückgriff auf Greenblatt (social
energy) aus dem rhetorischen Begriff der energeia entwickelt: »Ausgehend vom Konzept der Umschrift als kultureller Kraft, die die ästhetischen Werke den Tod ihrer Autoren und das Ableben der Kulturen, aus
der sie entstammen, überleben läßt«, schlägt sie ein Interpretationsverfahren vor, das Ähnlichkeiten zwischen ästhetischen Werken aufzeigt
und festhält, »für die keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen im
Sinne eines explizit thematisierten Einflusses festgemacht werden
können. Dabei geht es auch um die Transformation, die sich durch die
Bewegung von einer historischen Zeit in eine andere ergibt, und ebenso auch um die Bewegung von einem medialen Diskurs in einen anderen.«1
Mit einem solchen Zugriff wird es möglich, auf kulturelle Kräfte zu
verweisen, die offensichtlich weit Entferntes und einander Fremdes
miteinander verbinden. So kann man auf den Spuren der Erinnerung,
die sich weitgehend unbewusst auf digitalen Oberflächen eingeschrieben haben, auch die Arbeitsfläche eines Computers mit dem Layout
einer Pergamentseite vergleichen. Damit sind im engeren Sinne die
ästhetischen Formen gemeint, mit denen einerseits die mittelalterlichen Miniaturenmaler und Schreiber ihre Handschriften eröffnet
haben und andererseits die Computergrafiker digitale Icons gestalten,
die als Schalter für die Initialisierung von Funktionen oder die Öffnung von Programmen auf den Desktops unserer PCs zu sehen sind.
Die grundsätzliche Differenz der beiden Medien, die selbstreferentiell auf die jeweils eigene, sehr spezifische Materialität verweisen können, markiert zum einen das Icon »Arbeitsplatz« mit Bildschirm,
Rechner und Initialisierungspfeil (Abb. 1), demonstriert zum anderen
eine O-Initiale des 13. Jahrhunderts (Abb. 2), die uns die Übergabe
eines leeren Pergaments an einen Mönch vor Augen stellt.
1. Elisabeth Bronfen: »Cross-Mapping und der Austausch sozialer Energien«,
in: Dies.: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen
Oper, Literatur und Film, Frankfurt am Main 2004, S. 9-19, hier S. 10f. Vgl. Barbara Maria Stafford: Visual Analogy. Consciousness as the Art of Connecting, Cambridge (Mass.) 1999.
42
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
Abbildung 1: Icon: Arbeitsfläche
Bildschirm
Abbildung 2: Initiale: Arbeitsfläche
Pergament
2.
Ob das Wagnis, Initialen in mittelalterlichen Pergamenthandschriften
mit initialisierenden Icons auf digitalen Oberflächen miteinander zu
vergleichen, sehr unterschiedliche Zeugnisse alter und neuer Medien
also, zulässig ist oder nicht, kann nur ein solcher Vergleich selbst beantworten, faszinierend ist er allzumal. Tatsächlich ist zu fragen, ob die
ästhetische Kraft der Initialen, die uns in historischen Quellen und
Reproduktionen auch heute noch begegnen (Abb. 3), die Gestaltungskraft der technischen Designer nicht tatsächlich stimuliert hat (Abb. 4),
ohne dass dies programmatisch formuliert wurde. Zugleich geht es mir
darum, nach der Bewegung von einem medialen Diskurs in einen
anderen zu fragen2, ohne teleologische Modelle zu bemühen, aber
auch die These von der Null-Punkt-Situation der neuen Medien zu
relativieren3, die eine Vergleichbarkeit der digitalen Medien mit allen
älteren Medien ablehnt.
2. Horst Wenzel: »The Logos in the Press: Christ in the Wine-Press and the
Discovery of Printing«, in: Ders., Kathryn Starkey (Hg.): Visual Culture and the
German Middle Ages, New York 2005, S. 223-249; Ders.: »Die Ausbreitung des logos
als Handwerk. Handschrift, Kelter, Hostienmühle«, in: Barbara Naumann, Edgar
Pankow (Hg.): Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation, München 2004,
S. 45-65.
3. Wolfgang Ernst: »›Medien‹ im Mittelalter? Kulturtechnische Retrospektive«, in: Hans Werner Goetz, Jörg Jarnut (Hg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert.
Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, S. 347-357.
43
Horst Wenzel
Abbildung 3: Initialen:
Musterbuch (A bis F)
Abbildung 4: Icons: Desktop
3.
Die Initiale geht zurück auf vorchristliche Ursprünge, erfährt aber erst
im Christentum ihren eigentlichen Aufschwung. So heißt es bei Pächt:
»Das Verdienst der Erfindung der Initiale darf noch das Altertum in
Anspruch nehmen, ein fruchtbares Thema der Gestaltung wurde sie
erst für die künstlerische Fantasie des Mittelalters.«4 Mittelalterliche
Initialen eröffnen einen Text, sie bieten anspruchsvolle Merkbilder
oder sie vergegenwärtigen mehr oder weniger große Teilaspekte einer
schriftlich ausgeführten Argumentation. Sie markieren Überordnungen und Unterordnungen, bilden Kryptogramme und Intexte.
Seit den Anfängen der irischen Buchmalerei sind die Initialen
erfüllt von Pflanzen- und Tiersymbolen, die durch die Form der Schrift
gefasst und gebändigt werden. Das »grafische« Problem bestand of4. Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters, München 1985, S. 45. Zur
Initiale vgl. weiter Willibald Sauerländer: Initialen. Ein Versuch über das verwirrte
Verhältnis von Schrift und Bild im Mittelalter, Wolfenbüttel 1994; Christine Jakobi-Mirwald: Text – Buchstabe – Bild. Studien zur historischen Initiale im 8. und 9.
Jahrhundert, Berlin 1998; Laura Kendrick: Animating the letter. The figurative
embodiment of writing from late Antiquity to the Renaissance, Columbia 1999;
Ulrich Rehm: »Der Körper der Stimme. Überlegungen zur historisierten Initiale
karolingischer Zeit«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 4 (2002), S. 441-459.
44
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
fenbar darin, die Unmittelbarkeit sensorischer Erfahrung in die Schrift
zu übertragen, gleichzeitig aber auch, das Organische/Vegetative in der
strengen Gestalt der Schrift aufzuheben und zu binden. In den volkssprachigen Handschriften des hohen Mittelalters tritt dieses Moment
zurück, die Verbindung von Buchstaben mit Tier- und Pflanzenornamenten bleibt jedoch ein wiederkehrendes Motiv. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist das dreifach gegliederte Seitenlayout einer
Valerius-Maximus-Auslegung des Heinrich von Mügeln (um 1470-80).
Der dominierenden Zierinitiale S, goldfarben, auf blauem Grund, mit
weißem Filigran und farbigen Blattrankenausläufern, sind eine blaue
Q-Initiale und eine rote I-Initiale subordiniert, die jeweils eigene Textabschnitte eröffnen (Abb. 5). Die unterschiedliche Größe und Ausstattung der mehr oder weniger ornamentalen Initialen und die zusätzliche Verwendung wechselnder Farben für Kapitelüberschriften und
Unterstreichungen ermöglichen eine Hierarchisierung und Separierung von Argumenten, die auf den ersten Blick erfassbar ist.
Abbildung 5: Initialen: Seitengliederung
45
Horst Wenzel
Das eindrucksvolle Verfahren, den jeweiligen Volltext durch Initialen
in Abschnitte zu gliedern, die auf Lese- oder Vortragseinheiten verweisen, und diese Einheiten durch den Wechsel von größeren und kleineren Initialen weiter zu untergliedern, findet sich in vielen lateinischen
und volkssprachigen Handschriften. Von diesen Binneninitialen mit
Gliederungsfunktion setzen sich die bildgesättigten, »erzählenden«
Initialen deutlich ab, die als Eingangsportale am Anfang einer Handschrift stehen. Weil die offenbarten Worte und die offenbarte Schöpfung aufeinander verweisen, nimmt die Form der Initiale die Form der
Dinge und der Menschen in sich auf. Der Fleischwerdung des Wortes
(Inkarnation) entspricht die Schriftwerdung des Fleisches (Exkarnation).
Ein Beispiel dafür ist die I-Initiale aus der Zainerbibel von 1475/76
(Abb. 6), die den biblischen Schöpfungsbericht eröffnet: »In dem anfang beschuoff got hymel vnnd die erd«. Mit dem ersten Buchstaben ist
die Schöpfung bereits ganz präsent: Das in den Schaft des I eingelassene Medaillon zeigt nicht nur Sonne, Mond und Sterne, den hellen
und den dunklen Himmel, verschiedene Pflanzen und Tiere, sondern
auch Adam und Eva im Paradies und die Silhouette einer Stadt im
Hintergrund.
Abbildung 6: I-Initiale: In dem anfang
Die Darstellung der Schöpfung scheint sich fortzusetzen in Autorenbildern, in denen auf die Verlebendigung des Wortes aus der Schrift
verwiesen wird: »Am Anfang war das Wort […] Und das Wort ward
Fleisch und wohnte unter uns« (Johannes, 1ff.). In der D-Initiale eines
Ezechiel-Kommentars, der im späten 12. Jahrhundert für die Abtei St.
46
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
Alban gefertigt wurde, ist der Verfasser des Kommentars, Gregor der
Große, mit einem Codex in der linken Armbeuge zu sehen, während
aus der rechten Hand des Autors ein schlauchartiger Sporn entspringt,
der wie bei einer Sprechblase in den geschriebenen Text hineinführt.
Die Geste des Sprechers erweitert sich als Ausstülpung der Hand in
den Schriftraum des Pergamentes. Dieser Sporn hat zugleich die Funktion eines Zeigers, der in den Text einweist, aber demjenigen, der die
Seite aufschlägt, auch vergegenwärtigt, dass die stillgestellte Schrift in
der Lektüre wieder zur Stimme werden soll. Das Pergament als Träger
der exkorporierten Rede verbindet sich mit der Repräsentation des
Sprechers in seinem Bild.5
Abbildung 7: D-Initiale: Zeiger
Wenn es die Absicht der Schrift ist, »die zweidimensionalen Bilder in
eindimensionale Zeichen umzukodieren, sie einer aufzählenden (erzählenden) Kritik zu unterwerfen«6, ist es die Absicht der Initiale, den
Abstand zu verringern, zweidimensionale Bilder in der Reihung eindimensionaler Zeichen zu etablieren und damit nicht nur auf das Hören, sondern zugleich auf das Sehen zu rekurrieren. So erkennt auch
Otto Pächt die Kunst des mittelalterlichen Buchmalers gerade in die5. Vgl. Walter Cahn: Studies in Medieval Art and Interpretation, London
2000, S. 116.
6. Vilém Flusser: »Eine neue Einbildungskraft«, in: Volker Bohn (Hg.):
Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1990, S. 115126, hier S. 119.
47
Horst Wenzel
sem Transponieren des einen in das andere7, des Buchstabens in ein
Bild und der Figur in einen Buchstaben. Grundsätzlich sträubt sich das
Bild gegen die Linearität der Schrift, die Linearität der Schrift gegen die
Auflösung ins Bild. Die Initiale aber ist Eikon und Schriftzeichen zugleich und macht es dadurch möglich, die Linearität der Schrift sowohl
zu bewahren als auch aufzuheben. Sie vergegenwärtigt simultan und
augenblicklich, besonders häufig in sakralen Handschriften, was der
gesamte Text enthält. Das gilt primär für liturgische Texte und Schriften, die im Gottesdienst benutzt werden und somit selber Teil der
Liturgie sind.
So zeigt die gerahmte Initiale R von »Resurrexi« in einem Salzburger Missale (Abb. 8) den auferstandenen Christus vor der knieenden
Maria (»In die Sancto Pasche«). Christus ist die Kirche und hält seine
Hand über die Menschen, »über mich« wie es im Text heißt (»posuisti
super me manum tuam, alleluia«), und dieses »mich« ist ein kollektivierendes »mich«, das stellvertretend von dem zelebrierenden Priester
für alle Gläubigen gesprochen wird.
Abbildung 8: R-Initiale: Resurrexi
Schrift und Bild wirken zusammen, aber durch den Rahmen ist das
Bild erkennbar als Fenster im Text, das auf eine andere Qualität der
Wahrnehmung verweist. Der erste Buchstabe der Seite durchdringt
den ganzen Text und erhebt ihn damit im Bild ebenso wie in der liturgischen Feier in die Sphäre Gottes. Die Initiale ist als Träger des heiligen Wortes selbst Teil derjenigen Kraft, die sie darstellt.
7. Vgl. Pächt: Buchmalerei des Mittelalters (wie Anm. 4), S. 51.
48
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
Diese Überzeugung kann sich auch in Wortzeichen und Monogrammen vermitteln, die keine ausschließlich erzählerische Funktion
besitzen. Ein Beispiel dafür ist das Christusmonogramm, mit dem eine
Handschrift aus dem Straßburger Magdalenenkloster die Erzählung
einer Augustinus-Vita eröffnet: »IHS« (Abb. 9). Dabei ist das I als Pfeil
gestaltet, der ein Herz durchbohrt, und dazu passt der Text, der das
Bild einer Nonne einhüllt, die als Randminiatur auf derselben Seite zu
sehen ist: Die Liebe Christi hat ihr Herz verwundet; sie trägt seine
Worte in ihrem Inneren wie einen spitzen Pfeil. In der Initiale mit dem
Christusmonogramm wird die Herz-Jesu-Verehrung, die in der Nonnenmystik eine große Rolle spielte, nicht nur abgebildet, sondern in
ihrer unmittelbaren Wirksamkeit erfahrbar.
Abbildung 9: S-Initiale: Sanct Augustinus,
Christus-Monogramm
49
Horst Wenzel
Die »liturgische Magie« beschränkt sich vornehmlich auf geistliche
Handschriften, in anderen Zusammenhängen überwiegt die erzählerische Absicht, die auch spielerische Momente zulässt und entfaltet
(Abb. 10). Das Prinzip jedoch bleibt unverändert: Die linear sich entfaltende Schrift nimmt einzelne Bilder auf und integriert sie in die Linearität, setzt sie dabei notwendig in exponierte Positionen und verweist
damit auf ihre eigene Bedeutung als Medium der Beschreibung von
Bilderwelten.
Abbildung 10: Q-Initiale: Quatuor virtutum
Die Initialen sind Hybride, Bild und Schrift zugleich. Als Bild vereinzelt wahrnehmbar, folgen sie in der Summe der geschmückten Buchstaben (litterae ornatae) dennoch der Ordnung der Schrift, wie ihre
Zusammenfügung zu Figurenalphabeten demonstriert. Ein besonders
schönes Beispiel eines Figurenalphabetes überliefert eine Handschrift
aus dem 16. Jahrhundert, in dem die Buchstabenform als bändigende
Rahmung einer höchst bewegten Bilderwelt fungiert. Die Initiale A
zeigt einen Landmann, der seinen Spaten einsetzt, wobei Stiel und
Griff des Werkzeugs mit dem Körper und dem ausgestreckten Arm des
Arbeiters die symmetrische Figur des ersten Buchstabens ergeben
(Abb. 11). Die Initiale C zeigt einen zweiten Landarbeiter, der eine
Kiepe auf dem Rücken trägt und mit rückwärts gespanntem Körper
und weit ausholenden Armen eine Sichel schwingt (Abb. 12).
50
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
Abbildung 11: Figurenalphabet:
Buchstabe A
Abbildung 12: Figurenalphabet:
Buchstabe C
Die Verwissenschaftlichung der Kunst bei Leonardo da Vinci und Leon
Battista Alberti, bei Piero della Francesca und Albrecht Dürer verbindet
sich bereits im 15. Jahrhundert mit der Kunst des Buchdrucks und der
Ausbildung des reinen, geometrisch konstruierten Buchstabens, der
die frei bewegliche Feder und die individuellen Handschriften ersetzt.
Abbildung 13: Buchstabe G:
Konstruktionszeichnung
Der Medienwechsel von der Manuskriptkultur zum Buchdruck geht
einher mit der Durchsetzung von ausgefeilten, technisch reproduzierbaren Standardschriften, die auf die Digitalisierung der Literatur vorausweisen. Dürers Musteralphabet aus seiner Unterweisung der Messung
51
Horst Wenzel
(Abb. 13) zeigt auf der Vorlage des Zeichenträgers die Abhängigkeit von
Zahl und Zirkel, die der Buchstabe im gedruckten Text zwar hinter
sich zurücklässt, die ihm aber doch zugrunde liegt.
Ähnlich verbergen sich hinter den Bildoberflächen der zeitgenössischen Malerei die technischen Zeichnungen der Bildkonstruktionen,
die uns heute nur noch das Röntgengerät, Infrarot- und Ultraviolettaufnahmen vor Augen führen können. Das Buch ersetzt den Codex,
Wissenschaft den Kult, und die Magie der Initiale wird rationalisiert
und geometrisiert.
Die typografische Initiale beschränkt sich aber nicht auf die kunstvolle Konstruktion des einzelnen Buchstabens, sie setzt auch den Zusammenhang von Text und Bild in der »erzählenden Initiale« fort, die
in vielen Jugendbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts den Text begleitet, indem sie ihn entweder ganz vergegenwärtigt oder zumindest das
Thema eines neuen Textabschnittes illustriert. So zeigt die einleitende
W-Initiale zum siebenten Kapitel eines historisierenden Romans über
Walther von der Vogelweide (Abb. 14) ein ausreitendes Paar, während
der Text selbst mit den Worten beginnt: »Wir reiten, Dietrich, wir reiten!« Es ist Walther selbst, der spricht und damit seinem Knappen den
Aufbruch nach Aglei (Aquileja) signalisiert, dem Sitz des Patriarchen
Wolfger, der als Gönner Walthers historisch bezeugt ist. Was verbal als
Absichtserklärung formuliert ist, zeigt das Bild schon im Vollzug, zwei
Reiter mit wehendem Umhang, die in die Konturen des W einreiten.
Abbildung 14: W-Initiale: Wir reiten
Mit dem Medienwechsel von der Typografie zur elektronischen Datenverarbeitung setzt die Markierungs- und Memorialfunktion der Initiale
sich in der Steuerungsfunktion der Icons auf der digitalen Oberfläche
fort. Dabei ist einschränkend festzuhalten, dass die Zahl der Icons mit
Buchstaben gering bleibt im Verhältnis zu den »graphic representations
of objects such as documents, storage media, folders, applications, and
52
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
the trash«.8 Kommentierend heißt es in den Einrichtungshinweisen
der Firma Apple: »Icons look like their real-world counterparts whenever
possible.«9
Ähnlich wie die mittelalterliche Initiale auf den optischen Wahrnehmungsbereich zurückführt, von dem die Schrift sich selbst entfernt
hat, um ihn auf einer höheren Abstraktionsstufe um so besser überblicken zu können, verweist die Initiale auf der PC-Oberfläche zurück auf
ein Objekt oder aber auf die typografische Schrift, von der sie Abstand
genommen hat.
Abbildung 15: Digitale Icons: Explorer, Winword, Quick Time,
Netscape, Photoshop, ACDSee Classic, Nero Express
Auffällig ist auch hier die Rahmung, die eine Abgrenzung in der Dimension der Fläche, aber auch einen Durchgriff in die Tiefe suggeriert.
Der Cursor weist in die Funktion ein wie der Fingerzeig in zahlreichen
Autorenbildern oder der sehr spezifische Zeiger in der O-Intiale des
Ezechiel-Kommentars (Abb. 7). Der digitale Pfeil steht für die Zeighand, in die er sich auf dem Bildschirm immer wieder verwandelt, und
rekurriert damit auf eine instruierende Person, wie wir sie in den
handschriftlichen Initialen noch vollständig repräsentiert sehen.
E für Explorer, Q für Quick Time Player, N für Netscape, W für Winword bezeichnen technische Schalter, sind aber nicht nur Embleme,
sondern zugleich Signifikanten, die auf ein Schriftwort zurückverweisen und auf die Linearität schriftlicher Prozessualisierung. Daneben
gibt es reine Bilder-Icons wie die Piktogramme für Nero Express oder
Photoshop. Faktisch sind Computerbilder immer zugleich binärer Code
und Bildschirmerscheinung, ihr »immaterieller Code« ist selbst nicht
wahrnehmbar, vielmehr in unterschiedliche Formen wahrnehmbarer
8. Macintosh Human Interface Guidelines (MHIG), S. 224. http://deve
loper.apple.com/documentation/UserExperience/Conceptual/OSXHIGuidelines/
OSXHIGuidelines.pdf (replaced).
9. Ebenda.
53
Horst Wenzel
Effekte umgesetzt.10 Das können Buchstaben oder Bilder sein und
sind zugleich hochabstrakte Icons, die dennoch ihre eigenen Geschichten erzählen: Word zeigt ein Dokument, Explorer eine planetarische
Umlaufbahn, Quick Time die Uhr, Netscape den rotierenden Globus. Die
Aufhebung des Dokuments im digitalen Medium (Word), die globale
Kommunikation (Explorer, Netscape) und die Beschleunigung der Zeit
(Quick Time) zeichnen die Konturen unserer eigenen Gegenwart.
Über die hohe Plausibilität der digitalen Icons geben die entsprechenden Richtlinien Auskunft: »People often recognize pictures of
things and understand them more quickly than they do verbal representations of the same things.« Dabei wird die besondere Leistungsfähigkeit der Icons gegenüber der begrenzten Reichweite einzelner Sprachen hervorgehoben, die Bedeutung von kollektiven Symbolen, wie sie
ähnlich auch im Mittelalter wirksam waren: »Symbols cross cultural
and language barriers better than words do. Symbols also take up less
space than words that describe the same concept would.«11 Oder ein
wenig plakativer und erkennbar tautologisch: »A worldwide icon is one
that is understood universally.«12 Die strenge Bindung an diese Regel
gilt heute jedoch nicht mehr, spielerische Momente nehmen zu. Auf
vielen Laptops zeigt sich eine Privatisierung der Icons. Man kann selbst
Urlaubsfotos nutzen, Schnappschüsse von Stars aus Funk und Fernsehen oder kostspielig produzierte und offiziell verbreitete Abbildungen
dieser Idole und damit auch ironische Markierungen verbinden.
Blicken wir kurz zurück, so lässt sich konstatieren, dass die mittelalterliche Initiale als Eingangsportal in den Text fungiert, das häufig
die gedankenschnelle Vergegenwärtigung des Themas ermöglicht, aber
auch seine meditative Entfaltung in der Fülle der Zeit: Mit der »erzählenden Initiale« ist der ganze Text schon da, deshalb eignet sich die
Initiale auch als Memorialbild, als Ikone, die zugleich vor und für
einen Text steht. Mit den spielerischen und verspielten Initialen des
Spätmittelalters ist die Emanzipation aus dem religiösen Repräsentationsanspruch verbunden. Die typografische Initiale der frühen Buchdruckzeit verweist auf die Prinzipien ihrer eigenen Konstruktion, auf
die geometrisch entworfene und berechnete Matrix, die dem tatsächlichen Erscheinungsbild des Buchstabens zu Grunde liegt. Die »Initiale«
auf der Bildschirmoberfläche bleibt ein hybrides Zeichen, ist Bildsym-
10. Gernot Grube: »Computerbilder – Bildschirmaufführung einer Schriftmaschine«, in: Pablo Schneider, Moritz Wedell (Hg.): Grenzfälle: Transformationen
von Bild, Schrift und Zahl, Weimar 2004, S. 41-64, hier S. 47f.
11. MHIG (wie Anm. 8), S. 225.
12. Ebenda, S. 230.
54
Initialen in der Manuskriptkultur und im digitalen Medium
bol und/oder Buchstabe und zugleich Teil eines Programms, bindet
das alte und das neue technologische System erkennbar aneinander.
Die Rahmung kennzeichnet auch hier die Doppelfunktion der
Initiale als Zeichen und programmöffnendes Portal, das grundsätzlich
eine Digitalfunktion repräsentiert: Die Schalterfunktion der Initiale
suggeriert uns dennoch, dass wir durch die grafische Benutzeroberfläche hindurchgreifen, ähnlich wie wir durch das »Portal« einer mittelalterlichen Initiale in den Text eintreten können: Wir treten ein in das
Textgeschehen, wir »navigieren uns tastend durch das Netz«.13 Zwar ist
der taktile Zugriff auf die Bildschirmoberfläche nur noch die »Prothese
einer Geste des Tastens, welche uns immer wieder daran erinnern
kann, daß die Dimensionalität des Netzes nicht mehr ›begreifbar‹ ist«.14
Anderseits imaginiert der taktile Zugriff, neben dem Hinweis auf den
Verlust der Begreifbarkeit der Technik, noch immer die Vorstellung,
womit wir sie dennoch »begreifen« können: mit Symbolen aus Bildern
und Buchstaben, die den verborgenen Rechenvorgang einleiten.
Abbildung 16: Icon:
Vines-Login. Einweisung
in das Programm
Abbildung 17: Q-Initiale: Quinque.
Einweisung in die Handschrift
Icons auf der Bildschirmoberfläche sind im Unterschied zu traditionellen, so genannten analogen Bildern, immer zugleich Bilder und binärer Code. Die »Initiale« auf der Bildschirmoberfläche signalisiert somit
zugleich das Abstandnehmen von den alten Codes und ihren Trägern,
von Manuskripten, Tafelbildern, Rechnungsbüchern oder Notenschrif13. Larissa Boehning: Versinnlichung von Information? Über die Geste des
Tastens und die Phantasie der Berührung im Internet (MA), Humboldt-Universität
zu Berlin 2002, S. 5.
14. Ebenda, S. 43.
55
Horst Wenzel
ten und die Abhängigkeit von einem Makrotext. Der magisch-sakrale
Zugriff auf das liturgische Wort, von dem wir ausgegangen sind, und
der technisch operationale Zugriff auf das digitale Medium, bei dem
wir angelangt sind, haben allerdings bei aller Differenz das Moment
der Initialisierung gemeinsam, die Öffnung eines »Programms«, das
schon mit seinem Beginn als Ganzes da ist.
Offensichtlich können wir der Überlieferung unserer eigenen Geschichte nicht entgehen, hinterlässt der Wechsel von einem medialen
Diskurs zu einem anderen Spuren, derer wir uns wenig oder gar nicht
bewusst sind. So scheint sich auch die Spur der Initiale auf der Bildschirmoberfläche festgesetzt zu haben, so dass wir mit der Initialisierung einer algorithmischen Funktion (Abb. 16) den Weg fortsetzen,
den der Zeigefinger auf der Initiale einer mittelalterlichen Handschrift
vorgezeichnet hat (Abb. 17).15
15. Vgl. Horst Wenzel: »Initialen. Vom Pergament zum Bildschirm«, in:
Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge XIII-3 (2003), S. 629-641.
56
»Zigeuner« und andere Fremde
»Zigeuner« und andere Fremde.
Zur diachronen Vergleichbarkeit von
Fremdheitsentwürfen in literarischen und
expositorischen Texten
Iulia-Karin Patrut
Der Wandel von Argumentationsmustern der Fremdheitszuschreibung
sowie von Formen der Inklusion und Exklusion fordert diachrone
Vergleiche geradezu heraus. Doch selbst einleuchtende Analogien
können dem einschränkenden Einwand begegnen, ihre Gegenstände
seien wegen ihrer Form, wegen der zeitlichen Distanz oder abweichender Kontexte nicht in dem statuierten Umfang vergleichbar.1 Um die
Problematik illegitimer Vergleiche zu veranschaulichen, möchte ich
zunächst zwei Fallbeispiele diskutieren, in denen es um Fremdheitsentwürfe und Ausschlusspraktiken geht.2 Im Hauptteil des Aufsatzes
1. Zu dem allgemeinen Problemkomplex sind aus historischer Sicht inzwischen zahlreiche Arbeiten vorgelegt worden: Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka:
»Historischer Vergleich«, in: Dies. (Hg.): Geschichte und Vergleich, Frankfurt am
Main/New York 1996, S. 9-45. Thomas Welskopp: »Stolpersteine auf dem Königsweg«, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 339-367; Johannes Paulmann:
»Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer: Zwei Forschungsansätze
zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts«, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649-685; Hartmut Kaelble: Der historische Vergleich. Eine
Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999; Hartmut Kaelble: »Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer«, in: Ders., Jürgen Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003, S. 469-493.
2. Mein Ansatz kann hier an umfangreiche Forschungsprojekte zur historischen Komparatistik und zur europäischen Geschichte anknüpfen. Vgl. die erste
Rubrik »Perspektiven, Geschichte und Theorie des Vergleichs« in dem Band von
57
Iulia-Karin Patrut
werde ich dann auf die Bedingungen (il)legitimer Herstellung von
Ähnlichkeit eingehen, indem ich expositorische Abhandlungen über
»Zigeuner«3 einem literarischen Text gegenüberstelle. Dabei werde
ich die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen ethnografischen bzw.
anthropologischen und literarischen Texten am Beispiel von Herta
Müllers Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt untersuchen.
Den roten Faden dieser Überlegungen bilden Diskurse und Praktiken4 der Selbst- und Fremdheitskonstitution durch Argumentationsmuster ethnischer und sozialer Ähnlichkeit oder Verschiedenheit.
Dieses Problem wohnt bereits der Metapher von Äpfeln und Birnen
und dem taxonomischen Diskurs der Biowissenschaften inne. Letzterer
erzeugt sowohl Familien- und Gattungszugehörigkeiten als auch
Fremdheit. Dadurch kommt eine zusätzliche Dimension der Frage
nach der Reichweite und Legitimität von Vergleichen ins Spiel, nämlich jene nach ihrem Beitrag zur Hervorbringung abgegrenzter Entitäten wie Deutsche, »Zigeuner« oder Juden: Erst durch den wiederholten
Vergleich dieser Gruppen miteinander häufen sich die Anlässe zur
Festigung von Merkmalbündeln, die schließlich zu gewerteten Dichotomien erstarren.
Es geht also auf zwei unterschiedlichen Ebenen um Äpfel und
Birnen, oder, wenn man so will, um verschiedene Paare von beiden:
einmal um die implizite Relevanz von (illegitimen?) Vergleichen für
das Aufkommen spezifischer diskurshistorischer Konstellationen – in
diesem Falle für Fremdheitsentwürfe, die immer erst durch einen
Vergleich zum Selbst zustande kommen. Zweitens geht es um den
Michael Borgolte (Hg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der
historischen Komparatistik, Berlin 2002; sowie Helga Schnabel-Schüle (Hg.): Vergleichende Perspektiven – Perspektiven des Vergleichs: Studien zur europäischen Geschichte von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Mainz 1998.
3. Der Begriff »Zigeuner« wird hier selbstverständlich nicht affirmativ gebraucht; es geht vielmehr darum, diskurshistorische Bedeutungszusammenhänge
zu rekonstruieren, in denen genau dieser Terminus mit Praktiken der Inklusion,
Exklusion, Verfolgung und schließlich Ermordung verknüpft wurde. So wurde
der Begriff »Zigeuner« in historischen Kontexten verwendet, um eine Grauzone
zwischen ethnischer und sozialer Fremdheit zu benennen, während Sinti oder
Roma heutzutage ethnisch begründete, positiv konnotierte Selbstbezeichnungen
sind.
4. Hier sind vor allem Praktiken der anthropologischen Klassifikation angesprochen, die im Zusammenhang mit einer staatlichen Überwachungs- und Verfolgungspraxis stehen; so wurden nach 1900 zunehmend »Mischlinge« als »Asoziale« betrachtet.
58
»Zigeuner« und andere Fremde
Vergleich von unterschiedlichen Fremdheitsentwürfen als wissenschaftliche Methode. Nachdem verfängliche Bereiche der wissenschaftlichen Vergleichbarkeit besprochen werden, komme ich zu einem
detaillierten Beispiel, dem Vergleich von Herta Müllers Fasan mit den
ethnografischen und anthropologischen Texten des ausgehenden 19.
Jahrhunderts. Dabei werde ich zwei Probleme des (illegitimen?) Vergleichens diskutieren: Diachronie und Textsortendifferenz.
*
Im Folgenden möchte ich vor diesem Hintergrund zwei spezifische
Varianten des Äpfel-und-Birnen-Problems diskutieren, die sich mit Hilfe von Vergleichen mit dem Problem der Transformation von Fremdheitsentwürfen und Ausschlusspraktiken befassen. Dabei geht es im
ersten Fall – ausgehend von einigen Arbeiten Wolfgang Wippermanns5
– um einen synchronen Vergleich zweier als »fremd« bezeichneter und
ausgegrenzter Gruppen: »Zigeuner« und Juden im Nationalsozialismus, und im zweiten – ausgehend von Leo Lucassen6 – um den Vergleich von »Zigeunern« als sozialen Fremden in verschiedenen Epochen.
Eine Ähnlichkeit zwischen »Zigeunern« und Juden in der Verfolgung durch den Faschismus ist durchaus augenscheinlich, es fragt sich
allerdings, welche Kontextualisierungen nötig sind, um das Spezifische
an der Ermordung der Sinti und Roma deutlich zu machen. An der
laufenden Debatte, ob der Massenmord an »Zigeunern« und Juden
gleichermaßen als Genozid eingestuft werden kann, wird die Bedeutsamkeit und Brisanz der Frage nach illegitimem Vergleichen besonders deutlich. In diesem Kontext kam der Vorwurf auf, der Völkermord
an den Juden würde mit jenem an den »Zigeunern« gleichgesetzt und
dadurch ersterer relativiert. An der bis heute andauernden Debatte7
5. Wolfgang Wippermann: »Wie die Zigeuner«. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997; Ders.: Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin 2005.
6. Leo Lucassen: Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700-1945, Köln 1996.
7. Ein Versuch, diese Kontroverse zusammenzufassen (verbunden mit einem Plädoyer für den Vergleich) findet sich bei Wippermann (wie Anm. 5). Gegen
eine Gleichsetzung argumentieren dagegen Gilad Margalit: Die Nachkriegsdeutschen und »ihre Zigeuner«. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von
Auschwitz, Berlin 2002; Yehuda Bauer: Rethinking the Holocaust, New Haven 1998
(dt.: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretatio-
59
Iulia-Karin Patrut
wird sichtbar, wie schwierig es ist, zwischen der Feststellung einer
Ähnlichkeit und einer Gleichsetzung zu unterscheiden. Eine gut begründete Ähnlichkeit sollte auf jeden Fall Einschränkungen beinhalten
sowie die Präzisierung jener Teilbereiche der beiden Vergleichstermini, in denen das Verbindende zu finden ist. Unter Umständen kann
der Kontextualisierungsbedarf so umfangreich sein, dass der Erkenntnisgewinn, den die spezifische Gegenüberstellung verspricht, möglicherweise kleiner ist als jener, der durch die Aufarbeitung der jeweiligen diskurshistorischen Kontexte zustande kommt. Ob sich dies im
Falle des Vergleichs von Shoa und Porrajmos8 so verhält, sei dahingestellt.
Im Falle von Lucassen stellt sich ein anderes Problem. Er geht
davon aus, dass es sich bei dem Begriff »Zigeuner« vorrangig um
einen durch polizeiliche Verfolgung zustande gekommenen Terminus
handelt. Doch auch diese These lässt zunächst einige Fragen offen –
etwa, wie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Leitdiskurse die
Professionalisierung der Polizei, die Wahl und Definition der Verfolgten und Beobachteten beeinflusst haben. Zwischen dem »Zigeuner«Diskurs der Mehrheitsgesellschaft (der auch in der Presse, in Trivialliteratur usw. ausgetragen wird) und dem rechtlich-administrativen
bestehen durchaus Wechselwirkungen. Besonders deutlich erkennbar
werden diese in den 1920er Jahren, als »Rasse« zunehmend zu einem Leitparadigma der »Zigeuner«-Semantisierung und -Verfolgung
wurde.
Meines Erachtens ist, ganz allgemein formuliert, der Hinweis auf
Illegitimität häufig dann ein berechtigter Einwand, wenn er auf unzureichende Aufarbeitung der – unterschiedlichen – diskurshistorischen
Formationen hinweist, die sowohl durch Diachronie aufkommen als
auch durch die Auswahl synchroner Gegenstände, die zwar verwandt,
aber eben doch nicht deckungsgleich sind.
Wenig anders verhält es sich in dem zur Metapher gewordenen
Vergleich von Äpfeln und Birnen. Kaum jemand würde im Alltagszusammenhang die Diskussion von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Kerngehäusen beider Obstsorten als anstößig empnen und Re-Interpretationen, Frankfurt am Main 2001). Besonders umstritten ist
die Position von Günter Lewy: The Nazi Persecution of the Gypsies, Oxford 2000
(dt.: »Rückkehr unerwünscht«. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, Berlin
2001).
8. Vgl. hierzu: »The Holocaust O Porrajmos«, http://www.geocities.com/
Paris/5121/holcaust.htm (20.08.05). Kritisch zur Verwendung des PorrajmosBegriffs äußern sich Lev Tcherenkov und Stéphane Laederich: The Rroma. Bd. 1:
History, Language, and Groups, Basel 2004, S. 236.
60
»Zigeuner« und andere Fremde
finden – anders, wenn bei einem Korb mit sieben Äpfeln und einem
weiteren mit fünf Birnen lediglich die Stückzahl, nicht aber die Art der
Früchte miteinander in Beziehung gesetzt würde. Dieses Beispiel ist
insofern treffend für das gesamte Spektrum an Problemen des Vergleichens, als es nicht nur auf die unterschiedliche Aussagekraft qualitativ
oder quantitativ hergestellter Relationen verweist, sondern auch auf
das affirmative Aussagepotential des miteinander Verglichenen hinsichtlich der Formierung und Dramatisierung von Differenzen. Der
Diskurs der botanischen Taxonomie bringt malus und pyrus zunächst
auf aufwendige Weise zusammen, indem er sie beide der Familie der
Rosengewächse und der Unterfamilie der Kernobstgewächse zuordnet
und sie als zweikeimblättrige Blütenpflanzen und Bedecktsamer bezeichnet.9 Doch derselbe Kontext, der eine vermeintliche gemeinsame Familienzugehörigkeit erzeugt, behauptet auch die schier unüberwindbare Trennung in unterschiedliche Gattungen. Dieser Zusammenhang bringt gewissermaßen die Gegenfrage zum Vorwurf illegitimen Vergleichens ins Spiel, nämlich jene nach der Legitimität feststehender Zusammenhänge von Differenz. Gerade die Naturwissenschaften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie etwa die Anthropologie, die Anthropometrie und der naturwissenschaftlich orientierte Zweig der Ethnologie beanspruchten, exakte Stammbäume von
Zugehörigkeiten und genealogischer Verwandtschaft von Menschengattungen zu entwerfen.
Somit gaben diese Disziplinen vor, ein Wissen über Ähnlichkeit
und Verschiedenheit, Zugehörigkeit und Fremdheit, aber auch allgemein über Vergleichbarkeit von Menschen zu besitzen. Die grundsätzliche Fragwürdigkeit dieses Wissens wurde bereits ausführlich untersucht.10 Für den hier entfalteten Zusammenhang ist die gleichzeitige
Herstellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Gattungen von Lebewesen interessant: Diese doppelte Argumentationsfigur
benötigt Vergleiche, um Differenz herzustellen, und verbietet sie zugleich – oder verweist sie zumindest in ihre Schranken –, sobald sie
allzu sehr Ähnlichkeiten herausstellen. Die Grundstruktur des Äpfelund-Birnen-Verbots offenbart also nicht allein den Wunsch nach eingehender qualitativer Kontextualisierung, sondern beinhaltet semanti9. Eine umfassende Hinterfragung der diskursiven Herstellung von Gattungen als Erkenntnismatrices in den Biowissenschaften liefern Mathias Gutmann
und Peter Janich: »Species as Cultural Kinds. Towards a Culturalist Theory of Rational Taxonomy«, in: Theory in Biosciences 117 (1998), S. 237-288.
10. Vgl. hierzu die demnächst erscheinende Dissertation von Christine
Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von »Rasse« und »Geschlecht« in der physischen Anthropologie um 1900.
61
Iulia-Karin Patrut
sche Aufladungen von Grenzen und die Behauptung qualitativer Verschiedenheit.
*
Bei dem Vergleich literarischer und expositorischer Texte, welchem ich
mich im Folgenden widme, geht es um die Herstellung von Ähnlichkeit und Verschiedenheit zwischen Gruppen von Menschen, denen
Zugehörigkeit und Ausgrenzung entsprechen. Wie bei den Äpfeln und
Birnen entsteht das Abgeschlossen-Sein der einzelnen Entitäten erst
durch den (impliziten) Vergleich (etwa von Deutschen und »Zigeunern«). Hinzu kommt in diesem Fall die implizite Wertung, die den
westeuropäischen Selbstentwürfen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts noch innewohnte: Ein überlegenes Selbst, welches mit Definitionsmacht nicht nur über sich, sondern über die ganze Welt ausgestattet ist, entwirft sich Fremde und Vertraute mittels der verwissenschaftlichten Argumentation von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen menschlichen Arten.
Dieses damals Wissenschaftlichkeit beanspruchende Vorgehen gilt
heute vor allem deshalb als illegitim, weil es offenkundig in erster Linie
der Hervorbringung und Festigung eigener Überlegenheit verpflichtet
war und die Begriffsbildung sowie die Hervorbringung der Entitäten,
die es miteinander zu vergleichen galt, bereits auf die Erfüllung dieses
Ziels gerichtet waren. Somit liegt hier (aus heutiger Perspektive) amoralisches Vergleichen vor, das lediglich der Stabilisierung bestehender
hegemonialer Diskurse dient. Die Frage nach Legitimität als moralischer Kategorie11 – oder gewissermaßen nach illegitimen Ansprüchen, die hinter einem Vergleich stehen – wäre, neben den Aspekten
der diskurshistorischen Kontextgebundenheit und der Hervorbringung
11. Legitimität als moralische Kategorie leite ich im Zusammenhang der
Fremdheitskonstruktionen aus den Postcolonial Studies ab: Dort wird von der Illegitimität des traditionsreichen Vergleichens von einem westlichen/deutschen
»Selbst« mit Überlegenheitsanspruch und einem »Anderen«, dessen unterlegener
Status als quod erat demonstrandum bereits im Vorhinein feststeht, ausgegangen.
Der Anspruch der Postcolonial Studies, zu verhindern, dass an diesem Paradigma
der Wissensproduktion weiter festgehalten wird, ist nicht nur ein wissenschaftskritischer, sondern auch ein moralisch definierter Standpunkt – ebenso wie der
Anspruch der Neubewertung von Wissen, welches aus der Perspektive dieses unausgewogenen Vergleichs entstanden ist. Zum Zusammenhang von postkolonialer
Theorie, Ethik und Moral vgl. Ryan Douglas Mowat: Narrative Ethics in Postcolonial
Fiction, Glasgow 2003.
62
»Zigeuner« und andere Fremde
gewerteter Dichotomien, ein dritter Punkt, den es bei der Bewertung
aber auch bei der Durchführung problematischer Vergleiche zu berücksichtigen gilt.
Unter diesen Voraussetzungen wird es Ziel des nachstehenden
Vergleiches sein, nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Hervorbringung von Selbst- und Fremdheitsentwürfen in
expositorischen und literarischen Texten zu diskutieren, sondern auch,
die jeweils unterschiedlichen, textsortenbedingten Modalitäten der
Bedeutungsproduktion sowie den jeweiligen moralischen Standpunkt
zu reflektieren. Um eine gerade für die Diachronie adäquate – wenn
auch notgedrungen knappe – diskurshistorische Kontextualisierung
gewährleisten zu können, thematisiere ich die Zusammenhänge zunächst nacheinander, jedoch in zunehmend vergleichender Perspektive.
Ethnografische und anthropologische Texte des 19. Jahrhunderts
sind hinsichtlich der Frage nach der Verhandlung von Fremdheitsentwürfen besonders interessant, weil sie an einer diskursiven Schnittstelle zwischen deutungsorientiertem und empirisch begründetem
Fremdheitsbegriff stehen: Sie berufen sich sowohl auf Johann Gottfried Herder als auch auf Verfahren, die eine exakte Messbarkeit von
Fremdheit beanspruchen. Die erste Richtung mündete im zwanzigsten
Jahrhundert in geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die vergleichende Literaturwissenschaft ein, die zweite in die naturwissenschaftlich orientierte Ethnologie und Anthropologie. Die »Zigeuner« sind
jene Gruppe, der im Zuge der vergleichenden Herausstellung von
Eigenem und Fremdem eine ambivalente Rolle zukam. Aufgrund der
Schwierigkeiten ihrer Verortung wurden sie zur Projektionsfläche für
einen umfassenden Diskurs, an dem Selbst- und Fremdheitsentwürfe
jener Zeit offenbar werden.
Zunächst ein ausführlicheres Zitat aus einer anthropologischen
Arbeit Isidor Kopernickis (1825-1891). Der Verfasser war ein aus Polen
nach Bukarest migrierter Kraneologe, der 1866 zum Vorsitzenden des
Museums für Anatomie am Bukarester Colţea-Krankenhaus wurde
und dadurch Gelegenheit hatte, an verstorbenen Patienten anthropologische Messungen durchzuführen:
»In der menschlichen Racenkunde im Allgemeinen und in jener der europäischen
Bevölkerung insbesondere giebt es kaum einen anderen Gegenstand, welcher
dem Anthropologen einen inhaltsreicheren Stoff darbieten würde und so viele
wichtige Fragen aufzuregen im Stande wäre, als eben dieses sonderbare halbwilde
Landstreichervolk der Zigeuner, dem man im alten Continent allenthalben, vom
Ganges bis zum Atlantischen Ocean, begegnet und welches man ungeachtet
seiner zahlreichen Namen, deren sehr verschiedene Deutung am besten das
63
Iulia-Karin Patrut
Mysteriöse seines Ursprungs verräth, überall an denselben charakteristischen
Zeichen erkennt.«12
Die Textstelle zeigt, dass »Zigeunern« zum einen durchaus Attribute
der Fremdheit wie etwa ein mysteriöser Ursprung, Wildheit, Nomadentum und soziales Außenseitertum zugewiesen werden. Zum anderen ist aber diese Fremdheitsposition nicht absolut gesetzt, sondern als
ein Zwischenstadium dargestellt, welches zu einer Klärung von Selbstund Fremdheitsentwürfen herausfordert: »Zigeuner« erscheinen als
ein eben nur zur Hälfte wildes Volk, das unzählige Fragen aufwirft.
Die Grauzone, in der sie verortet werden, wird ebenfalls mittels Relationen von Ähnlichkeit und Verschiedenheit hergestellt.
Der Gruppe werden ähnliche Merkmale zugewiesen, an denen sie
angeblich auf der ganzen Welt, in unterschiedlichen Umgebungen
erkennbar sein soll. Die Bündelung dieser Merkmale lässt sie, laut
Kopernicki, jedoch im Vergleich zur restlichen Bevölkerung als verschieden erscheinen. An dieser Stelle tritt der Anteil der impliziten
Vergleiche an der Wissensproduktion über die Fremdheit der »Zigeuner« in den anthropologischen Disziplinen zutage: Es spielen dabei in
hohem Maße die Auswahl der Vergleichsgrößen, der Fokus und
schließlich die Anspielungen auf altbekannte Argumentationsmuster
wie etwa jenes von dem »ewigen Juden« eine wichtige Rolle.
Somit wird erst ein diskursiver Rahmen erzeugt, der eine bestimmte Evidenz nahe legt, sodann erfolgt die eindrückliche Demonstration mittels genauer Messungen. Kopernicki vergleicht »15 männliche und 5 weibliche Schädel«13 von »Zigeunern«, von denen er behauptet, sie besäßen »alle Bedingungen einer vollkommen zweifellosen Authenticität«14, nicht nur untereinander, sondern auch mit
Schädeln anderer Menschengruppen, die er als homogen betrachtet.
So finden sich in einer seiner Abbildungen auffallend unterdimensionierte »Zigeunerschädel« synoptisch als »Horizontalcontur«15 dargestellt (wobei die weiblichen noch kleiner als die männlichen sind).
Eingerahmt werden die »Zigeunerschädel« wie auch die übereinander
mitgezeichneten griechischen und Hinduschädel von einem größeren
und vor allem längeren, der als »deutscher Schädel« bezeichnet wird.
Das Ergebnis der Messungen Kopernickis entspricht in erstaunli12. Isidor Kopernicki: »Ueber den Bau der Zigeunerschädel. Vergleichendkraniologische Untersuchung«, in: Archiv für Anthropologie 4 (1872), S. 267-324,
hier S. 267.
13. Ebenda, S. 273.
14. Ebenda.
15. Ebenda, S. 316.
64
»Zigeuner« und andere Fremde
chem Maße dem diskursiven Rahmen, den er zu Beginn skizziert:
Seine vergleichenden Messungen wollen erweisen, dass die »Zigeuner« in der Tat den Deutschen halb fremd und halb vertraut sind: Sie
gehörten angeblich, laut der genau festgehaltenen kraneologischen
Messergebnisse, zur großen Familie der »Arier«.16 Im direkten Vergleich zu den Deutschen besäßen die »Zigeuner« jedoch als inferiorisierende Merkmale eine schlankere Stirn und schmalere Schläfen.
Neben der aus heutiger Sicht von Willkür geprägten Auswahl dessen, was vermessen und verglichen wird (wenig überzeugende Durchschnittsformen ethnisierter Schädelformen) dürfte bei diesem Vergleich wohl die implizite Absicht, nicht nur charakterliche Typologien,
sondern auch ethnisierte Hierarchien herzustellen, auf Ablehnung
stoßen. Die Wissensproduktion durch kraneometrische Vergleiche
erscheint aus heutiger Perspektive als illegitim, ja sogar als abstoßend
aufgrund ihrer moralischen Verwerflichkeit.17
Offensichtlich ist, dass diese Wissensproduktion mit dem ideologischen Ziel der Herstellung eines Referenzrahmens verknüpft ist, innerhalb dessen Machtvorsprünge und Hegemonialität gesichert werden sollen. Es ist daher aufschlussreich, dass unterschiedliche Wissenschaftler des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts die kraneologischen Messergebnisse an den »Zigeunern« im direkten Bezug zueinander kaum infrage stellen. Das einmal entworfene Konstrukt von
Rassenfamilien bleibt bestehen, und »Zigeunerschädel« die davon
abweichen, werden als Ergebnis der Assimilierung und Durchmischung eines ursprünglich reinen »Zigeunertypus« ausgegeben.
Diesem Problem begegnete der Anthropologe Leopold Glück, der
Forschungen an »Zigeunern« in Bosnien vorgenommen hatte18, etwa
16. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen zahlreiche weitere Anthropologen bzw. Kraneologen. Vgl. etwa Friedrich J. Blumenbach: Decas altera Collectionis suae craniorum diversarum gentium illustrata, Göttingen 1793.
17. Diese Verwerflichkeit wird noch deutlicher, wenn man die weitere Entwicklung der an »Zigeunerschädeln« praktizierten Kraneometrie in der Zeit des
Nationalsozialismus, vor allem durch den berüchtigten Dr. Robert Ritter bedenkt.
Die inkludierende grundsätzliche Einordnung in die Familie der »Arier« verhinderte die Verfolgung und Ermordung von »Zigeunern« bekanntlich nicht; in anthropometrischen Verfahren wurde auf ihre rassische Durchmischung hin argumentiert und daraus Minderwertigkeit und Asozialität abgeleitet. Vgl. für die anthropologischen Arbeiten Robert Ritters während des Nationalsozialismus etwa Robert
Ritter: »Die Zigeunerfrage und das Zigeunerbastardproblem«, in: Fortschritte der
Erbpathologie und Rassenhygiene 3 (1939), S. 1-20.
18. Leopold Glück: Zur physischen Anthropologie der Zigeuner in Bosnien
und der Hercegovina, Wien 1897.
65
Iulia-Karin Patrut
dadurch, dass er die Untersuchten in zwei Gruppen einteilte: in so genannte »schwarze« und »weiße« »Zigeuner«, wobei erstere angeblich
weniger mit anderen einheimischen Bevölkerungsgruppen durchmischt seien und daher dem rassisch festgemachten Typus des »Zigeuners« eher entsprächen als letztere, die eher den Slawen ähnelten.
Dabei bezeichnete er die angeblich durchmischten »Zigeuner« als
»weiß«, obwohl er explizit auf ihre ebenfalls dunkle Hautfarbe rekurrierte.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Versuche, »Zigeuner« zu verorten, ein aufwendiges Dispositiv von Selbstentwürfen (in
diesem Falle als Deutsche/»Arier«) auf der einen Seite und ein komplexes, graduell differenziertes Repertoire an Fremdheitskonstruktionen auf der anderen Seite offenbaren. Die Herstellung dieser stammbaumähnlichen fiktiven Verwandtschafts- bzw. Fremdheitsverhältnisse
fußt, so mein Zwischenfazit, in nicht unerheblichem Maße auf illegitimen Vergleichen.
Nicht nur anthropologische Arbeiten, sondern auch weitere expositorische Texte mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit partizipierten an dem Diskurs über die »Zigeuner« als eine Art »Vor-Arier«,
so beispielsweise Heinrich von Wlislocki, der in umfassenden Monografien und zahlreichen Aufsätzen die transsilvanischen »Zigeuner«
beschreibt.
Zu den übergeordneten Zielen der Forschungen Wlislockis zählte,
durch die angebliche »echte Volkstümlichkeit«19 der »Zigeuner« Einblicke in so genannte urheimatliche, indische Zustände zu gewähren.
Dabei setzte er den Gedanken der »arischen« Stämme voraus, und bestätigte das Konstrukt von Indien als Urheimat der Deutschen. Die
»Zigeuner«, und insbesondere die »Wanderzigeuner«, bei welchen
sich die alten Bräuche angeblich besonders gut erhalten haben, bieten
dem deutschen Zielpublikum somit eine Art Spiegel eines eigenen
früheren Entwicklungsstadiums, in welches die Mythen des »Urheimatlich-Indischen« noch hineinschimmern.
Bei Wlislocki werden »Zigeuner« und deren mündlich überlieferte
Literatur in einen sehr genau definierten diskursiven Chronotopos verschoben, nämlich in jenen der »Kindheit« des deutschen Volkes. Ihre
Anschauung soll gewissermaßen der Erholung des (typisierten männlichen, deutschen, dichterisch begabten) Forschers dienen, gleichzeitig
fungiert sie als inspirierendes Moment zur dichterischen Verklärung
der eigenen, deutschen Vergangenheit. Diese doppelte Funktionalisierung geht einher mit den Bemühungen, sowohl mittels exakter Mess19. Heinrich von Wlislocki: Vom wandernden Zigeunervolke, Hamburg
1890, S. 51.
66
»Zigeuner« und andere Fremde
verfahren, wie etwa bei Kopernicki und Glück, als auch mit Hilfe vergleichender Mythologie, wie hier bei Wlislocki, ein durchaus zielgerichtetes diskursives Netz an Ähnlichkeiten und Unterschieden zu entwerfen. Genau in dieser Zielorientierung, nämlich der Instrumentalisierung der »Zigeuner« zum Zwecke retrospektiver Selbstspiegelung und
Selbsterhebung, liegt auch die Problematik der hier besprochenen
vergleichenden Verhandlungen von Selbst- und Fremdheitsentwürfen.
*
Anders verhält es sich mit Herta Müllers Text Der Mensch ist ein großer
Fasan auf der Welt.20 Die Erzählung erschien zuerst 1986 in Berlin.
Bei Müller sind »Zigeuner« als Figuren Teil eines komplexen, multireferentiellen Netzes aus Verweisen und Bezügen, die ebenfalls Selbstund Fremdheitsentwürfe verhandeln, ohne jedoch einem quod erat
demonstrandum untergeordnet zu sein. »Zigeuner« werden auch hier
als Gruppe dargestellt, die fremd ist und die banatdeutschen Bewohner, aus deren Perspektive der Text geschrieben ist, befremdet.
Die Banatdeutschen, darunter der Protagonist Windisch und seine
Tochter Amalie, sind im Begriff, in die Bundesrepublik auszuwandern,
ohne diesen Umbruch jedoch als Möglichkeit zum Aufbrechen ihres
bornierten Menschen- und Weltbildes nutzen zu können. Obgleich sie
Teil einer Minderheit sind, gehen diese Protagonisten wie selbstverständlich von ihrer eigenen Überlegenheit gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen wie etwa den »Zigeunern« oder den »Walachen«, wie
sie die Rumänen abfällig bezeichnen, aus. Eine »kleine Zigeunerin aus
dem Nachbardorf«21 kauft den auswandernden Banatdeutschen alten
Hausrat ab22 oder lässt betrunkene Männer in der Dorfkneipe für
Geld unter ihren Rock sehen.23
»Zigeuner« werden dabei nicht, wie die Banatschwaben, als Individuen dargestellt, sondern, auf den ersten Blick ähnlich wie im »Zigeuner«-Diskurs der Anthropologie und Ethnologie um 1900, typisiert.
Auch die ihnen zugewiesene Rolle scheint zunächst vergleichbar zu
sein. In Herta Müllers Fasan gehören »Zigeuner« zur Dorfgemeinschaft dazu und beteiligen sich an den Tauschprozessen und Waren20. Vgl. hierzu auch Iulia-Karin Patrut: Schwarze Schwester – Teufelsjunge.
Ethnizität und Geschlecht bei Paul Celan und Herta Müller, Köln 2006, S. 126-154.
21. Herta Müller: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, Hamburg
1995, S. 63.
22. So im Kapitel »Zigeuner bringen Glück«. Ebenda, S. 99-101.
23. So im Kapitel »Zehn Lei«. Ebenda, S. 63-65.
67
Iulia-Karin Patrut
kreisläufen. Gleichzeitig wird ihnen aber eine dezidiert subalterne
Position zugewiesen. An »Zigeuner« werden auch alte Gegenstände
und Kleider, die sonst niemand mehr verwenden möchte, verschenkt:
»Da liegen noch ein Haufen alter Kleider rum für die Zigeuner«24 –
und somit befinden sie sich auf dem untersten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie.
Der implizite Vergleich, dessen Ergebnis die Aufwertung der Banatdeutschen sein soll, wird gar nicht erst ausgesprochen. Auf der
anderen Seite erfolgt aber, wieder scheinbar ganz ähnlich wie im anthropologischen und ethnologischen Diskurs, eine funktionalisierte
positive Besetzung der mit »Zigeuner« bezeichneten Menschen. Ihnen
wird eine wohltuende Wirkung für die Banatdeutschen zugewiesen:
»Zigeuner bringen Glück«25, so heißt es, und dies ist der (unausgesprochene) Grund – so könnte man den Text deuten –, weshalb die
sozialen Kontakte der Banatdeutschen zu »Zigeunern« überhaupt bestehen.
Erwartbar wäre hier also auf den ersten Blick eine ähnliche Konstellation, wie ich sie am Beispiel von Wlislocki und Kopernicki beschrieben habe: Ein deutsches Selbst mit kolonialem Bewusstsein steht
im Vergleich zu einer prototypischen »Zigeuner«-Fremdheit, die letztlich den banatdeutschen Selbstentwurf stabilisiert und zusätzlich einen
bestimmten Nutzen einbringen soll. Der Text sperrt sich bei näherer
Betrachtung einem solchen Schluss, obgleich im Zuge einer oberflächlichen Lektüre die Herstellung einer solchen Analogie zu den weiter
oben besprochenen Fällen nahe liegen könnte. Dabei erweist sich
weniger der Vergleich selbst, sondern vielmehr die Behauptung der
Ähnlichkeit mit den Fremdheitsentwürfen der anthropologischen und
ethnologischen Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts als unzutreffend. Gründe dafür sind zum einen die spezifische diachrone Situation und zum anderen – und dieses ist der weitaus gewichtigere Grund
– die Literarizität von Herta Müllers Erzählung. Der erste Einwand ist
einleuchtend: »Zigeuner« um 1900 als halbexkludierte, nützliche Außenseiter darzustellen, ist etwas anderes, als eine auf den ersten Blick
ähnliche Repräsentation in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Massenermordungen während des Nationalsozialismus
mahnen vor der Fortführung, aber auch vor der Neuerfindung exkludierender Fremdheitsentwürfe; übergeht eine Darstellung diese mahnende Erinnerung und auch die damit einhergehenden wissenschaftlichen Debatten, unterscheidet sie sich dadurch maßgeblich von den
vorangegangenen, zumal bei der späteren das Wissen um den Gewalt24. Ebenda, S. 101.
25. Ebenda.
68
»Zigeuner« und andere Fremde
charakter hierarchisierender Vergleiche zwischen Menschen vorausgesetzt werden kann.
Diese mit den spezifischen historischen Veränderungen begründete Einschränkung der Suche nach Ähnlichkeiten zwischen »Zigeuner«-Fremdheitsentwürfen wird jedoch in ihrer Relevanz noch überboten durch den Unterschied zwischen beiden hier thematisierten Textsorten. Anthropologische und ethnologische Arbeiten beanspruchen
als expositorische Texte, dass die in ihnen enthaltenen Selbst- und
Fremdheitsentwürfe Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sind.
Sie geben vor, durch die Verortung der »Zigeuner« im Modus des
inkludierenden Ausschlusses lediglich eine bereits vorhandene, reale
Situation aufzugreifen und zu benennen.
Anders die Erzählung Herta Müllers. Diese nützt die spezifischen
Möglichkeiten der Literarizität, indem sie die unbeirrbare Arbeit der
banatdeutschen Figuren am Entwurf eines überlegenen Selbst im
Kontrast zu einem minderwertigen Fremden als hoch problematisches
Projekt vorführt. Der Text beinhaltet zahlreiche Signale, die gegen eine
affirmative Teilhabe an Diskursen der Ausgrenzung von »Zigeunern«
sprechen. Die Vergleiche, welche die banatdeutschen Protagonisten
durchführen, um Menschen zu klassifizieren, beinhalten so viel ungeschönte diskursive Gewalt, dass eine unterschwellige moralische Verurteilung ihrer Denkmuster mit ausgesagt wird. Über die Menschen,
die in einer hauptsächlich von Rumänen bewohnten Gegend leben,
sagt der banatdeutsche Kürschner:
»›Nur Weiber, Windisch, ich sag dir, Weiber gibt’s dort. Die haben einen Schritt.
Die mähen rascher als die Männer.‹ Der Kürschner lachte. ›Leider Gottes‹, sagte
er, ›sind es Walachinnen. Im Bett sind sie gut, aber kochen können sie nicht wie
unsere Fraun.‹«26
An dieser Stelle wird in der Erzählung das problematische Vergleichen
zum Zweck der Bestätigung eines Diskurses, der mittels der Kategorien Ethnizität und Geschlecht hegemonial strukturiert ist. Der Ausnahmefall der schneller mähenden Frau – übrigens auch eine Anspielung auf den Tod als »weiblich« codierte Bedrohung – wird konterkariert durch den Verweis auf Geschlechtsverkehr als regulierendes Moment einer außer Frage stehenden Hierarchie von »männlich« und
»weiblich«. Durch den Verweis auf häusliche Arbeiten und vor allem
durch den Vergleich mit banatdeutschen Frauen werden die »Walachinnen« noch weiter aus dem (mit Definitionsmacht ausgestatteten)
Kollektiv der banatdeutschen Männer verstoßen. Die Erzählung legt
26. Ebenda, S. 22.
69
Iulia-Karin Patrut
durchaus mittels eingestreuter Anspielungen historische Bezüge dieses
Vergleichens zum Zwecke der Selbsterhöhung offen, etwa wenn die
Frau des Protagonisten Windisch die frühere Nicht-Zugehörigkeit zur
Waffen-SS als Ausnahme und Makel eines Dorfeinwohners auslegt.27
Auch an weiteren Stellen beinhaltet der Text Hinweise auf die Befangenheit der banatdeutschen Protagonisten in einem Dispositiv der
Selbsterhöhung und Hervorbringung abgewerteter Fremdheitsentwürfe – in Kontinuität zu der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit:
»Das Loch auf Windischs Zunge füllt sich langsam. ›Der Kürschner hat immer
gesagt‹, sagt Windisch, ›in Amerika sind die Juden am Ruder.‹ ›Ja‹, sagt der
Nachtwächter, ›die Juden verderben die Welt. Die Juden und die Weiber.‹« 28
Durch das Vorführen des plumpen Antisemitismus und Sexismus der
Protagonisten wird hier ihr Urteilsvermögen generell in Zweifel gezogen. Die Vergleiche, mittels derer sie Menschen zu hierarchisieren
versuchen, können somit auch als ungültig gedeutet werden. Darin
besteht ein gravierender Unterschied zu den Fremdheits- und »Zigeuner«-Diskursen der hier besprochenen ethnologischen und anthropologischen Texte, deren Ähnlichkeits- und Verschiedenheitskonstrukte affirmativ wirken, weil ein übergeordneter Kontext, der den Vorgang
der Klassifizierung problematisiert, in diesen Texten nicht angelegt ist.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass bei Wlislocki, Kopernicki
und Glück »Zigeuner« lediglich die Rolle des hilfslosen, passiven
Objekts wissenschaftlichen Vergleichens zukommt. Demgegenüber ist
die »Zigeunerin« in Herta Müllers Erzählung weit widerständiger. Sie
behält, bezogen auf den Diskurs, der sie im Vergleich zu Banatdeutschen und Männern abwertet, sogar die Position des letzten ironischen
Lachens:
»Die Zigeunerin hebt den Rock. Der Traktorist trinkt sein Glas aus. Die Zigeunerin
nimmt den Geldschein vom Tisch. Sie ringelt den Zopf um den Finger und lacht.«29
Diese Passage könnte man als Darstellung der Absurdität des verhängnisvollen Kreislaufs des Vergleichens, Abwertens, Verdrängens und
Begehrens ansehen. Der »kleine[n] Zigeunerin«30, die gleich zweifach
Gegenstand dieses Kreislaufs ist, wird aber nicht, wie in den ethnogra27.
28.
29.
30.
Ebenda, S. 30.
Ebenda, S. 77.
Ebenda, S. 63.
Ebenda.
70
»Zigeuner« und andere Fremde
fischen und anthropologischen Diskursen, der Subjektstatus und die
Definitionsmacht über die Situation abgesprochen. Sie gestaltet die
Szene vielmehr mit, indem sie lacht – möglicherweise über die Wechselbeziehung von Fremdheitskonstruktionen und Begehren, die ihre
Erscheinung als »Zigeunerin« und ihr Geschlecht, das sie vorzeigt,
ohne ihr Zutun zum unerhörten Ereignis werden lässt. Durch ihr mögliches Mehrwissen und ihre Haltung führt die »Zigeunerin« gleichzeitig die Unstimmigkeiten dieses Wahrnehmungsdispositivs vor.
Das Moment der Literarizität der Erzählung ist auch maßgeblich
dafür, dass sie nicht auf einen eindeutigen, bereits feststehenden referentiellen Rahmen, auf den zahllose weitere Texte verweisen, zurückgeführt werden kann. Meines Erachtens ist es also nicht illegitim,
einen einzelnen literarischen Text mit mehreren expositiorischen Texten, welche ihrerseits aus der gleichen Zeit stammen, zu vergleichen.
Letztere beziehen sich in der Regel durch ihren affirmativen Verweis
zur Wissensproduktion auf ein und denselben diskursiven Rahmen,
während ein komplexer literarischer Text wie Herta Müllers Fasan ein
eigenes, einmaliges Netz an Aussagen und Gegenaussagen erzeugt, die
einer – prinzipiell ergebnisoffenen – Interpretation bedürfen.
*
Abschließend lässt sich also festhalten, dass eine Hinterfragung von
Vergleichen nicht bei der Auswertung beider ausgewählter Gegenstände enden muss, sondern vielmehr durch die Untersuchung impliziter
oder expliziter Vergleiche, welche zur Konstituierung der ins Visier
gefassten Pole beigetragen haben, fortgeführt werden kann. Doch
darüber hinaus ermöglicht vermutlich ein jeglicher sorgfältig kontextualisierter Vergleich neue Erkenntnisse – sei es auch, dass der größere
Erkenntnisgewinn nicht durch die Gegenüberstellung selbst, sondern
durch die hinführende Analyse und Interpretation der beiden Gegenstände zustande kommt.
Schließlich wären die mehr oder minder produktiven Kurzschlüsse
anzusprechen, die sich aus der nicht kontextualisierten Gegenüberstellung zweier Texte ergeben. Vergleicht man etwa die Schädelvermessungen, welche »Zigeuner« als minderwertige Bastarde diffamieren
mit Herta Müllers Passagen über »Zigeuner« unter den Prämissen der
Ausblendung von Textsortendifferenz und Diachronie, ergeben sich
unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge: Ignoriert man die Literarizität des Fasan, können Herta Müllers Ausführungen (fälschlicherweise) sogar als Steigerung des diskriminierenden Blicks auf »Zigeuner« verstanden werden. Die »Zigeunerin« wäre nicht mehr die
71
Iulia-Karin Patrut
selbstironisch handelnde Gestalt, die eine machtasymmetrische Situation meistert, ohne Entwürdigung zu erleben, sondern geradezu eine
Ausgeburt schlimmster anthropometrischer und rassehygienischer
Diskurse des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Die angesprochenen Texte berichten vom angeborenen Schwachsinn,
der moralischen Verkommenheit und den sexuellen Exzessen weiblicher »Zigeunermischlinge«. Ohne eine Berücksichtigung von Literarizität und Ironie würde auch Herta Müllers Text diese Diskurse bestätigen.
Wenn man umgekehrt diese rassehygienischen bzw. anthropometrischen Texte als Einschub in die Erzählung Herta Müllers imaginiert,
würden sich die – ganz offensichtlich sinnwidrigen – seitenlangen Listen mit Längen-Breiten-Indizes der »Zigeunerschädel« sowie die Beschimpfungen als kriminell oder die Stilisierungen als Wilde recht gut
in das Szenario der Selbstentlarvung menschenverachtender Diskurse
eingliedern lassen. Der Versuch einer solchen Textmontage verwechselt jedoch die künstlerische Kritik an Rassismus und gewaltträchtiger
Selbstüberhebung mit jenen rassistischen, menschenverachtenden
Diskursen selbst.
72
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Aus dem Rahmen (ge-)fallen.
Tableaux vivants in Goethes
Wahlverwandtschaften und bei Vanessa Beecroft
Alexandra Tacke
Ende des 18. Jahrhunderts war die skandalumwitterte Lady Hamilton
in Neapel für ihre zahlreichen attitude parties bekannt, in denen sie sich
selbst als lebendes Kunstwerk inszenierte und in einem Wechsel pantomimischer Posen und Gebärden eine Vielzahl von kulturellen Frauenbildern verkörperte. Eine mit den Attitüden und Maskeraden der
Lady Hamilton durchaus verwandte Praxis der Verkleidung als Gesellschaftsspiel stellte zudem das tableau vivant dar, das als »lebendes
Bild« mit Hilfe kostümierter Modelle, oft unter der Leitung eines Architekten oder Theaterregisseurs, bekannte Gemälde nachempfand.
Nicht selten wurden die tableaux vivants mit einem aufwendigen Rahmen umgeben, um so eine gemäldeähnliche Wirkung zu erzielen.
Denn im Gegensatz zum Theater sollte das tableau vivant »wie sein
Vorbild Bild sein, also nicht nach links oder rechts ausufern«.1 Dazu
musste es »eindeutig durch einen Rahmen begrenzt werden«.2 Die
tableaux vivants erforderten also »eine Bühne, beziehungsweise einen
Sockel, einen Rahmen und einen Vorhang und präsentier[t]en sich so
als abgeschlossenes ›Kunstwerk‹. Damit soll[te] die Möglichkeit einer
Bilderzählung mit darstellerischen Mitteln – über den Rahmen hinaus
– bewusst ausgeschlossen werden.«3 Bild- und Betrachterrealität soll1. Sabine Folie, Michael Glasmeier: »Atmende Bilder. Tableau vivant und
Attitüde zwischen ›Wirklichkeit und Imagination‹«, in: Dies. (Hg.): Tableaux vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video, Wien 2002,
S. 9-52, hier S. 18.
2. Ebenda.
3. Birgit Jooss: »Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen in Goethes
Roman Die Wahlverwandtschaften«, in: Gabriele Brandstetter (Hg.): Erzählen und
73
Alexandra Tacke
ten räumlich sowie ästhetisch strikt voneinander getrennt bleiben. Die
»ästhetische Grenze« galt es streng zu wahren, schließlich sollten Sein
und Schein, Wirklichkeit und Illusion, Realität und Fiktion für alle
Beteiligten klar voneinander unterscheidbar bleiben. Es ging also um
die Erzeugung eines imaginierten Bildraums, der dem Publikum nicht
länger als zwei bis drei Minuten gezeigt wurde, da sonst das »lebende
Bild« durch zu starkes Atmen oder Wackeln der Darsteller zu lebendig
zu werden drohte. Das zeitliche Moment der tableaux vivants war somit
»auf ein Minimum reduziert, fast schon auf den Augenblick. […] Knapper hat sich für den Betrachter noch keine Kunstform je formuliert.«4
Auch Goethe zählte in Weimar zu den Arrangeuren dieses neuartigen Gesellschaftsspiels.5 Nachhaltig geprägt hatte ihn dabei vor
allem eine Begegnung mit Lady Hamilton auf seiner Italienischen Reise.
Entzückt von ihren Entschleierungskünsten6 missfiel Goethe jedoch,
wenn »jene schöne Unterhaltende« den Mund öffnete, rezitierte oder
gar sang.7 Eine stumme, statuenhafte Lady Hamilton, die ihre Bildhaftigkeit nicht durch Sprechen oder Gesang durchbrach, hätte Goethe
bevorzugt.
Jahre später verarbeitete Goethe seine damaligen Eindrücke in dem
Roman Die Wahlverwandtschaften (1809), in dem insbesondere Luciane
durch eine enorme Lust an Verkleidungen charakterisiert und dadurch
in die unmittelbare Nähe zu den exzessiven Maskeradekünsten der
Lady Hamilton gerückt wird. Diese Lust, sich selbst zur Schau zu stellen und Bilder »nachzuäffen«, kann das »Affenwesen« Luciane vor
allem in der Inszenierung von drei großen tableaux vivants ausleben,
die im zweiten Teil der Wahlverwandtschaften detailliert beschrieben
werden. Doch dazu später mehr, wenden wir uns zunächst Lucianes
Stiefschwester und Antipodin zu, der schweigsamen Ottilie.
Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Freiburg im Breisgau 2003, S. 111-136, hier S. 115.
4. Vgl. Folie, Glasmeier: Atmende Bilder (wie Anm. 1), S. 12.
5. Vgl. Birgit Jooss: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999.
6. Vgl. dazu Johann Wolfgang von Goethe: »Italienische Reise«, in: Ders.:
Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 7, Bielefeld 1957, S. 63-460, hier
S. 226f.
7. Ebenda, S. 321.
74
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Das tableau als tombeau
Den drei tableaux vivants, in denen sich Luciane selbst in Szene setzt,
bleibt die zurückhaltende Ottilie fern. Lediglich am Rande als Zuschauerin findet Ottilie Erwähnung. Doch auch wenn sie bei den beschriebenen tableaux vivants außen vor bleibt, zeichnet sie sich dennoch ebenso durch Bildaneignung aus, die letztendlich sogar tödlich
enden und aus ihr eine Art Dornröschen im Sarg machen wird. Aber
auch schon zuvor wird Ottilie im Roman immer wieder als engelsgleich beschrieben oder explizit in die Nähe von Madonnendarstellungen gerückt. Am Ende des Romans inszeniert sie der Architekt, der
zuvor die tableaux vivants mit Luciane arrangiert hatte, dann auch in
einem Weihnachtsbild als jungfräuliche Muttergottes mit Kind. Themenkomplexe wie Bildaneignung und -auflösung, Erstarren und Verstummen sowie (Hunger-)Tod werden im Roman gerade an der Anorektikerin Ottilie verhandelt.
Die Magersucht und das Schweigen Ottiliens symbolisieren gleichermaßen ihr Begehren, der symbolischen Ordnung buchstäblich zu
ent-sagen. Denn indem sie die Nahrungsaufnahme verweigert und
schweigt, wehrt Ottilie sich dagegen, eine buchstäblich Be-schriebene
bzw. Be-sprochene zu sein, wie Jochen Hörisch dargelegt hat:
»Indem sie gleichzeitig Speise und Sprechen verweigert, unterläuft sie die Ordnung des Einander-›Überpalierens und Überexponierens‹, wird gleichwohl deren oberstes Opfer und partizipiert schließlich doch am Triumph jeden wahren
Opfers: selbst zu dem Zeichen zu werden, dem das Opfer gilt.«8
Ottilie ver-zehrt sich im doppelten Wortsinne und wird doch bis zum
Schluss nichts genossen haben, da das, was sie begehrt, niemals wieder existentiell einholbar sein wird. So verzehrt sie sich auch weniger
nach dem bezeichnenderweise immer noch kindlich gebliebenen Eduard als nach einer Rückgewinnung jener unwiederbringbaren symbiotischen Mutter-Kind-Dyade, die sie selbst im Weihnachtsbild als jungfräuliche Muttergottes mit Kind figuriert. Ihr Begehren und Verzehren
gleicht dabei einem Unterfangen, das niemals glücken kann, da hilft
auch kein Sträuben gegen die Grammatik9 und kein Verbannen des
8. Vgl. Jochen Hörisch: »›Die Höllenfahrt der bösen Lust‹ in Goethes
Wahlverwandtschaften. Versuch über Ottiliens Anorexie«, in: Norbert W. Bolz
(Hg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum
Mythos Literatur, Hildesheim 1981, S. 308-322, hier S. 310.
9. So heißt es am Anfang des Romans in der Beilage des Gehülfen: »Man
hat über ihre Handschrift geklagt, über ihre Unfähigkeit, die Regeln der Gramma-
75
Alexandra Tacke
Miniaturbildes vom Vater10, denn ein Drittes oder sogar ein Vermittler
scheint sich in den Wahlverwandtschaften zwischen alles und alle zu
schieben.11
Die Tränen, die Ottilie im Weihnachtsbild vergießt, zeigen, dass
auch sie um jenen unwiederbringlichen Verlust weiß, ja vielleicht
sogar offen darum trauert. So heißt es im Roman: »[I]hre Augen füllten
sich mit Tränen, indem sie sich zwang, immerfort als ein starres Bild
zu erscheinen.«12 Durch ihre Tränen wird das starre Bild der MutterKind-Dyade, das sie zu verkörpern versucht, getrübt und befleckt. Genau genommen treten die Tränen aus dem Rahmen und verflüssigen
das eigentlich als starr angelegte Bild. Indirekt inserieren die Tränen in
das Bild dadurch das Wissen um Vergänglichkeit, Auflösung und Tod,
das normalerweise nicht in Madonnen-, sondern in Pietadarstellungen
Ausdruck findet. Zu fragen ist und bleibt deshalb, ob die Tränen Ottiliens nicht vielleicht so etwas wie eine Art punctum sind: Also genau
jener kleine Fleck, jenes Zufällige, das besticht und aus dem Rahmen
tritt.13
Zu einem Bild zu werden, kann tödlich enden, das zeigt insbesondere der Schluss der Wahlverwandtschaften, wo die tote Ottilie in einem
gläsernen Sarg zur Kapelle getragen wird. Das Glas als Ideal der
Transparenz gibt dabei allerdings nichts weiter preis als das, was es
zeigt: Ottilie als reiner Signifikant, als leeres, totes Zeichen, wodurch
genau das bezeichnet wird, was jedem Bild/Zeichen eignet, nämlich
durch eine ontologische Leere gekennzeichnet zu sein. »Aus der Zerstörung der traditionellen symbolischen Ordnung entsteht eine Situation«, wie David Wellbery konstatiert,
tik zu fassen.« (Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, Frankfurt am Main 1972, S. 32.)
10. Vgl. dazu Jochen Hörisch: »Mit dem Bild ihres Vaters verdrängt Ottilie
die Erinnerung an jene paternale Funktion, die die Mutter-Kind-Dyade sprengt
und dadurch in die infantile (sprachlose) Symbiose Bedeutsamkeit einbrechen
lässt. […] Der Vater, der zu Kind und Mutter hinzutritt, Ermahnungen, Verbote,
Sprachregelungen instituiert, auf die Sprach-Individuation des infans dringt und
so für den Einfall von Bedeutsamkeit in die infantil imaginäre Wunschwelt sorgt
[…].« (Hörisch: Die Höllenfahrt der bösen Lust [wie Anm. 8], S. 314).
11. So heißt es schon am Anfang des Romans: »Nichts ist bedeutender
[…] als die Dazwischenkunft eines Dritten.« (Goethe: Die Wahlverwandtschaften
[wie Anm. 9], S. 16).
12. Ebenda, S. 164.
13. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt am Main 1989, S. 35f.
76
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
»in der das menschliche […] Begehren sich auf einen unendlich entfernten und
damit unerreichbaren Gegenstand richtet, den es allerdings nur im Imaginären,
im Bilde hat (›besitzt‹). Das heißt aber, es hat (›besitzt‹) ihn nicht, denn das Bild
ist durch eine ontologische Leere gekennzeichnet, setzt die Abwesenheit seines
Gegenstandes voraus.«14
Auf jene ontologische Leere eines jeden Bildes/Signifikanten weist in
den Wahlverwandtschaften allerdings nicht nur der schwindende bzw.
tote Körper Ottiliens hin, sondern die Bilder generell werden im Roman als »Denkmale« bezeichnet: »[S]ie weisen auf den fürs Bildsein
konstitutiven ›Tod‹ des Gegenstandes hin. In dem verlockenden Bild
selbst, in dem das Subjekt die Totalität […] zu haben wähnt, steckt ein
Totes«, wie David Wellbery schreibt.15 Überspitzt formuliert ließe sich
sagen, dass es bei Goethe in erster Linie die Signifikanten/Bilder selbst
sind, die als von den Symptomen der Magersucht befallene vorgeführt
werden, d.h. von Verfall, Abwesenheit und Tod.
Auch das tableau vivant zeichnet sich durch eine prekäre Zwittersituation zwischen Leben und Tod, Verlebendigung und Erstarrung aus,
denn versucht es einerseits, »toten« Kunstwerken neues Leben einzuhauchen, so zwingt es andererseits die Ausführenden in eine Art »Toten«-starre, indem es sie rahmt und zu einem gefrorenen Bild werden
lässt. Das tableau vivant ist eine paradoxe »Belebung als Mortifikation«16, weshalb auch aus dem tableau nicht nur ein Denkmal, sondern
auch ein Grabmal/tombeau werden kann, durch das einem blitzartig
die Abwesenheit, die Leere und der Verlust ins Auge stechen kann,
wobei wir allerdings fast immer, wie Georges Didi-Huberman konstatiert, vor diesem tableau/tombeau selbst zu Fall kommen (tomber):
»Vor dem Grab (tombeau) komme ich also selbst zu Fall (je tombe), Angst befällt
mich – […]. Es ist die Angst, auf den Grund – an (die) Stelle – dessen zu blicken,
was mich anblickt, die Angst davor, der Frage ausgeliefert zu sein, zu wissen (in
Wirklichkeit: nicht zu wissen), was aus meinem eigenen Körper wird, zwischen
14. David E. Wellbery: »Die Wahlverwandtschaften«, in: Paul Michael Lützeler, James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen, Stuttgart 1985,
S. 291-316, hier S. 300f.
15. Ebenda.
16. Claudia Öhlschläger: »›Kunstgriffe‹ oder Poiesis der Mortifikation. Zur
Aporie des ›erfüllten‹ Augenblicks in Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Gabriele
Brandstetter (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Freiburg im Breisgau 2003, S. 187-205,
hier S. 198.
77
Alexandra Tacke
seinem Vermögen, ein Volumen zu bilden und seiner Fähigkeit, sich der Leere
darzubieten, sich zu öffnen.«17
Von wegen tableau rasa, das tableau vivant lebt!
Verebbte nach dem tableaux-vivants-Boom der Goethezeit langsam die
Lust an der Aufführung von »lebenden Bildern«, so geriet das tableau
vivant jedoch niemals völlig in Vergessenheit. Gerade mit dem Aufkommen der neueren Medien wie der Fotografie und dem Film erfuhr
es ganz neue Ausformungen. So ließ z.B. Susan Sontag unlängst in
ihrem Roman Der Liebhaber des Vulkans18 die »lebenden Bilder« der
Lady Hamilton wieder aufleben und verarbeitete den Besuch Goethes
in Neapel, wobei sie offen ließ, ob es sich bei den (Selbst-)Inszenierungen der Lady Hamilton um erste Emanzipierungsversuche oder eher
um Vorläufer des Striptease handelt. Dass gerade die Autorin, die sich
vermehrt mit dem fotografischen Medium auseinandergesetzt und
dieses theoretisch reflektiert hat, nun in einem Roman auch dem tableau vivant zuwendet, erscheint nahe liegend. Schließlich wies und
weist insbesondere die Fotografie eine große Affinität zum tableau
vivant auf. Als erstarrter Augenblick scheint es geradezu das augenblickliche Klicken der Kameralinse vorwegzunehmen. Gebannt auf
eine Fotografie, reflektiert das tableau vivant unweigerlich jenen melancholischen Moment des »Es-ist-so-gewesen« (Barthes), das jeder Fotografie eignet. So ist die Fotografie, wie Roland Barthes in seinem Buch
Die helle Kammer schreibt, »eine Art urtümlichen Theaters, eine Art
von ›Lebendem Bild‹«.19 Sie »ist das lebendige Bild von etwas Totem«.20 In ihr »zeigt sich die Stillegung der ZEIT nur in einer maßlosen, monströsen Weise: die ZEIT stockt (daher die Beziehung zum
LEBENDEN BILD, dessen mythisches Grundmuster das Einschlafen
Dornröschens ist)«.21
Es mag unter anderem diese starke Selbstreflexivität sein, die das
tableau vivant als Bildinhalt einer Fotografie mit sich bringt, weshalb
sich viele Gegenwartskünstler wieder für das tableau vivant interessieren. Vanessa Beecroft, Gilbert & George, Bettina Rheims, Cindy Sherman, Bill Viola und Jeff Wall, um nur einige zu nennen, haben sich
17. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 21.
18. Vgl. Susan Sontag: Der Liebhaber des Vulkans, Frankfurt am Main 1996.
19. Barthes: Die helle Kammer (wie Anm. 13), S. 88f.
20. Ebenda, S. 41.
21. Ebenda, S. 101.
78
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
gleichermaßen in den letzten Jahren dem Verfahren des tableau vivants
zugewandt. Mal dient es ihnen als perfekte Zitier- und Reproduktionskunst, um bekannte Bildinhalte nachzustellen, dann wieder nutzen sie
es, um sich selbst als living sculptures in Szene zu setzen. Auffällig ist,
dass dabei auch bei ihnen – wie schon bei Goethe in den Wahlverwandtschaften – besonders häufig die Verkörperung, d.h. die körperliche
Einverleibung und Inkorporierung, von Bildern mit der Nahrungsaufnahme bzw. -verweigerung analogisiert wird. Man denke z.B. an den
Film The World of Gilbert and George (1981), in dem es nicht nur um
Männlichkeitsbilder, sondern auch immer wieder um Nahrungsaufnahme, um die Essenskultur der Zeit und um Ekel geht.22
Unter den gerade genannten Künstlern, die sich mehr oder weniger alle für einen produktiven Vergleich mit Goethes Wahlverwandtschaften anbieten würden, stellt die italienische Gegenwartskünstlerin
Vanessa Beecroft jedoch eine Ausnahmeerscheinung dar. Denn im
Gegensatz zu den anderen Künstlern, arbeitet Beecroft vorwiegend mit
dem tableau vivant und lässt es in ihren mehrstündigen Performances
lebendig werden. Zudem verbindet sie in ihren Performances Themenkomplexe wie Magersucht, Verstummen, Bildwerdung und -auflösung, wie sie schon Goethe in seinen Wahlverwandtschaften in der
magersüchtigen Ottilie zusammengeführt hat. Die Chemie zwischen
Goethe und Beecroft scheint also in vielen Punkten zu stimmen.
Über Hungerkünstlerinnen und die Angst,
»aus der Form zu gehen«
Seit 1993 inszeniert Vanessa Beecroft nun schon in regelmäßigen
Abständen »lebende Bilder« aus Fleisch und Blut, die dem Publikum
allerdings nicht – wie noch zu Goethes Zeiten – nur zwei oder drei
Minuten, sondern mehrere Stunden präsentiert werden. Auch ein real
existierender Rahmen fehlt bei Beecroft, sodass grundsätzlich das architektonische, städtische, historische, politische oder landschaftliche
Umfeld zum erweiterten Rahmen ihrer »lebenden Bilder« wird. Der
Rahmen Beecrofts ist im Grunde immer der Rahmen, in dem die jeweiligen Performances stattfinden.
Ihr »Material« sind hingegen meistens nackte, große, überschlanke, wenn nicht gar magersüchtig anmutende Mädchen.23 Die wenigen
22. Gilbert & George: The World of Gilbert and George, 1981, Farbe, 69 min.
23. Vgl. Thomas Kellein: »Das Geheimnis der weiblichen Intimität«, in:
Ders. (Hg.): Vanessa Beecroft. Fotografien, Filme, Zeichnungen, Ostfildern 2004,
S. 6-18, hier S. 9.
79
Alexandra Tacke
Accessoires, die die Frauen tragen, sind je nach Performance diverse
Perücken, falsche Fingernägel, zu enge Dessous oder Nylonstrumpfhosen sowie immer wieder ausgefallene hochhackige Schuhe, die wie
eine Art fetischisierender Sockel wirken. Die wenigen, aber durchweg
einheitlichen Accessoires sowie die einheitlich geschminkte Haut verleihen den Frauenkörpern – trotz Nacktheit – eine Art Uniform. Die
Uniformierung wiederum verstärkt anfangs den Eindruck, mit ein und
derselben Frau nur in mehrfacher Ausführung konfrontiert zu sein.
Die Frauentypen, die Beecroft scheinbar endlos multipliziert, erinnern
dabei – ohne irgendwelche Vorlagen direkt nachzustellen – mal an
klassische Frauendarstellungen von Tizian, Raphael, Piero della Francesca und De Chirico oder rufen Frauenbilder wie die stark androgyne
Twiggy auf. Aber Assoziationen von Show-Girls, Prostituierten und
Stripperinnen kommen ebenso auf, weshalb wohl auch die Einschätzungen der Kritiker stark auseinander gehen.
So wollen einige in den Performances von Vanessa Beecroft nur
eine affirmative Wiederholung von Frauenklischees, eine Anbiederung
an die Modewelt sowie ein Kokettieren mit Stereotypen der »PlayboyBunny-Ära« sehen24, während Roberta Smith von der New York
Times von der befreienden »girl power« schwärmt und die »passiveaggressive quality« des Werks lobt.25 Andere wiederum vermuten in
Beecrofts Mädchen sogar »eine Armada magersüchtiger Heiliger« und
bewundern den »Stoizismus einer tragischen Hungerkünstlerin«, die
Beecroft für sie repräsentiert.26 Leonardo Di Caprio soll hingegen
schlicht und einfach gesagt haben: »›This is dope‹, or cool indeed.«27
Offen und umstritten bleibt also, ob Vanessa Beecrofts Performances
»cool« oder »out«, »art« oder »fashion«, »good« oder »bad«, »sexist«
oder »not« sind.28
Wesentlich interessanter als über eine eventuelle Affirmation oder
Dekonstruktion von Frauenbildern nachzudenken, erscheint mir jedoch ein anderer Aspekt, der zudem für meinen Vergleich mit Goethes
Wahlverwandtschaften wesentlich produktiver ist: nämlich die enge
Verknüpfung der häufig angespielten Krankheit Magersucht und der
24. N.N.: »Peepshow mit Konzept«, in: Art. Das Kunstmagazin, Nr. 5
(2004), S. 30-39, hier S. 37.
25. Roberta Smith: »Standing and Staring, Yet Aiming for Empowerment«,
in: New York Times, 06.05.98 oder auch nachzulesen auf der Homepage von Vanessa Beecroft: www.vanessabeecroft.com (03.03.06).
26. Vgl. die Zusammenfassung der Kritiken in: N.N.: Peepshow mit Konzept
(wie Anm. 24).
27. Smith: Standing and Staring (wie Anm. 25).
28. Ebenda.
80
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Präsentation von Formwerdung und Auflösung eines Kunstwerks.
Denn es geht in den Performances nicht so sehr um die Ausstellung
magersüchtiger Frauen per se, wie oft diskutiert wird, sondern, so meine These, die Performances selbst sind bei Vanessa Beecroft von den
Symptomen der Magersucht befallen.
Die Magersucht, als Krankheit der Ent- und Dematerialisierung,
der Askese und des (Ver-)Schwindens wird bei Beecroft zu einem ästhetischen Manifest. Genau genommen schwinden ihre Bilder selbst.
»Ich übermittle die Unbestimmtheit eines Bildes, das die Mädchen
erzeugen«29, so Beecroft. »Es ist fast ein verwischtes Gemälde, wie ein
Bild von Richter. Man kann es nicht genau erkennen, und dann ist es
weg.«30 Diese Beschreibung Beecrofts scheint jedoch nicht nur auf
ihre eigenen Performances zu passen, sondern generell auf den Zustand der zeitgenössischen Kunst zu verweisen. Denn nicht nur ihre
Performances, sondern das zeitgenössische Kunstwerk generell leidet
an ähnlichen Symptomen wie die Anorektikerin, wie jüngst auch René
Girard in seinem Aufsatz Hungerkünstler festgestellt hat.31 D.h., viele
der heutigen künstlerischen Arbeiten tendieren dazu, sich permanent
zu transformieren, mit der Zeit zu zerfallen, zu ent- und dematerialisieren, mager-minimal und schließlich vollkommen unsichtbar zu
werden. Die Anorexie, die Krankheit des Entzugs und der Askese
schlechthin, wird so zu einem Spiegel einer Ästhetik des Entzugs, der
Reduktion und des Stillstands, wie sie die Performances von Vanessa
Beecroft wiederholt inszenieren.
So wird die Krankheit der Desinkarnation, wie die Magersucht
auch genannt wird, bei Vanessa Beecroft für die Dauer ihrer Performances in jener Kunstform der Inkarnation schlechthin, nämlich dem
tableau vivant, inkarniert, um letztendlich die ständig drohende Desinkarnation freizulegen – ja, diese sogar in ihren Performances wirklich
wahr werden zu lassen, da die anfängliche Bildformation mit der Zeit
immer mehr zerfällt. Die häufig magersüchtig erscheinenden Mädchen ihrer Performances mutieren so zu einer Allegorie für das neue,
unaufhörlich (ver-)schwindende, »unsichtbare Meisterwerk«, wie Hans
29. Vanessa Beecroft zitiert nach Thomas Kellein: »Interview«, in: Ders.:
Vanessa Beecroft (wie Anm. 23), S. 122-154, hier S. 130.
30. Ebenda.
31. Vgl. dazu auch die Zeitdiagnose von René Girard: »Hungerkünstler:
Essstörungen und mimetisches Begehren«, in: Sinn und Form 3 (2005), S. 344362.
81
Alexandra Tacke
Belting Performance- und Installationskunst gleichermaßen in seinem
gleichnamigen Buch bezeichnet hat.32
Entsprechend reduktionistisch und minimal sind auch die Regeln,
die die jungen Frauen während der mehrstündigen Performances zu
befolgen haben. Erst kurz vor den Performances gibt Beecroft ihnen
immer die gleichen Anweisungen: »Haltet den Mund! Sprecht nicht!
Geht raus! Steht still! Bewegt Euch langsam! Agiert nicht! Lächelt
nicht! Fallt nicht zur selben Zeit hin! Reagiert nicht auf das Publikum!
Schaut niemanden direkt an! Wartet auf das Ende!«33 Nachdem Beecroft an-, auf- und hergestellt hat, verschwindet sie meistens selbst, um
nicht mit ansehen zu müssen, wie aus jener »sehr saubere[n], präzise[n], asexuelle[n], ikonische[n] Idee«34, die sie ursprünglich hatte,
langsam Unordnung und Chaos wird.35 Oder wie »sich ein Donald
Judd in einen Jackson Pollock verwandelt«36, denn vor nichts habe sie
so viel Angst gehabt, wie »aus der Form zu gehen«. In ihren Performances wird diese Angst immer wieder durchgespielt.
Beecrofts Bildformationen ändern sich laufend. Genau genommen
wird ein Zerstörungswerk in Gang gesetzt, ein Bild des Aufschubs und
des Zerfalls, ein Bild, das langsam verhungert und mager wird, wie
z.B. auch die mehrstündige Performance VB 48 im Palazzo Ducale in
Genua, die kurz vor dem G-8-Gipfel am dritten Juli 2001 stattfand, und
deshalb neben üblichen Themen wie Absterben, Auflösung und Verschwinden eines Bildes zudem noch durch die Verwendung von überschlanken, schwarzen Models Assoziationen an den Welthunger aufkommen ließ und dadurch indirekt auf den »blinden Fleck« der Industrienationen verwies (vgl. Abb. 1 und 2).
32. Vgl. Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen
der Kunst, München 1998.
33. Vanessa Beecroft zitiert nach Kellein: Das Geheimnis der weiblichen Intimität (wie Anm. 23), S. 7.
34. Vanessa Beecroft zitiert nach Kellein: Interview (wie Anm. 23), S. 137.
35. Vgl. Keith Seward: »Klassische Grausamkeit«, in: Parkett 56 (1999),
S. 101-103, hier S. 103.
36. Vanessa Beecroft zitiert nach: N.N.: Peepshow mit Konzept (wie Anm.
24), S. 38.
82
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Abbildung 1 und 2: Vanessa Beecroft, VB 48,
Performance im Palazzo Ducale (Genua)
am 3. Juli 2001 vor dem G8-Gipfel.
Jene minimale Ästhetik des Stillstands, des Aufschubs, der absoluten
Entleerung und des Nullpunkts, die nicht nur VB 48, sondern alle
Performances von Vanessa Beecroft auszeichnet, wird gerade durch
das Verbot, etwas darzustellen oder gar Emotionen und Affekte zu
zeigen, aber auch das auferlegte Redeverbot verschärft. Ein kaum noch
zu radikalisierender Entzug der Darstellung wird stattdessen performt.
Für einige Stunden herrscht Schweigen und ein auf dem Warten basierender Ausnahmezustand: die Zeit stockt. Stundenlang wartend, passiert für das Publikum fast nichts oder vielleicht gerade das Nichts,
denn die Performances der »Hungerkünstlerin« Beecroft – wie sie sich
selbst immer wieder gerne stilisiert – sind und bleiben magere Kost,
Minimal Art.
83
Alexandra Tacke
Das Motto der Minimalisten, in deren Tradition sich Vanessa
Beecroft neben die Body Art Bewegung einzuschreiben versucht37, ist
insofern auch auf ihre Performances applizierbar: »What you see is
what you see.«38 Nicht mehr und nicht weniger! Oder besser: nicht
mehr, aber auch nicht weniger, denn vielleicht ist bei der Betrachtung
jenes Nichts doch noch etwas mehr zu sehen als eine reine optische
Evidenz? Ein »Mehr«, das der Wiederkehr des Verdrängten gleicht,
und dem nur schwer ins Auge zu blicken ist? Ein »Mehr«, das besticht,
einen schlagartig trifft und einer »visuellen Wunde« gleicht? Sieht man
vielleicht gerade den Verlust, die Zerstörung, das Verschwinden und
Vergehen der Zeit selbst?
Die Rahmung der Rahmenbedingungen
August Langen hat in seiner Studie Anschauungsformen in der deutschen
Dichtung des 18. Jahrhunderts (1934) die rationalistische Rahmungsmanie mit dem Begriff der Rahmenschau gefasst. Die Rahmenschau
lässt sich »als Versuch begreifen, Kontingenzerfahrungen und verwirrende Sinnesvielfalt zu bewältigen, um sich die Welt als simultan überschaubares Bild […] herzurichten«.39 Zweck der Rahmenschau ist insofern vor allem die Fasslichkeit, Deutlichkeit und Übersichtlichkeit40,
wobei diese in erster Linie durch drei Momente bewerkstelligt werden:
Umrahmung, Bewegungslosigkeit und Zusammenschau. Hauptrahmungsapparat ist neben Fenstern, Spiegeln und anderen technischen
Hilfsmitteln auch der menschliche Kopf selbst, wie es die Literatur des
18. Jahrhunderts suggeriert. Der »rationalistische Guckkastenmensch«,
wie ihn Langen zeichnet, ist jemand, der gar nicht mehr anders kann
als alles, was ihm unter die Augen kommt, einzurahmen und in eine
geschlossene, umgrenzte Form zu gießen. Alles will er fassen und (auf-)
37. Vanessa Beecroft fordert z.B. in einem Interview mit Thomas Kellein:
»Ich hätte gern, dass das jemand als ein sehr klares und minimalistisches Bild beschreibt.« (Kellein: Interview [wie Anm. 23], S. 128).
38. Frank Stella zitiert nach Bruce Glaser: »Fragen an Stella und Judd«, in:
Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel
1995, S. 35-58, hier S. 47.
39. Nils Reschke: »›Die Wirklichkeit als Bild‹. Lebende Bilder in Goethes
Wahlverwandtschaften«, in: Jürgen Fohrmann, Andrea Schütte, Wilhelm Voßkamp
(Hg.): Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert,
Köln 2001, S. 42-69, hier S. 44.
40. Vgl. August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des
18. Jahrhunderts (Rahmenschau und Rationalismus), Jena 1934, S. 6ff.
84
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
klären. Seine Rahmungsmanie findet dabei insbesondere im Kunststil des Rokoko bzw. Spätbarock (1720-1780) ihren Niederschlag, ja
scheint hier fast auf die Spitze getrieben zu sein. Spiegel, Gemälde,
Deckenfresken, Kamine, Fenster und Nischen werden gleichermaßen
durch Stuckaturen oder pompöse Goldrahmen gerahmt und unterteilt.41
Kurzum, es herrscht ein horror vacui, den es zu zähmen gilt. So
werden nicht nur Bilder und Spiegel eingerahmt, sondern auch noch
der Rahmen des Bildes und dann wieder der gerahmte Rahmen und so
fort. Vor lauter Rahmen droht der »rationalistische Guckkastenmensch« letztendlich nicht mehr die Welt zu sehen und zu verkennen,
dass er als Betrachter immer schon einen Fuß im Rahmen selbst hat
und die Welt nur sehr schwer oder besser gar nicht auf übersichtliche
Distanz gehalten werden kann. Außerdem verkennt er, dass der Rahmen selbst schon äußerst problematisch ist und zahlreiche Fragen
aufwirft, wie Jacques Derrida in seinen Erörterungen über das Parergon
hervorgehoben hat: »Wo hat der Rahmen seinen Ort. Hat er einen Ort.
Wo beginnt er. Wo endet er. Was ist seine innere Grenze? Seine äußere Grenze? Und seine Oberfläche zwischen den beiden Grenzen?«42
Auch wenn noch Relikte des Hangs zur übersichtlichen Rahmenschau in Goethes Wahlverwandtschaften zu finden sind, unterscheidet
sich Goethe von seinen schriftstellerischen Vorläufern dadurch, dass er
den Akt der Rahmenschau und der Rahmung nicht nur zum expliziten
Thema macht, sondern als solchen problematisiert und kritisch beleuchtet. Genau genommen kann man Goethes Roman als eine permanente Rahmungs- und Entrahmungs-Bewegung lesen, denn nach
jeder Rahmensetzung folgt sogleich auch schon die Rahmensprengung: sei es durch eine explizite Thematisierung des Rahmens oder
durch eine Art Rahmen-im-Rahmen-Struktur, die nicht selten die
Rahmenbedingungen des Romans reflektiert.
Das Begehren nach Rahmensprengung und Entgrenzung zeigt
sich im Roman am deutlichsten an der Figur des Eduard.43 Die wohlgeordnete und gerahmte Welt, die seine Frau Charlotte ihm durch das
Fenster am Anfang zeigt, wird ihm schnell zu eng.44 Zudem werden
die Figuren in den Wahlverwandtschaften permanent in den Blick gefasst und gerahmt, um dann im nächsten Augenblick wieder aus dem
Bild zu fallen: sei es, weil sie die Idealbilder nicht ganz er- und ausfüllen können oder sie einfach nur sprengen wollen. Außerdem werden
41. Vgl. ebenda, S. 38.
42. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 84.
43. Vgl. zur Entgrenzung Wellbery: Die Wahlverwandtschaften (wie Anm.
14), S. 307ff.
44. Vgl. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (wie Anm. 9), S. 12.
85
Alexandra Tacke
in den Wahlverwandtschaften immer wieder Handlungsvorgänge »doppelt inszeniert, insofern sie medialisiert, noch einmal im Medium des
Bildes, der Sprache oder allgemeiner gesprochen: im Medium des
Kunstwerks reflektiert werden«.45 Verdoppelungen, Spiegelungen und
Wiederholungen im Roman tragen dazu bei, dass die Rahmenbedingungen selbst beständig reflektiert werden. In der deutschen Literatur
lässt sich deshalb wohl auch nur schwerlich ein Roman finden, wie David Wellbery hervorgehoben hat, »in dem der Signifikant, und zwar in
seiner Materialität, so emphatisch […] thematisiert«46 wird wie in den
Wahlverwandtschaften.
Etwas einzurahmen bedeutet immer, etwas eingrenzen und somit
von anderem abgrenzen zu wollen. All das, was ausgegrenzt ist, ist das
Außerhalb des Rahmens, das Off oder auch das Hors du Champs. Genau hier im Off, im aus- und abgestellten, meistens auch tatsächlich
dunklen, blinden Feld, ist die Position des Bildbetrachters – und in
gewisser Weise auch die des Lesers – zu finden. Dieser Dunkelbereich
kann aber auch ausgeleuchtet werden, und genau das tut Goethe in
seiner Beschreibung der drei tableaux vivants, in denen Luciane durch
den Architekten in Szene gesetzt wird.
Das betrachtende Publikum im dunklen Umfeld rückt von Bildbeschreibung zu Bildbeschreibung immer mehr in den Vordergrund und
scheint sogar am Ende nicht nur die gerahmte Illusion des tableau
vivants durch einen laut geäußerten Einwurf zum Einstürzen zu bringen, sondern auch den Leser an seinen momentanen Leseakt zu erinnern. Filmtechnisch gesprochen könnte man sagen: Anstatt dass die
nachgestellten Bilder immer näher von der »Erzählkamera« des Romans angezoomt werden, um so die Illusion zu verstärken, fährt diese
immer weiter nach hinten, um so mehr vom Off, von den Betrachtern
und von den Rahmenbedingungen ins Blickfeld zu bekommen. Die
Bildbeschreibungen bleiben insofern nicht nur Bildbeschreibungen,
sondern werden letztendlich zu einer Betrachtung der betrachtenden
Betrachter, zu einer Beobachtung der Beobachtung, einer Repräsentation der Repräsentation47 und dadurch auch zu einer Rahmung der
Produktions-, Rahmen- und Rezeptionsbedingungen.
Bei der Inszenierung des ersten tableau vivant, dem blinden Belisar
von Luciano Borzone, wird das Publikum zunächst noch nicht vom
Erzähler erwähnt. Dafür gibt es im nachgestellten Bild selbst einen
45. Öhlschläger: ›Kunstgriffe‹ oder Poiesis der Mortifikation (wie Anm. 16),
S. 188f.
46. Wellbery: Die Wahlverwandtschaften (wie Anm. 14), S. 301.
47. Vgl. dazu Michel Foucaults entsprechende Ausführungen zu Velasquez’
Las Meninas in Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1999, S. 31ff.
86
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
stellvertretenden Betrachter, nämlich den um 90 Grad gedrehten Soldaten, der vor dem blinden General »teilnehmend-traurig«48 steht
und dadurch die mitleidende Empathie widerspiegelt, die die tableauvivant-Betrachter empfinden sollen. In der zweiten Nachstellung, dem
Motiv von Ahasverus und der ohnmächtigen Esther nach Nicolas Poussin, wird das Publikum selbst zwar auch noch nicht ganz von dem
Erzähler in den Vordergrund gerückt, dafür wird ausdrücklich auf die
aus allen Bildern ausgeschlossene Ottilie verwiesen, die außerhalb der
Darbietung am Rande steht.
Beim dritten und letzten Bild, der Väterlichen Ermahnung von
Terburg, löst die ausschließliche Rückenansicht, die Luciane dem Publikum bietet, allerdings heftige Reaktionen aus und führt sogar zu
einem Zwischenruf, der nicht nur die Illusion des nachgestellten Bildes zum Einstürzen zu bringen droht, sondern auch die Illusion des
Romans. Denn der Ausruf »tournez s’il vous plaît«49 eines »lustigen
ungeduldigen Vogels« wird durch die Zusatzworte, »die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt«50, nicht nur zu
einem Zwischenruf, der das nachgestellte Bild zum Einstürzen zu
bringen droht, sondern auch zu einer Lektüreaufforderung an den
Leser des Romans, die dem Leser seinen momentanen Leseakt erst ins
volle Bewusstsein ruft. »Im Verweis auf bedruckte Vorder- und Rückseiten des Buchtextes als mediale Differenz zu Tafelbild oder Druckgraphik nimmt der Roman«51, wie Nils Reschke bemerkt, auch »die
Frage nach der ›Anschaulichkeit‹ des Textes als eine nach der Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Schriftzeichen« auf.52
Das Problem der Unsichtbarkeit bzw. des blinden Feldes wird
allerdings schon in allen drei tableaux vivants mitreflektiert. Denn die
Beschränktheit des Visuellen wird durch Themen wie Blindheit im Fall
des blinden Belisar, Blendung/Ohnmacht im Fall von Esther und
Blickentzug im Fall der ausschließlich als Rückenansicht gezeigten
Tochter gleichermaßen vorgeführt. Blindheit, Blendung und Blickentzug entlarven
48. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (wie Anm. 9), S. 152.
49. Ebenda, S. 153f.
50. Ebenda.
51. Nils Reschke: »Das Kreuz mit der Anschaulichkeit – Anschauung über/s
Kreuz. Die Lebenden Bilder in den Wahlverwandtschaften«, in: Helmut J. Schneider, Ralf Simon, Thomas Wirtz (Hg.): Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur
schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Bielefeld 2001, S. 113-143, hier S. 116.
52. Ebenda.
87
Alexandra Tacke
»die subjektiven Bedingungen und Beschränkungen metaphorischer Substitutions- und Verstehensprozesse. Goethe […] verweist […] auf den Rezipienten als
Bestandteil der Darstellung, um der Utopie kontextunabhängiger Bedeutungsschau ihre Suggestivkraft zu rauben. Indem er dabei […] Sujets wählt, welche
die Verhinderung unmittelbarer face-to-face-Kommunikation veranschaulichen,
überträgt er den hermeneutischen Skeptizismus des Romans auch in die Bildkonfiguration.«53
Der blinde Fleck der Tableau-vivant-Inszenierungen des Romans ist
damit nicht nur im ausgegrenzten, dunklen Off des Publikums zu
finden, das sukzessiv vom Erzähler immer mehr ausgeleuchtet wird,
sondern punktiert zudem alle drei Sujets der nachgestellten Bilder.
Das punctum als aus dem Rahmen tretende
»visuelle Wunde«
Punctum, wie es Roland Barthes definiert, meint wunder Punkt, »Stich,
kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel.
Das punctum […], das ist jenes Zufällige […], das mich besticht (mich
aber auch verwundet, trifft).«54 Sobald »ein punctum da ist, entsteht
(erahnt man) ein blindes Feld«.55 Das punctum ist das, was aus dem
Rahmen tritt.56 Blitzartig eröffnet sich »eine zeitweilige Leere«. Doch
so unerwartet das punctum auch »auftauchen mag, so verfügt es doch,
mehr oder weniger virtuell, über eine expansive Kraft. Diese Kraft
ist oft metonymisch.«57 Das punctum zeichnet sich also dadurch aus,
dass es wuchert, verunsichert, sprachlos macht und nicht durch einen Code zu fassen ist. Es ist mithin »eine Art von subtilem Abseits,
als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen
lässt«.58
53.
54.
55.
56.
57.
58.
Ebenda, S. 136.
Barthes: Die helle Kammer (wie Anm. 13), S. 35f.
Ebenda, S. 66.
Vgl. ebenda.
Ebenda, S. 55.
Ebenda, S. 68.
88
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Abbildung 3 und 4: Vanessa Beecroft, VB 51,
Performance mit Hanna Schygulla im Schloss
Vinsebeck (Steinheim) am 30. August
und 1. September 2002.
89
Alexandra Tacke
Buchstäblich aus dem Rahmen fallen tat auch die komplett in Schwarz
gekleidete Hannah Schygulla in der Performance VB 51 von Vanessa
Beecroft, die 2002 im Régence-Saal des Schlosses Vinsebeck stattfand.
Den dreißig Teilnehmerinnen hatte Beecroft vor ihrem Auftritt erklärt,
dass die Performance drei Akte haben werde. »Der Beginn eines jeden
Aktes würde […] mit einer Klingel angezeigt. Die Frauen warteten, die
Künstlerin verschwand.«59
Abbildung 5: Vanessa Beecroft, VB 51, Performance im Schloss
Vinsebeck (Steinheim) 30. August und 1. September 2002.
Unten rechts: Vanessa Beecroft, die an der Stelle der Signatur buchstäblich
aus dem Rahmen fällt.
Dann standen die als bleiche Aristokratinnen geschminkten und in
weiße Brautkleider und Gewänder gehüllten, weitgehend älteren Frauen wie in Trance mehrere Stunden fest und warteten vergeblich auf das
Klingelzeichen. Erst langsam wagten sie sich eine nach der anderen
von ihrem Platz, bewegten sich zaghaft durch den Raum, setzten sich
oder legten sich sogar schließlich hin.
Entgegen Vanessa Beecrofts ursprünglicher Idee, die vorsah, alle
Teilnehmerinnen in Weiß zu hüllen, bestand Hanna Schygulla auf ein
schwarzes Kleid und darauf, singen zu dürfen, sodass die Performance
nicht nur auf der visuellen, sondern auch auf der akustischen Ebene
gestört wurde. Zum einen befleckte das schwarze Witwenkleid das blütenweiße, jungfräuliche, monochrome Bild, das die ansonsten hell
gekleideten »Bräute« abgaben. Zum anderen durchbrach die Stimme
Schygullas das Schweigen der anderen Frauen und markierte es als
solches. »Als schwarze, bewegte Gestalt tauchte sie inmitten des Weiß
59. Kellein: Das Geheimnis der weiblichen Intimität (wie Anm. 23), S. 7f.
90
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
des Raumes und der regungslosen Darsteller auf, flüsterte und sang
auf deutsch, englisch und französisch eine Art autobiographisch
gefärbten Kommentar zum Thema der Performance.«60 Schygullas
Stimme pendelte dabei zwischen betörender Sirenenstimme und trauerndem Klagegesang. Roland Barthes hat einmal darauf hingewiesen,
dass es insbesondere die menschliche Stimme sei, die tatsächlich der
privilegierte (eidetische) Ort des Unterschieds sei,
»ein Ort, der sich jeder Wissenschaft entzieht, da es keine Wissenschaft gibt […],
die der Stimme gerecht wird […], es wird immer ein Rest bleiben, ein Zusatz, ein
Lapsus, etwas Unausgesprochenes, das auf sich selbst verweist: die Stimme. […]
Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens
wäre – oder des Abscheus.«61
Mit Schrecken hat zunächst auch Vanessa Beecroft auf die Regelverstöße von Hanna Schygulla reagiert: Als ich »den schwarzen Flecken
im Bild entdeckte wurde ich verrückt. Warum hatte ich das überhaupt
zugelassen?«62 Erst später änderte Beecroft ihre Meinung und dankte
Schygulla sogar für ihren Mut »das strikte Regelwerk und den ›modus
operandi‹«63 der Performance gewinnbringend gesprengt zu haben.
Neben ihrem Instinkt und ihrer Ambiguität lobte Beecroft vor allem
Schygullas Undurchdringlichkeit: »Der Eindruck, den wir von ihr
haben […], ist der einer Undurchdringlichen – sie lässt sich nicht greifen. Sie ist dieses unerreichbare, obskure Objekt der Begierde, das uns
abwechselnd anzieht und abstößt.«64
Jenes obskure Objekt der Begierde in die Mitte jenes prächtigen
Régence-Saals zu platzieren, der durch seine unzähligen Goldrahmen
und Stuckaturen geradezu den Horror vacui der Rokokozeit widerspiegelt, bekommt freilich eine zusätzliche Brisanz, wenn man bedenkt,
dass es auch das Ziel der Performances von Beecroft ist, die Zuschauer
auf ihren ganz eigenen Horror vacui zu verweisen.
»What you see« ist deshalb auch längst nicht nur »what you see«;
das ist die Wahrheit der Malerei, wie sie Jacques Derrida in seinem
60. Vanessa Beecroft: »Dieses obskure Objekt der Begierde«, in: Lothar
Schirmer (Hg.): »Du … Augen wie Sterne«. Das Hanna Schygulla Album. Porträts,
Texte, Filmstills und Interviews, München 2004, S. 190.
61. Roland Barthes: »Die Musik, die Stimme, die Sprache«, in: Ders.: Der
entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 279-285,
hier S. 280.
62. Kellein: Interview (wie Anm. 23), S. 137.
63. Beecroft: Dieses obskure Objekt der Begierde (wie Anm. 60), S. 190.
64. Ebenda.
91
Alexandra Tacke
gleichnamigen Buch offen gelegt hat. Denn neben dem, was ich ansehe, gibt es immer auch noch das, was aus dem Rahmen tritt, mich
anblickt, mich besticht und einer visuellen Wunde gleicht.65 Egal, ob
es sich dabei um ein punctum, jenes obskure Objekt der Begierde oder
lediglich jenes »Unausgesprochene« der Stimme handelt, sie verstören
und faszinieren gleichermaßen, ziehen an und lassen momentan ein
blindes Feld aufblitzen.
Jenen (An-)Blick gilt es allerdings immer wieder abzuwenden, zu
zähmen, zu retardieren und umzulenken, wie Derrida aufgezeigt hat:
sei es durch Fetische wie Zöpfe, lange Fingernägel oder spitze Schuhe
(Accessoires, die Vanessa Beecroft auffällig häufig gebraucht, bei Goethe dagegen werden Kisten, Koffer und Schwellen mit einer ganz ähnlichen Funktion eingesetzt) oder auch durch Rahmen, Säulen oder
Bekleidung, die so genannten Parerga (Beiwerk, Zierrat). Was wäre
aber nun, so fragt Derrida weiter, wenn jene Parerga gerade der Mangel
selbst wären, den sie eigentlich zu verdecken und aufzuschieben vorgeben. Derrida kommt deshalb zu dem Schluss, dass es genau der
Mangel ist, der für die Einheit des Ergon konstitutiv ist. »Ohne diesen
Mangel bedürfte das Ergon nicht des Parergon. Der Mangel des Ergon ist
der Mangel des Parergon.«66 Oder noch genauer: »Ein Parergon tritt
dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen,
zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und
wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Inneren des Verfahrens
mit: weder einfach außen noch einfach innen.«67 Daher bedeutet auch
der Wunsch, sich vor dem Werk schützen zu wollen, sich vor dem
schützen zu wollen, was in ihm selbst mangelt, »nicht gegen den Mangel als setzbares oder entgegensetzbares Negativ, als substanzielle
Leere, bestimmbare und umrandete Abwesenheit […], sondern gegen
die Unmöglichkeit, die Differance in ihrem Umriß festzuhalten, das
Heterogene (die Differance) in der Haltung zu überprüfen«.68
Auch Beecroft und Goethe setzen enorme Verschleierungspraktiken in Gang. Beide lassen dabei jedoch immer wieder – gerade durch
jene komplexen Rahmen-im-Rahmen-Strukturen, wie im Falle von
Goethe, oder durch visuelle Störungen, wie im Falle von Beecroft – die
Schleier in gewisser Weise fallen und gewähren einen kurzen Blick
dahinter. Den Schleier dennoch zu durchlöchern, zu beflecken und zu
punktieren, das ist die tatsächliche Schamlosigkeit der Darstellung, die
65. Vgl. Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an (wie Anm. 17), S. 19ff.
und S. 63ff.
66. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (wie Anm. 42), S. 80.
67. Ebenda, S. 74.
68. Ebenda, S. 103.
92
Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Beecroft sowie Goethe – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise –
in Szene setzen. Das blinde Feld außerhalb des Rahmens wird dabei
ebenso von ihnen offen gelegt wie blinde Flecke im Bild, um so den
Betrachter/Leser wiederholt auf sich selbst und seine eigene momentane Situation zurückzuwerfen. Beide thematisieren und problematisieren auf diese Weise nicht nur den Rahmen und die Rahmenbedingungen, sondern sprengen diese auch, um so jenes Zufällige, jenen
wunden Punkt, wenigstens zeitweise aus dem Rahmen treten zu lassen
und ein subtiles Abseits zu markieren, »als führe das Bild des Verlangens über das hinaus, was es erkennen lässt«.69
69. Barthes: Die helle Kammer (wie Anm. 13), S. 68.
93
Krieg spielen
Krieg spielen.
Ein britischer wissenschaftlicher Film (1918)
und eine BBC-Documentary (2002)
Julia B. Köhne
Zwei Filme zum Ersten Weltkrieg vergleichen
Diverse kulturelle Phänomene in Großbritannien sind noch heute vom
Ereignis des Ersten Weltkriegs und von seinen für die eingesetzten
Soldaten und die zivile Bevölkerung traumatisierenden Schlacht- und
Lebenssituationen durchdrungen. Die Orte und Bilder der Erinnerung
an den Great War, die mitunter wie besessen gepflegt und frequentiert
werden, sind vielfältig. Zu ihnen gehören kollektive Festivitäten und
Gedenktage und -gottesdienste ebenso wie Internetseiten. Militärmuseen mit diversen Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg sind über das
ganze Land verteilt – es wird von hunderten gesprochen.1 Die 2002
gestaltete Homepage The Trench – Visit Museums with WW1 Exhibits2
listet exemplarisch 26 dieser »Orte des Gedenkens« auf.3 Neben dem Informationstransport ist den Ausstellungen und Internetseiten zudem
1. Eine ausführliche Liste kann eingesehen werden unter: www.armymu
seums.org.uk (10.02.06).
2. www.24hourmuseum.org.uk/trlout_gfx_en/TRA12011.html (10.02.06).
3. Die Museen haben ihre Ausstellungen teilweise besonders auf Kinder
ausgerichtet, zu deren schulischem Lernstoff die war poems als fester Bestandteil
gehören. Teil des nationalen Curriculums ist es, dass SchülerInnen der Geschichte
mit 15 oder 16 Jahren den »Great War« intensiv studieren. Deswegen sind die
Museen oft übervoll mit Schulklassen und es gibt extra Webpages für Kinder. Auf
den Seiten BBC for Kids werden interaktive Kriegsspiele angeboten. Ein Spiel
heißt: »Experience the danger of a First World War battle. Can you win the day, or
will you be responsible for thousands of deaths?«, www.bbc.co.uk/schools/worl
dwarone/hq/games.shtml (10.02.06).
95
Julia B. Köhne
häufig etwas Spielhaftes zu eigen. Sie ermöglichen es beispielsweise,
die Besonderheit der Schützengrabensituationen und ihre traumatischen Effekte wie etwa die Shell-shock-Fälle (Granatschock, Kriegshysterie) dieses ersten Krieges mit modernen Massenvernichtungswaffen
visuell nachzuvollziehen und nachzuspielen. Dies offeriert etwa das
Imperial War Museum in London, in welchem seit dem 30. Juni 1990
die »re-creation« eines Schützengrabens einschließlich enervierender
Geräuschkulisse aus Kampf- und Waffenlärm begehbar ist;4 etwas
Ähnliches gibt es im National Army Museum in London-Chelsea und
im Tank Museum in Bovington, Dorset. Kriegshysteriker werden als
diejenigen angesehen, die die körperlichen und psychischen Überforderungen des Krieges zeichenhaft sichtbar machen und somit die geläufigen Funktionen und Bedeutungssysteme von Militär infrage stellen. Am Ende seiner Studie Shell Shock von 2002 weist Peter Leese den
Kriegshysterikern einen ikonischen Status im kollektiven Erinnerungsraum zu:
»The memory of shell shock has remained potent too, because it has become the
first and most powerful expression of the destructive effects of industrial warfare
on the mind, of the war generation’s tragedy.«5
In diesem Aufsatz wird die Frage der anhaltenden Potenz der Erinnerung an die verletzten und verstorbenen Soldaten aufgegriffen. Weiterführend wird dem Grund dafür nachgegangen, die Erinnerung an den
Ersten Weltkrieg durch kommerzielle und nationale Formen des Gedenkens derart nachdrücklich wach zu halten. Hängt dies mit der
kollektiven Wahrnehmung zusammen, der Massentod im Stellungskrieg sei unsinnig gewesen: beinahe eine Million Männer seien innerhalb von vier Jahren ohne klar erkennbaren Grund gestorben?
Im Ersten Weltkrieg war Großbritannien durch ein Bündnis verpflichtet, mit Frankreich militärisch zu kooperieren (Entente Cordiale,
seit 1904). Die militärischen Ziele, die Großbritannien dabei selbst
verfolgte, waren für die Bevölkerung jedoch nicht immer nachvollziehbar. Aus diesem Grund wurde der massive Einsatz der britischen Soldaten aus der Heimatperspektive im Verlauf des Krieges zunehmend
als ein Verheizen von jungen Männern wahrgenommen. Im Stellungskrieg gab es monatelang wenig bis keinen Geländegewinn. Die immobile Frontlinie wurde zu einem Gebiet, in das von beiden Seiten Soldaten für nichts und wieder nichts in den Tod geschickt wurden. Der Ver4. http://london.iwm.org.uk/server/show/ConWebDoc.1471 (10.02.06).
5. Peter Leese: Shell Shock. Traumatic Neurosis and the British Soldiers of
the First World War, Houndmills u.a. 2002, S. 176.
96
Krieg spielen
brauch von Menschenmaterial, die personellen Verluste wurden als
unverhältnismäßig zu einem wie auch immer gearteten Gewinn gesehen. Dies drückt sich auch in dieser popularisierten Phrase aus: »The
battle became a metaphor for futile and indiscriminate slaughter.«6
Ist es diese Aproportionalität, die die Briten zu immer neuen kreativen
Kriegsspielen drängt, deren Beliebtheit augenscheinlich über die Grenze des 20. Jahrhunderts hinausreicht?
Mit Stephen Greenblatt geht dieser Text der Frage nach, inwiefern
die traumatischen »sozialen Energien« der Zeit um 1918 bis in die
heutige Zeit weiterwirken.7 In welcher Form tauchen individuelle
und kollektive Traumatisierungen, die im Zusammenhang mit dem
Ersten Weltkrieg gesehen werden, wieder auf? Mittels welcher imaginärer Verbindungslinien geschieht dies? Können die kulturellen
Kriegsspiele, die das Erleben derer nachstellen, »who gave their lives so
long ago [for the sake of the nation, J.K.]«8, als Symptome für untergründige nationale Verletzungen gelesen werden, die heute noch kulturelle Phänomene beeinflussen? Die Fragestellung des vorliegenden
Aufsatzes geht von der Prämisse aus, dass bei einigen der geschilderten Formen interaktiven In-der-Situation-Seins9 nicht nur die Möglichkeit zum Nachvollziehen des Vergangenen geboten wird, sondern
die Vorstellung besteht, dass durch eigenes Agieren, mittels Interaktion eine Differenz in den Verlauf von Geschichte eingetragen werden
könne. Wird in den Beispielen mit der Phantasie gespielt, Geschichte
rückwirkend transformieren zu können? Imaginieren die Erste-Weltkrieg-Spieler im heutigen Großbritannien, sie könnten den Krieg im
Spiel überleben und überstehen – stellvertretend für die Verstorbenen?
Wie sieht das Heilungsversprechen aus, das hier nachträglich produziert wird?
Um diese Fragen zu konkretisieren, werde ich im Folgenden zwei
Filme miteinander vergleichen. In beiden geht es um Spielformen mit
den Themen Schützengraben und Traumatisierungen durch den Ers6. www.britannica.com/ebc/article?eu=404398&query=battle%20of%20
the%20somme&ct= (10.02.06).
7. Stephen Greenblatt: »Die Zirkulation sozialer Energie. Einleitung«, in:
Ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance,
Frankfurt am Main 1993 [1988], S. 9-33; sowie Ders.: »Grundzüge einer Poetik
der Kultur«, in: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern,
Berlin 1991 [1990], S. 119f.
8. Siehe www.24hourmuseum.org.uk/trout/tra12011.html (10.02.06).
9. www.bbc.co.uk/history/war/wwone/launch_ani_western_front.shtml
(10.02.06). In diesem Animations-Spiel können die Frontverläufe und Schlachten
studiert werden.
97
Julia B. Köhne
ten Weltkrieg. Im einen Fall handelt es sich um ein aufwendiges TVProjekt der British Broadcasting Corporation 2, die Serie The Trench10
vom Sommer 2001. Hier spielen junge freiwillige Männer die Schützengrabensituationen des Ersten Weltkriegs nach. Sieht es zunächst so
aus, als ob die Serie primär zu Unterhaltungs- und Geschichtsvermittlungszwecken produziert wurde, wird bei näherer Untersuchung klar,
dass der Film überdies das Versprechen auf nachträgliche Heilung der
seelischen Verletzungen in sich birgt, die die Soldaten im Ersten Weltkrieg erlitten haben. Diese documentary wird mit dem Ende des militärpsychiatrischen Films War Neuroses von 191811 konfrontiert, das
den Titel The Battle of the Seale Hayne trägt. Dieser Film verdeutlicht,
dass es neben individuellen Heilungen von Shell-shock-Patienten damals auch schon um das Versprechen auf eine übergeordnete, nationale Form von Heilung ging. Beide Filme zeigen eine britische Form des
Kriegspielens in zeitlicher Verzögerung zum Ereignis des Ersten Weltkriegs. Einmal wenige Wochen nach der Erfahrung der Schützengrabensituation und das andere Mal mit 85 Jahren Verspätung »faken«
männliche Soldaten-Darsteller die Kampf-, Geräusch- und Lebenssituationen des Krieges. Die Vergleichbarkeit besteht darin, dass beide
Filme einerseits von der Tatsache ausgehen müssen, dass es eine
Rückkehr zu einem Zustand von Unversehrtheit weder auf individueller noch auf kollektiver Ebene gab. Andererseits suggerieren sie filmisch, dass es eine solche Wiederherstellung doch geben könnte.
In Anlehnung an den von Elisabeth Bronfen entwickelten Begriff
des cross-mapping12 möchte ich die Kartografien der beiden Filme
entwerfen und übereinander legen. Durch den Vergleich der Filme
über diesen großen historischen Zeitraum hinweg (1918/2002) werden
die Unterschiede aber auch die Ähnlichkeiten der Heilungsversprechen
herausgearbeitet. Die (Un-)Vergleichbarkeit liegt auf zeitlicher (1918
versus 2002), medialer (wissenschaftlicher Film versus TV-Produktion)
10. The Trench. BBC Two Bristol, Real-Life-Documentary, Produzent: Dick
Colthurst, ausgestrahlt im Programm A,B,C, am 20.02., 18.03. und 25.03.02, jeweils 58 min., Pre- and Postproduction »films at 59«, www.filmsat59.com (10.06.
06).
11. »The Battle of Seale Hayne, directed, photographed and acted by
convalenscent war neurosis patients« (1:25), in: War Neuroses, aufgenommen im
Royal Victoria Hospital in Netley 1917 und im Seale Hayne Military Hospital 1918
von Dr. A.F. Hurst und Dr. J.L.M. Symns, 8:05 min., 1917/18.
12. Elisabeth Bronfen: »Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache«, in: Lutz Musner, Gotthart Wunberg
(Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 110112.
98
Krieg spielen
und inhaltlich-repräsentativer Ebene (individuelles versus kollektives
Spiel mit einer Re-Traumatisierungssituation). Neben der Frage nach
der je spezifischen Verschränkung von Trauma- und Spielbegriff in
beiden Filmen stehen die unterschiedlichen filmischen Strategien im
Zentrum, mittels derer so etwas wie Realität bzw. Authentizitätseffekte
und deren Irritationen erzeugt werden.
Liaison von Trauma und Spiel: re-enactments
Was die beiden Filme neben dem Heilungsversprechen zunächst
vergleichbar macht, ist, dass in beiden die Begriffe Trauma und Spiel
im Mittelpunkt stehen. In ihnen wird ein in der Vergangenheit liegendes traumatisches Erlebnis im Spiel reaktiviert. Es geht um die Verschränkung von realen individuellen und nationalen Traumata, die auf
der Ebene des Spiels wiederholt bzw. simuliert werden. Eine Verbindung von Trauma und Spiel findet sich auch im englischen Wort
»re-enactment«. Es umfasst im Deutschen drei Bedeutungsebenen,
denen ich in der folgenden Analyse der Filme nachgehe. Erstens bedeutet »to re-enact« »wieder in Kraft setzen«. Diese Bedeutungsfacette
wird in Bezug zum Begriff authentische Reproduktion der Vergangenheit bei The Trench bzw. dem Begriff Realitätseffekt des Traumas beim
wissenschaftlichen Film von 1918 gebracht. Der Kontrast der beiden
Filme besteht in ihren unterschiedlichen filmischen Strategien, mit
deren Hilfe sie Authentizität anstreben. In der Serie von 2002 wird
diese behauptet, indem auf das Ereignis verwiesen wird und indem das
Erlebte im Nachspielen/in der Nachstellung zugleich reaktiviert wird.
In seiner figurativen Bedeutung meint »to re-enact« zweitens »wiederholen«. Von »wiederholen« werde ich im Hinblick auf den Traumabegriff sprechen. Ich affirmiere hier die Freud’schen Ausführungen von
1914 zum nachträglichen unfreiwilligen Wiedererleben des traumatisierenden Ereignisses und zum wiederholten Ausagieren des Verdrängten in traumatischen Symptomen.13 Drittens bedeutet »to reenact« »neu inszenieren«.14 Die Ebene theatralischer Neuinszenierung lässt sich mit dem Spielbegriff in Verbindung bringen. Hiermit
sind die kreativen Abwandlungen und Transformationen im Abgleich
mit den historischen Referenzsituationen angesprochen. Die Differen13. Sigmund Freud: »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« [1914], in:
Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud u.a., Bd. 10, Frankfurt am Main
1999 [1946], S. 126-136.
14. Siehe Langenscheidts Handwörterbuch. Englisch, hrsg. von Heinz Messinger und der Langenscheidt-Redaktion, Berlin/München/Wien 2001, S. 512.
99
Julia B. Köhne
zen können an der jeweiligen historischen Verortung, an der Medialität
und dem Gebrauchszusammenhang sowie dem adressierten Publikum
festgemacht werden. Die Frage, auf die der vorliegende Text zuläuft,
ist, welche Funktion solche posttraumatischen Spiele – im Sinne eines
nachträglichen Heilungsversuchs – haben.
Die Reality-TV-Serie The Trench – eine
»Let’s pretend …«-Authentizität
Aus einer Ausschreibung der BBC vom 27. Juli 2001 geht hervor, dass
für eine Reality-TV-Serie Volontäre aus der Region Hull und East Yorkshire gesucht wurden. Sie sollten zwei Wochen lang als recruits die
Erfahrungen15 des zehnten Bataillons des East Yorkshire Regiments
an der Westfront im Herbst 1916 (re-)kreieren und eine konkrete
Schlacht, die Battle of the Ancre von 1916, nachstellen. Bei dem Bataillon handelt es sich um keine Erfindung, sondern um eine reale Armeeeinheit im Ersten Weltkrieg. Zur Bedingung der Teilnahme gehörte, dass die Rekruten neben dem gleichen Herkunftsort ein ähnliches
Alter und einen den echten historischen Akteuren vergleichbaren professionellen Hintergrund aufwiesen. Zugunsten einer positiven Gruppendynamik und eines besseren menschlichen Zusammenhalts, der
Bildung eines »spiritual teams«, sollten größtmögliche Übereinstimmungen bestehen. Nach einem einwöchigen Militärtraining wurden
die Rekruten in ein »authentically constructed« Schützengrabensystem
an der ehemaligen Front in Nordfrankreich geschickt. Zu dieser Vorbereitung der Schauspieler auf die Situation kamen am Set viele Objekte
und Artefakte, deren Authentizität darüber behauptet wurde, dass sie
aus dem Ersten Weltkrieg stammten oder dass sie von Experten der
Historie den realen detailgetreu nachgebildet worden waren, wie Feldzeitungen, Briefe, Schokolade und Erotikbildchen.
In der Rekrutierungsausschreibung wird eine Szene aus dem historischen Film Battle of the Somme von 1916 erwähnt, welcher eines der
wenigen überlieferten Dokumentarfilmdokumente über Schlachten im
Ersten Weltkrieg darstellt. Die Szene kehrt im Verlauf der Serie refrainartig in verschiedener Gestaltung wieder. Sie zeigt eine Situation, die
sich einige Tage nach dem 1. Juli 1916 ereignet haben muss: Das zehnte Bataillon bewegt sich stromartig auf die Kamera zu. (Abb. 1) Die
15. Die Aufforderung auf dem Plakat zur Serie lautet: »The Trench … Tune
in and LIVE the Experience. A major new series recreating in extraordinary detail
the life of soldiers on the frontline in the First World War.«
100
Krieg spielen
TV-Serie führt diese Szene ein, da die Schauspieler von The Trench
die Soldaten des hier abgefilmten Bataillons, die so genannten »Hull
Pals« (dt.: die Kumpel aus der Region Hull) verkörpern und ihre Geschichte erzählen. Die Funktion der Rollenübernahme wird durch eine
Überblendung des historischen Materials in Schwarz-Weiß mit den
zeitgenössischen Schauspielern, die in Farbe gefilmt sind, veranschaulicht.
Abbildung 1: Filmstill aus Battle of the Somme
Der Grund für die Auswahl der Erlebnisse dieses Bataillons als Gegenstand der Serie liegt in der Besonderheit seiner Geschichte und Rezeption. Anders als viele andere Einheiten kehrte es vom ersten Tag der
Somme-Offensive zurück und entfernte sich unbeschadet von der
Frontlinie. Die Geschichtsschreibung notiert, dass die britische Armee
am ersten Tag der Schlacht ca. 60.000 Verwundete zu beklagen hatte,
von denen etwa 20.000 starben, die meisten von ihnen durch deutsche
Maschinengewehre bereits in den ersten zwei Stunden des Angriffs.16
Die Kamera, die den Menschenstrom einfängt, hält genau den Augenblick fest, in dem das zehnte Bataillon dem blood bath vorerst entkommen war. Durch das Zeigen dieser historischen Marschszene, der
etwas taumelnden Rückkehrer von der Front, wird das zehnte Bataillon
von Anfang an mit dem Nimbus des Besonderen ausgestattet. Die
Zuschauenden lernen, dass es einen Aufschub des Sterbens erhielt,
weswegen es auch »the lucky 10th« genannt wurde. Die Serie verfilmt
einen Abschnitt seiner Geschichte, der zwischen diesem Vorbeihuschen
16. Martin Gilbert: First World War Atlas, London 1970, S. 56. Vgl. zudem
Anm. 6.
101
Julia B. Köhne
des Todes und dem tatsächlichen Tod eines Großteils seiner Soldaten
einige Monate später liegt.
Das Verwirrende an der Dokumentarfilmszene ist, dass die Soldaten fast alle lächeln. Lächeln sie, weil es ihnen aufgetragen wurde, wie
es ein Produzent der Serie, Dick Colthurst, im Rekrutierungsschreiben
vermutet, oder vor Erleichterung, weil sie den ersten Tag der Schlacht
überlebt haben? Die Frage nach dem Grund für das Lächeln – trotz des
Schicksals ihrer Kameraden – ist insofern delikat, als die richtigen
Soldaten durch die Colthurst’sche Deutungsvariante (»The men are
smiling because they’d been ordered to«) unter Verdacht geraten, ihre
positiven Emotionen nur gespielt zu haben. Dahingegen sollen die
Schauspieler der Serie nun herausfinden, wie sich das Leben damals
wirklich anfühlte. Das erklärte Ziel der Serie ist, »to get modern day
people to relive those special moments for real«.17
Die dreistündige Serie ist dreigeteilt und folgt den historisch überlieferten offiziellen war diaries, den originalen Kriegstagebuchaufzeichnungen der diensthabenden Offiziere. Die Bücher umfassen einen
Zeitraum von etwa 26 Tagen im Herbst des gleichen Jahres (20. Oktober bis 13. November 1916). »What might everyday life have been like
in the trenches of World War One?«18, fragt der erste Teil der Serie, in
dem von den schwierigen Umständen erzählt wird, unter denen die
Soldaten in den Gräben lebten. Es wird von Waffenlärm, Gasangriffen,
Angst, chronischem Schlafmangel, zu dünner Kleidung, »trench feet«
(von der Feuchtigkeit und Kälte aufgedunsene Füße), Lausbefall, angeordnetem Alkoholkonsum, eintöniger Kost und vor allem Langeweile
berichtet. Zudem werden Bestrafungen bei Regelverstößen durch die
Offiziere, die Ankunft der Post aus den Heimatgebieten und abendliche Vergnügungen im Hinterland gezeigt. Der zweite Teil dramatisiert
die Besetzung eines Granatkraters im »No Man’s Land« durch drei
Engländer. Ihre Kameraden müssen sich, vom Schützengrabensystem
aus grabend, zu den sich in Todesangst Befindlichen vorarbeiten, was
etwa zehn Stunden dauert. An diesen Cliffhanger anknüpfend berichtet der dritte Teil vom Gelingen dieser Aktion, wobei zwei Verluste zu
beklagen sind. Gleich darauf folgt der Abschlusskampf nahe des Flusses Ancre. Diese Operation des 13. Novembers 1916, die letztendlich zu
einem »Erfolg« und der Übernahme der von den Deutschen besetzten
Stellung Beaumont-Hamel geführt haben soll, wurde als Battle of the
Ancre bekannt und markierte auch den strategischen Abschluss der
Somme-Schlacht. Sie endet mit dem Tod von 263 Soldaten des zehnten
17. Siehe Catherine Bennett: »Death. Mud. Lice. It must be TV history«, in:
The Guardian, Humanities-Section vom 07.03.02.
18. www.bbc.co.uk/history/programmes/trench (10.02.06).
102
Krieg spielen
Bataillons. An diesem Tag mussten die Soldaten teilweise über ihre toten Kameraden der Juli-Schlacht hinwegsteigen.19 Insgesamt soll es in
der Battle of the Somme etwa 450.000 britische Tote und etwa eine
Million Verletzte gegeben haben.20
Einbrüche in die Authentizitätsfabrikation und ins Spiel
Das filmisch Auffällige an The Trench ist, dass der Film einer ZickZack-Bewegung folgt. Er wechselt von Originalszenen aus historischen
Dokumentarfilmen zu gespielten Szenen und von diesen zurück zu
Interviews mit über hundertjährigen Kriegsveteranen. Die Darsteller
wechseln zwischen den Modi hin und her: Mal spielen sie und sagen
auswendig gelernten Text auf, dann wieder improvisieren sie aus der
Situation heraus – sie machen beispielsweise Witze, wenn sie die
Latrine ausleeren. Ein anderes Mal distanzieren sie sich von ihrem
Spiel und bekräftigen in privatem Ton das plötzliche Erahnen oder
auch Verstehen-Können der ehemaligen tatsächlichen Leiden. Eine
Erzählerstimme führt durch die Szenen und eine schriftliche Zeitangabe soll über den objektiven Verlauf und den Fortschritt des Unternehmens orientieren.
Die Authentizitätsgarantie dieses Gemischs übernehmen die Auftritte der Veteranen, die als Augenzeugen der Geschichte fungieren.
Sie erleben die Vergangenheit in The Trench nach und zugleich neu.
Außerordentlich dynamisch markiert dies die Flugzeugszene des
ersten Teils. Die spielenden Soldaten beschießen ein Flugzeug. Der
Kopf des interviewten Veteranen ist im Vordergrund groß eingeblendet. Durch sein eindringliches Erinnern und Erzählen scheint er wieder in der Kriegssituation von damals zu sein; diesmal sieht es aber so
aus, als könne er mit den Flugzeugen spielen. (Abb. 2) Die Repräsentation der Veteranen dient neben der Selbstauthentisierung auch dazu,
die Gefühle der jungen Schauspieler zu beglaubigen, die diese nur auf
dem Weg der Empathie entwickeln können. An anderer Stelle wird
wieder ein Veteran eingeblendet, während die Soldatenschauspieler
ihre Ängste beschreiben. Er betont: »We were scared all the time, we
lived from day to day.« Das Gelingen des Nacherlebens der Gefühle
anderer, diese emotionelle Stellvertretung, wird zuweilen durch Tränen
19. Siehe http://www.lib.byu.edu/~rdh/wwi/memoir/docs/51st/51st1.
htm (10.02.06).
20. Angaben nach h ttp://www.firstworldwar.com/battles/somme.htm
(10.02.06).
103
Julia B. Köhne
der Schauspieler besiegelt und durch eine dramatische, sentimentale
Musik gefördert.
Abbildung 2: Filmstill aus The Trench
Ist es diese Mixtur aus Realitätstreue und nach außen getragenem
Spiel mit Showcharakter, die den Rezipierenden berühren soll? Der
Film sagt abwechselnd: Ich bin ein Spiel/Ich bin kein Spiel, was selbst
etwas Spielerisches hat. Das Einfühlen der Zuschauenden soll durch
die verschiedenen Authentisierungsstrategien auf der Ebene der Objekte, der Veteranen und der nachgespielten Szenen befördert werden.
Einer der Produzenten, David Mortimer, sagt, die Serie sei »an imaginative way of engaging a new audience with that terrible story«.21 Der
Wechsel von Imaginieren zu einer plötzlichen Grenze der Einfühlungsmöglichkeit wird hier bemerkenswerterweise offen gelegt. Insgesamt sind der Anspruch und das Ziel der Serie jedoch ein identifizierendes Sehen. So heißt es im Guide zu The Trench:
»This may be reality TV by name but it serves a far higher social purpose than the
likes of Big Brother. Recreating two weeks in the lives of a British army battalion
from Hull in the trenches of Northern France during October 1916 may seem like
a totally superfluous idea but this horribly realistic series serves as a strangely
fitting testament to those who lost their lives in the Great War. It’s easy to pontificate about human endeavour but the plain facts of war are pain, injury and
death. Watch, learn, and don’t forget.«22
The Trench soll also nicht nur als Anweisung für das Umgehen mit den
überlieferten Erfahrungen der Soldaten im Ersten Weltkrieg fungieren,
21. Bennett: Death. Mud. Lice (wie Anm. 17).
22. Byline in: The Guide zu The Trench, hrsg. v. BBC, London 2002, S. 93.
104
Krieg spielen
sondern die Serie soll darüber hinaus die Authentizität des Traumas
inszenieren. Diese wird über die nachträglichen Gefühle der Schauspieler erzeugt. Der Volontär Mark Palmer, »who relived the emotional
highs and lows«, erzählt in einem Interview im Anschluss an den Dreh
der Serie mit noch größerer Emotionalität als sie im Film sichtbar
wurde:
»As I entered the trench the adrenaline was really pumping and I was just following the man in front. The person behind was pushing me, so we were all like
sardines in a tin. It was pushing all the time and the noise and the mud and
everything was flying around. You had to keep your head down and move as
quickly as you could. It was … it was reality. It was mind-blowing really.«
Durch die Erzählung der Szene wird die Verschmelzung von Nachempfinden und Selbst-Empfinden unterstrichen: Die historische Distanz wird für einen Augenblick eingeschmolzen. Es hört sich an, als sei
Mark Palmer wirklich dort und dabei gewesen.
The Battle of Seale Hayne – Ein Spiel mit den Realitäten
Im Gegensatz zu The Trench, der wegen der größeren zeitlichen Distanz zum Jahr 1918 eher mit der Herstellung von Authentizität zu tun
hat, damit der imaginäre Zeitsprung funktioniert, bzw. geleugnet
werden kann, besitzt das Filmstück The Battle of Seale Hayne im Rahmen britischer Kriegsberichterstattung eine größere Nähe zur Kategorie »Reales/Realität«. Der Film zeigt reale Darsteller – nämlich Kriegsopfer –, eine reale Geschichte, die reale Zeit und eine reale Erfahrung,
aber ein falsches Spiel. Die Soldaten spielen nicht nur, sie nähmen
wieder an der Schlacht teil. Der fiktionale Charakter von The Battle of
Seale Hayne wird auch dadurch unterstrichen, dass hier intensiv
Rauchbomben eingesetzt werden, um den Einschlag von Handgranaten zu simulieren. Um echter zu wirken, täuscht der Film fälschlicherweise vor, bei Granateinschlägen würden diese Qualmmassen
produziert. Das Filmstück dauert nur knapp zwei Minuten und bildet
den letzten Teil des medizinischen Films War Neuroses (insgesamt
8:05). Dieser medizinische Stummfilm führt britische soldatische
Patienten in zwei militärisch-psychiatrischen Heilanstalten vor, 1917
im Royal Victoria Hospital in Netley und 1918 im Seale Hayne Military
Hospital. Die Patienten zeigen kriegshysterische Symptome, wie Zitterund Lähmungserscheinungen, die angeblich im Kontext ihres Dienstes
in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges entstanden sind. Das
Besondere der Kriegshysterie liegt darin, dass sie wie die weibliche
105
Julia B. Köhne
Hysterie des 19. Jahrhunderts psychische Störungen in physisch anomale Bewegungsakte zu übersetzen scheint. Die Ikonographie der
zahlreichen hilflos zitternden Männer steht im Widerspruch zu militärischen Werten wie Affektdisziplin und Nervenstärke. Deswegen müssen die psychischen Störungen wieder zum Verschwinden gebracht
werden.23
Die Formensprache des Kompilationsfilms War Neuroses zeichnet
sich durch ein Vorher-Nachher-Schema aus. Sie suggeriert, dass die
Symptome durch die therapeutische Behandlung der britischen Militärärzte J.L.M. Symns und Arthur Frederick Hurst beseitigt werden
konnten. Die kriegshysterischen Symptome werden hier nicht nur
filmisch in Bewegung eingefangen, sondern durch die Art der Repräsentation abgedreht. Das letzte Bild der filmischen Sequenzen, welches
direkt auf den Schriftzug »treatment« folgt, zeigt den vermeintlich
geheilten Kriegshysteriker. Der militärpsychiatrische Gesamtzusammenhang des Films hat zur Folge, dass hier multiple individuelle Heilungen der Patienten vorgeführt werden24, die eine grundsätzliche
Heilbarkeit und ein Wiedereingliedern der Ex-Kriegshysteriker ins
Heer anzeigen. Der Mediziner Martin Weiser hat 1919 bemerkt, dass
»Neurotikerfilme, wenn sie mit geschickt abgefassten Texten versehen
worden sind, sehr geeignet [waren] zur Aufklärung der Bevölkerung
über die Kriegsneurose und ihre Heilbarkeit«.25 Durch die Popularisierung sollte das verwundete Kollektiv davon überzeugt werden, dass
die Krankheit verschwunden sei und auch durch eine Simulation nicht
wieder auftauche. Führt man sich diese Adressierung eines größeren
Publikumskreises vor Augen, so können die Filmbilder auch als Bilder
einer verschobenen Heilung, vom individuellen auf einen kollektiv-nationalen Status, wahrgenommen werden: Die einzelnen Hysteriker gesunden mit der und stellvertretend für die Nation. Durch die Popularisierung des filmischen Materials sollte das ebenfalls verwundete Kollektiv erstens davon überzeugt werden, dass die Krankheit der Hysteri23. Siehe die Darstellungen des Antagonismus von militärischen Interessen und dem Phänomen Kriegshysterie: Hans-Georg Hofer: Nervenschwäche und
Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie
(1880-1920), Wien u.a. 2004, besonders S. 236ff.
24. Ulf Schmidt: »›Der Blick auf den Körper‹. Spezialhygienische Filme,
Sexualaufklärung und Propaganda in der Weimarer Republik«, in: Malte Hagener
(Red.): Geschlecht in Fesseln. Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im
Weimarer Kino 1918-1933, München 2002, S. 3: »Der Film suggeriert, dass die
Medizin alle Voraussetzungen bietet, damit das Einzelindividuum von der Krankheit zur Gesundheit gelangen kann.«
25. Martin Weiser: Medizinische Kinematographie, Berlin 1918/19, S. 135.
106
Krieg spielen
ker und somit auch die damalige nationale Schwäche überwunden
werden konnten. Zweitens wurden die Filme der Heilung als letzter
therapeutischer Akt anderen gerade »aktiv« therapierten Kriegshysterikern gezeigt, damit es ihnen nicht einfiel, wieder krank zu werden,
sprich Rückfälle zu haben (diese hatten sie ohnehin).26 Ein deutscher
Arzt, der das filmische Medium ebenfalls einsetzte, war Konrad Alt. Er
schreibt über »die Vorführung des Wunders der Heilung«, was auch
für den britischen Kontext gelten kann:
»Die ihnen nachher vorzuführenden Kinoaufnahmen bei uns behandelter Neurotiker zeigen die Kranken vorher und nachher […]. Sie werden sich mit eigenen
Augen von der völligen Beseitigung noch so schwerer Krankheitserscheinungen
überzeugen und mir darin beistimmen, dass kaum bei irgendwelchen anderen
Kranken so verblüffende Behandlungserfolge zu erzielen sind wie bei den mancherwärts eine Zeitlang therapeutisch äußerst undankbar angesprochenen
Kriegshysterikern, bezüglich deren ein bekannter Kliniker sagte, er strecke vor
der Hysterie die Waffen.«27
Drittens diente die Vorführung der Legitimation der psychiatrischen
Wissenschaft als eigenständige und potente Wissensform28 sowie der
Steigerung des Ansehens der Ärzteschaft und des neuen Mediums.29
Viertens wurden die Filme zur Profilierung der Militärärzte vor Kollegen auf Kongressen vorgeführt. Die Ärzte wollten dadurch ihre Charakterisierung der pathologisierenden Diagnose »Kriegshysterie« propagieren sowie ihre Therapiemethoden als die einzig richtigen. Dabei
fungierten die Filmbilder und ihre Evidenz als Antidot gegen die Grenzen der Heilmöglichkeit. Die Rezidivneigung der Kriegshysteriker, die
Rückfallquote derer, die im Anschluss an die Therapie nicht symptomfrei blieben, wird in den Filmbildern nicht repräsentiert.
Die behauptete Heilung wird vor allem durch das letzte Filmstück
visualisiert, das mit The Battle of Seale Hayne, directed, photographed and
acted by convalescent war neurosis patients betitelt ist. Dieses bildet den
Gegenstand des Vergleichs. Was passiert darin? In einer ersten Se26. Siehe Konrad Alt: »Über die Kur- und Bäderfürsorge für nervenkranke
Krieger mit besonderer Berücksichtigung der so genannten Kriegsneurotiker«, in:
Wiener Medizinische Wochenschrift (1918), S. 848.
27. Ebenda, S. 850.
28. Siehe auch Ulf Schmidt: »Der medizinische Film in der historischen
Forschung«, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 3 (1995), H. 1, S. 83.
29. Ebenda, S. 83: »Filme über Heilerfolge bei geistesgestörten Soldaten
des Ersten Weltkriegs sollten beispielsweise dazu beitragen, die um ihren Ruf
kämpfende Psychiatrie als Wissenschaft zu etablieren.«
107
Julia B. Köhne
quenz überbringt ein Soldat einem Offizier einen Befehl. Dieser versammelt und formiert daraufhin sein platoon, bestehend aus etwa 25
Soldaten und zwei Männern, die eine Bahre tragen, um Verwundete
abzutransportieren. Darauf besteigt das platoon eine Anhöhe, von der
Rauchschwaden aufsteigen. Nach einem kurzen Angriff und Kampf
rollt ein Verwundeter den Hügel hinab. Die Kamera, die im Tal positioniert ist, fängt dies aus einer totalen und fernen Einstellung ein.
Schließlich wird ein Verwundeter von den Bahrenträgern geborgen
und versorgt. Das Filmstück ist zu Ende.
Bereits durch den Titel und den Begriff »battle« statt »military
hospital« wird einerseits indexikalisch angezeigt, dass hier der Krankheits- in einen Kampfkontext umgewandelt wurde. Andererseits wird
vermittelt, dass die Ex-Patienten den Film selbstständig hergestellt
haben. Hierdurch wird die offizielle Lesart suggeriert, sie hätten sich
von der Kriegshysterie so weit entfernt, dass sie eine künstlich hergestellte, die ätiologische Situation ihrer Krankheit nachstellende Szene
überstehen können, ohne dass ihre Symptome wiederkehren. Der
Battle-Nachfilm zeigt die Kriegshysteriker, die als letzte Station innerhalb der Therapie spielen, dass sie an die Front zurückkehren. Diese
Kriegsspielszenarien illustrieren die Möglichkeit eines individuellen
(Wieder-)Soldatwerdungsprozesses des Kranken, der zugleich als eine
Akkulturation an den militärischen Gemeinschaftskörper inszeniert
wird. Obwohl die individuelle Heilung der Männer und deren Wiedereinstieg als Soldaten filmisch beschrieben werden, geht aus den Schriften der Militärärzte hervor, dass die rekonvaleszenten kriegshysterischen Soldaten größtenteils jedoch nicht wieder feldeinsatzfähig waren.30
Transformationen des Traumas im Spiel, oder:
Sich einen Ausweg basteln
Neben der angezeigten Heilung der Kriegshysterie, die durch den
Nachfilm The Battle of Seale Hayne bestärkt wird, gibt es noch eine
andere Wirkung des Battle-Films auf der Ebene des traumatisierten
Soldaten, den man einen rückwirkenden Realitätseffekt nennen könnte.
Elisabeth Cowies in filmsemiotischen und psychoanalytischen Parametern argumentierender Aufsatz Identifizierung mit dem Realen – Spekta-
30. Obwohl die Genese von Zahlenangaben immer schwierig ist, gibt Joanna Bourke an, dass 4/5 der Shell-shock-Fälle nicht wieder einsatzfähig waren. Vgl.
www. bbc.co.uk/history/war/wwone/shellshock_04.shtml (10.02.06).
108
Krieg spielen
kel der Realität31 enthält eine kurze Passage über das oben genannte
Filmstück. Sie ist mit dem Titel »Dokumentierte Realitäten« überschrieben. Cowie sieht den Film The Battle of Seale Hayne als letzten
Akt der Therapie, indem hier ehemalige Kriegshysteriker und scheinbar rekonvaleszente Soldaten die Schlachtsituationen nachspielen.32
Cowie zufolge bedeutet die »re-inszenierte Kampfszene« des Battle-Spiels ein erfolgreiches Abreagieren des Traumas der Kriegsneurosen.33 Indem sie den Krieg nachspielen, in ihm Regie führen und sich
selbst dabei filmen, würden die Soldaten mit der Situation konfrontiert,
die zu ihrer Traumatisierung geführt habe. Das Reale sowie das Unbewusste entzögen sich einem direkten Zugriff und seien auch nicht
der Erinnerung zugänglich, sondern träten immer nur als traumatischer Effekt in Form der Shell-shock-Symptome hervor. Das Trauma als
Signum des Krieges könne jedoch über den Umweg des Spielens
durchgearbeitet werden. Nach Cowie ist das Bild der vorausgegangenen traumatischen Erfahrung insofern transformierbar, als die Lage
für die Ex-Soldaten im Spiel steuerbar ist. Durch die Szene der Symbolisierung der Kriegssituation in der »dokumentierten Realität«, dem
wissenschaftlichen Film, ermächtigten sich die Patienten selbst und
versicherten sich somit wiederholt ihrer militärischen Stärke.
Einerseits ist Cowies Ansicht nachvollziehbar, die Soldaten versuchten, sich im Spiel ihrer verdrängten Erlebnisse zu bemächtigen.
Ob diese Verleugnungsgeste allerdings zu einem gelungenen Abreagieren des eigenen Traumas führen konnte, ist zweifelhaft. Vielmehr
möchte ich betonen, dass im filmischen Spiel Transformationspotentiale verborgen sind, die auf ein widerständiges Moment im filmischen
Material hinweisen. Dieses hat mit einer Ermächtigungsfigur ganz
anderer Art zu tun. Dies kann anhand des Beispiels des verwundeten
Soldaten veranschaulicht werden, der am Ende des Films von den
anderen Spielern auf einer Bahre weggetragen wird. In der Wiederholung der Schlachtsituation wird hier augenscheinlich eine Verschiebung vorgenommen, die darin besteht, dass ein ex-kriegshysterischer
Kranker denjenigen spielen darf, der einen Verwundeten rettet und
dass ein anderer spielt, er habe statt der psychischen, kriegshysterischen Verwundung eine physische Verletzung erlitten. Man könnte
sagen, dass der Status des Films hierdurch ein rückwirkend apotropäi31. Elisabeth Cowie: »Identifizierung mit dem Realen – Spektakel der
Realität«, in: Marie-Luise Angerer, Henry P. Krips (Hg.): Der andere Schauplatz.
Psychoanalyse/Kultur/Medien, Wien 2001, S. 151-180. Es ist der einzige Sekundärtext zum Hurst/Symns-Film, der mir bekannt ist.
32. Ebenda, S. 174.
33. Ebenda, S. 173.
109
Julia B. Köhne
scher (Unheil abwehrender) wird, indem er die Vergangenheit umschreibt, ihr diesmal einen guten Ausgang gibt: wie hier den rettenden
Heimatschuss.
Cowie betont zu Recht, dass der Kompilationsfilm insgesamt dazu
diente, »den medizinischen Kollegen, dem Kriegsministerium und den
für die Spitäler verantwortlichen militärischen Behörden ihre Effizienz
in der Wiederherstellung«34 der Gesundheit der ehemaligen Kriegshysteriker vorzuführen. Genauer betrachtet läuft aber das von den
Kriegshysterikern selbst geschriebene Ende ihrer Geschichte dem von
den Militärärzten zugedachten diametral. Im selbstinszenierten Battle
of Seale Hayne simulieren sie zwar ihre potentielle Wiedereinsatzfähigkeit, sie können aber zugleich einen anderen Ausgang der Kriegssituation vortäuschen. Sie können sich sterben oder von der Front abtransportieren lassen.
Nach dieser Darstellung des Battle-Kriegsspiels als Ende des Heilungsfilms War Neuroses von 1918 möchte ich für einen Vergleich nun
wieder zum anderen Kriegsspiel hinüberschwenken, zu der Reality-Serie The Trench. Der Chiasmus von Trauma und Spiel in den beiden
Filmen kann folgendermaßen benannt werden: Im Filmbeispiel von
1918 spielen die echten Soldaten mit einer zeitlichen Verzögerung von
maximal wenigen Wochen eine Schlacht, die es nie gegeben hat. In
dem Film von 2002 spielen unechte Schauspieler eine echte Schlacht,
die Battle of the Ancre, die sich 1916 tatsächlich ereignete. The Trench
nutzt den Umstand, dass die »historische Realität« nur über den Umweg von Medialisierungen zugänglich ist bzw. selbst immer schon
medial überformt war. Die Serie zitiert die medialisierten Geschichtsnarrationen und führt sie in einer neuen Form zusammen. Dies kann
als Reaktion auf die Tatsache verstanden werden, dass trotz der vielfältigen Heilungsdarstellungen um 1918 eine nationale Heilung anscheinend nie oder nicht auf Dauer eintreten konnte. Die Frage nach einer
möglichen Heilung musste deswegen – ähnlich wie die individuellen
Heilungen – wieder und wieder wiederholt werden. In dieser Lesart der
kulturellen Phänomene, wie der anfangs beschriebenen exzessiven
Kriegsspiele der britischen Gedenkkultur, sieht es so aus, als erinnere
sich das Kollektiv selbst daran, dass es traumatisiert war/ist. Die Frage
nach einer kollektiven Heilung wird dabei aber in jedem Spielansatz
anders gestellt und auch anders beantwortet. In der Re-Inszenierung
wird nicht nur Wissen über den Ersten Weltkrieg re-präsentiert. Die
Frage ist auch, wie sich in der documentary die heutige britische Nation
mit ihrem Verhältnis zum Ersten Weltkrieg selbst konzipiert.
34. Ebenda, S. 173f.
110
Krieg spielen
Transgenerationelle Heilungen in The Trench
Die Serie The Trench ist Teil der kollektiven Gedenkpraktiken und
gehört zur Populärkultur des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie wurde
im Kontext derzeitiger Reality-TV-Shows rezipiert, und die Vorpresse
fand für die Serie Ausdrücke wie »playacting the war«, »military pornography« oder »insulting the memory of the dead«35 und machte
damit die Empfindlichkeit der Öffentlichkeit in Bezug auf das Themendreieck Erinnerung, Militär und Totengedenken deutlich. Das
Spiel soll den Zuschauenden 2002 ermöglichen, sich nachträglich in
den traumatisierenden Zustand, der nicht nur die direkt Beteiligten,
sondern »eine ganze Generation« auslöschte oder traumatisierte, hineinzuversetzen. Es geht um ein Kollektiv, das sich immer wieder
selbst an die nationale Traumatisierung erinnert, um sich in der Wiederholungsgeste der »Gedenkwut« als geheiltes Kollektiv konstituieren
zu können.
The Trench hat im Vergleich zum Film von 1918 mehr Distanzen
zu überwinden: zeitliche, darstellertechnische und mediale. In britischen Zeitungsrezensionen tauchen für dieses Verfahren unterschiedliche Benennungen auf, die sich auf die Kategorien des Spielens und
der Erfahrung beziehen: »playacting«, »re-enacting«, »reliving« und für
die Darsteller »players« oder auch »role players«. Neben diesen Begriffen, die einen Abstand kennzeichnen, werden auch Worte verwendet,
die diesen unkenntlich machen, wie es sich in der Bezeichnung der
Schauspieler als »recruits« ausdrückt. Hierdurch wird das Sekundäre
am The-Trench-Heilungsversuch offenbar. Es kann im Film nicht um
die Darstellung konkreter individueller Heilungen der echten Kriegsveteranen gehen. Vielmehr wird inszeniert, dass die jungen Männer, die
den Part der Soldaten von damals übernehmen, stellvertretend für die
damals Betroffenen im Spiel re-traumatisiert und geheilt würden.
Dieser Transformationsprozess wird filmisch in zwei Bildern visualisiert: in einer Recodierung des Marsches der Hull-Soldaten innerhalb
der Schützengrabenhandlung und in einer fiktiven Begegnung mit den
Toten im nachgestellten Filmteil.
Im Nachfilm, der am »Remembrance Day 2001« im heutigen
Yorkshire bei strahlend blauem Himmel nahe des Beverley Minster
gedreht wurde, werden verschiedene Formen regionalen und nationalen Gedenkens vorgestellt. Es wird erzählt, dass die Gemeinschaft der
Erinnernden durch die Darsteller von The Trench Zuwachs bekommen
hat. Ein Darsteller gibt an, dass die Gruppe sich seit dem Ende der
Serie regelmäßig zu Barbecues oder zu Weihnachten wiedertreffe. Der
35. www.whatalovelywar.co.uk/war/2002/03/index.html (10.02.06).
111
Julia B. Köhne
Grund dafür sei, dass sie durch ihre Erfahrungen im Kriegsspiel verstanden hätten, dass die damaligen Soldaten nicht nur für ihr Vaterland gekämpft haben, sondern direkter auch für ihre soldatischen
Kameraden. Der Schauspieler John Baxter erklärt:
»[While playing it we were] realizing they [the soldiers of the 10th battalion,
J.K.] were not only fighting for King Country, they were fighting for each other,
they were fighting for each other’s survival. I am glad I shared their experiences.
I am proud.«
Diese Einsicht wird im Film dann auf den transgenerationellen Bereich
übertragen, sogar über die Grenze des Todes hinaus. Nicht nur lautet
das kollektive Versprechen der Kirchengemeinde an die Verstorbenen:
»We will remember them.« Angesichts der Memorialtafeln in der
Seitenkapelle des Münsters, auf denen die Opfer des zehnten Bataillons aufgeführt werden, sagt ein Schauspieler – dies potenzierend – zu
seinem Kollegen: »It’s sad, but we bring them back to life.« Und sein
Kollege pflichtet ihm bei: »We did.« Darauf wird die Gedenktafel mit
den Namen der Verstorbenen eingeblendet. (Abb. 3)
Abbildung 3: Filmstill aus The Trench
Das Auferstehungsmotiv wird dadurch verdoppelt, dass der beschriebene Überlebenden-Marsch des ersten Tages der Somme-Schlacht am
Ende der Serie filmisch umgeschrieben wird. Er besteht diesmal aus
den beschwingten Schauspielern der Serie, die durch hoffnungsfroh
112
Krieg spielen
grüne Wiesen wandern. (Abb. 4) Die Szene sieht aus wie eine Auferstehung der in Schwarz-Weiß gefilmten Soldaten, von denen die meisten am Ende der Schlacht doch noch gefallen sind. Dies kommt einem
»Rückspulen von Geschichte« gleich oder einem Rücksetzen auf den
Punkt, an dem das zehnte Bataillon noch lebendig war, an dem das
Bataillon noch »the lucky-one« hieß. Hiermit wird »Geschichte gelöscht«. Es wird ausradiert, dass das Hull-Bataillon eigentlich statt
mythisierend »the lucky« »the dead one« heißen müsste.
Abbildung 4: Filmstill aus The Trench
In den Bildern der »Reanimation der Opfer« des Ersten Weltkriegs
treffen sich zwei unterschiedliche Ebenen. Auf der einen Ebene konnten ganz konkrete Individuen durch das Nachspielen wiederbelebt werden, indem ihrem Schicksal gedacht wurde, und auf der anderen Ebene konnte eine neue Generation durch das stellvertretende Durchleben
eines Teils der Biographie anderer sensibilisiert werden. Der TrenchFilm geht aber noch weiter. Nachdem der Spielcharakter im Nachfilm
gänzlich aufgehoben ist, schütteln die Nachfahren der Bataillonsmitglieder sich die Hände mit den Schauspielern ihrer Vorfahren. Der
weibliche Anhang und der Nachwuchs werden gezeigt, die Kontinuität
des Lebens und der Nation scheinen gesichert. Das letzte Wort hat ein
Kriegsveteran, Arthur Halestrap. Er unterstreicht die Verbindung, die
zwischen damals und heute geschaffen wurde. Damit schließt Halestrap den Kreis, indem er die Leiden von damals mit Sinn auflädt. Er
ist gerührt, dass »they [die Schauspieler] give their time to let other
113
Julia B. Köhne
people realize what was happening to their forbears, for their benefit.
Because what we did was done for their benefit, for posterity. And posterity is one population.« (Hervorhebung J.K.)
Im Spiel ist es den Schauspielern gelungen, den Verstorbenen und
Großbritannien einen großen Gefallen zu tun. Sie haben die Geschichte der Nachkommen erinnernd bewahrt und sind damit dem Anspruch
der Serie gerecht geworden, ein »fitting testament« für die Toten zu
kreieren.36 The Trench dient als Inszenierung des »letzten Willens«
der Verstorbenen aber nicht nur der Erinnerung an die Toten, sondern
enthält auch den Hinweis darauf, dass die Vorfahren sie alle gerettet
haben. Eine große Anzahl des männlichen Teils ihrer Generation hat
nicht überlebt, aber sie hat durch den Einsatz ihres Lebens das Entstehen der nachkommenden Generation gewährleistet. Die Nachkommenschaft bekommt hierdurch einen Grund für ihr Leben. Im gleichen Zug sichert The Trench also die Kontinuität, und zwar nach vorne
und nach hinten. Dies wird einerseits durch die Kinder auf den Armen
der Schauspieler erreicht, die die Nachfahren der Darsteller sind. Andererseits haben Erstere, als Nachfahren der verstorbenen Soldaten
und als Repräsentanten einer »vaterlosen Generation«, ihren Platz in
der Generationenkette der Toten und der Lebenden erhalten.
Im Vergleich der beiden Filme treten Kontinuitätslinien sowie
Transformationen der Heilungsbilder hervor. Der Spiel-Film The Battle
of Seale Hayne von 1918 diente dazu, im unmittelbaren Kriegskontext
die Möglichkeit einer Heilung der kriegshysterischen Soldaten und
deren Militarisierbarkeit zu suggerieren, obwohl es vielfach keine
Heilung gab. Die documentary The Trench setzt an dieser nicht vollzogenen Heilung an und versucht rückwirkend, erneut die Heilung
filmisch zu signifizieren. In The Trench ist also mehr passiert, als dass
Schauspieler illustrieren, wie/was Geschichte war/ist. Vielmehr ist
versucht worden, der Vergangenheit im Nachhinein Sinn zu verleihen,
indem sich die beiden Kollektive, das vergangene und das derzeitige, in
der Gegenwart begegnen. Indem sie der Figur des »re-enactments«
folgte (Wieder-In-Kraft-Setzen, Wiederholen, Neuinszenieren), war die
documentary in der Lage, spielerisch Umschriften in diese Geschichte
einzufügen, die vor allem in Heilungsmodellen mündeten. Es ist einerseits klar, dass die etwa 85 Prozent der Soldaten des Hull-Bataillons
nicht gerettet werden konnten, sowie eine Million britische Soldaten
im Verlauf des Ersten Weltkriegs. Andererseits wird dem Tod hier aber
ein Sinn verliehen, wenn auch nur im Spiel. Einer der Schauspieler
sagt:
36. The Guide zu The Trench (wie Anm. 22), S. 93.
114
Krieg spielen
»I hope the public take away the fact that trench warfare wasn’t a waste of time,
that it wasn’t just millions of men being mown down by bullets. […] But it was
about young men fighting for their country and looking for adventure.«
Mit diesen Heilungsbildern und Sinnaufladungen kann das Kriegsspiel
wieder von vorne beginnen.
115
Lüge und Utopie
Lüge und Utopie
Steffen Greschonig
Wird das Vergleichen in den Kulturwissenschaften überstrapaziert?
Sind Vergleiche wie der der Lüge mit der Utopie nicht vielleicht sogar
illegitim? Ist doch eine Lüge im Sinne des Kirchenvaters Aurelius
Augustinus eine bewusste Falschaussage mit der Absicht zu täuschen,
die Utopie dagegen eine sich in der Renaissance durch die Rezeption
der Schrift Utopia des Thomas Morus konstituierende Literaturgattung.
Letztere stellt der als kritisch beschriebenen Realität eines Gemeinwesens den idealisierten Entwurf einer möglichen Wirklichkeit im Gewande des Staatsromans entgegen. Dass die historische Semantik der
Phänomene Lüge und Utopie einem steten Wandel unterlegen ist und
dass eine Diskursanalyse der diesen Phänomenen zugrunde liegenden
Begriffe ähnliche Denkfiguren anschaulich werden lässt, soll im Folgenden gezeigt werden.1 Diese Analyse bedient sich im Rahmen
einer vergleichenden Lektüre qua unterschiedlicher Wissenschaftsperspektiven vermeintlich unvergleichbarer Texte Elisabeth Bronfens
Idee des cross-mapping. Vorausgeschickt sei, dass es sich bei der hiermit
gewagten Konfrontation von Lüge und Utopie um einen diachronen
Vergleich handelt. Voraussetzung für den Vergleich des »Apfels der
Lüge« mit der »Birne der Utopie« ist die (fast schon banal anmutende)
Annahme, dass das, was sich hinter beiden Begriffsvorstellungen
verbirgt, widerstreitenden diskursiven Veränderungen unterworfen ist.
Der Blick auf die Lüge wurde von Augustinus nachhaltig geprägt.
Erst mit Friedrich Nietzsche sollte er sich verändern. Augustinus hatte
aus christlicher Perspektive ein kategorisches Lügenverbot ausgerufen;
1. Im Wesentlichen handelt es sich bei der folgenden Exemplifizierung
dieses Wandels um einige profilierte Thesen meiner Dissertationsschrift. Vgl.
Steffen Greschonig: Utopie – Literarische Matrix der Lüge? Eine Diskursanalyse
fiktionalen und nicht-fiktionalen Möglich- und Machbarkeitsdenkens, Frankfurt am
Main 2005.
117
Steffen Greschonig
eine Position, die noch Kant (allerdings unter subjektphilosophischen
und nicht primär theologischen Prämissen) vertrat und weiter ausbaute: Platon dagegen, der die »lügenden Dichter« aus der Polis verbannen
wollte, profitierte noch von der systematischen Unschärferelation des
griechischen Begriffs ψεδος (pseudos), der sich sowohl mit Irrtum als
auch mit Lüge übersetzen lässt. Erst das lateinische mendacium grenzt
die Lüge vom Irrtum, dem error, ab.
Augustinus, der mit seinen Definitionen der Lüge die Differenz
von Irrtum und Lüge herausstellte, knüpfte diese an den Sprechakt
eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen. Die Lüge ist
»offensichtlich eine unwahre mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage«2 – so Augustinus in De mendacio. In Contra mendacium erweitert Augustinus sein Definitionsrepertoire um ein zeichentheoretisches Genus proximum. In dieser Definition ist die Lüge »eine
unwahre Bezeichnung mit der Absicht zu täuschen«.3 In der zweitgenannten Definition, die ihren Fokus weniger auf den Urheber der
Lüge – denjenigen, der spricht – sondern mehr auf das unwahre Bezeichnungsverhältnis legt, liegt aber schon jene zentrale Bedeutungsdimension, die Nietzsche eineinhalb Jahrtausende später zum Ansatz
seiner Kritik an Augustinus und dessen überaus moralischem Lügenverständnis machen wird. Die Sprache (und nicht primär das Individuum) ist es, die Nietzsche (mit Hobbes) in Ueber Wahrheit und Lüge im
außermoralischen Sinne als Medium des Wahrheitsanspruches einerseits und als Geburtshelferin der Lüge andererseits ausmacht. Nietzsche zeigt, wie Sprache den Wahrheitstrieb fixiert und somit erstmals
den Unterschied von Wahrheit und Lüge schafft.
»Soweit das Individuum sich gegenüber andern Individuen erhalten will, benutzte
es in einem natürlichen Zustande der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und
heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus der Welt
verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt aber etwas mit sich, was wie der erste
2. Augustinus: »Über die Lüge«, in: Ders.: Die Lüge und gegen die Lüge,
übertragen und erläutert von Paul Keseling, Würzburg 1953, Kap. 5, S. 7. Vgl.
auch Augustinus: De mendacio, CSEL 41, 419: »Enuntiationem falsam cum voluntate ad fallendum prolatam manifestum est esse mendacium.«
3. Augustinus: »Gegen die Lüge«, in: Ders.: Die Lüge und gegen die Lüge,
Kap. 26, S. 102. Vgl. auch Augustinus: Contra mendacium, 102. CSEL 41, 507:
»Mendacium est quippe falsa significatio cum voluntate fallendi.« (Hervorhebung
S.G.)
118
Lüge und Utopie
Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird
nämlich das fixirt, was von nun an ›Wahrheit‹ sein soll d.h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht
hier zum ersten Male der Contrast von Wahrheit und Lüge […].« 4
Nietzsches Sprach- und Traditionskritik ist nicht nur eine universelle
Diskurskritik, sondern zeigt das paradoxe Verhältnis von Wahrheit und
Lüge auf. Ist es doch gerade der Wahrheitsanspruch, aus dem die Lüge
erwächst. Bei Nietzsche ist die Lüge nicht mehr – wie bei Kant und Augustinus – an ein Subjekt gebunden, sondern mittels der Sprache sämtlichen Diskursen eingeschrieben. Mit einiger Berechtigung lässt sich
mit Nietzsche also von einer »diskursiven Lüge« sprechen; einer Lüge,
die nota bene zunächst einmal eine Lüge im außermoralischen Sinne
ist.
Doch was könnte eine »diskursive Lüge« mit jenen Diskursen zu
tun haben, die aus dem Textphänomen der Utopie erwachsen und vor
allem, wie entsteht sie? Hier bietet Elisabeth Bronfens Begriff des crossmapping die Möglichkeit eines Ansatzes. Schließlich beschreibt der
Begriff das Überlagern von Denkfiguren, Begriffen und Bildern des
kulturellen Archivs, indem er versucht, diese Überlagerungen durch
Kartografierung sichtbar zu machen. Schließlich geht es ja beim crossmapping sowohl
»jeweils um das Feststellen von Ähnlichkeiten, die sich zwischen ästhetischen
Werken ergeben, für die keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen im Sinne
eines explizit thematisierten Einflusses festgemacht werden können, wie es um
die Transformation geht, die sich durch die Bewegung von einer historischen Zeit
in eine andere ergibt, und schließlich auch um die Bewegung von einem medialen
Diskurs in den anderen«.5
4. Friedrich Nietzsche: »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne«, in: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, III/2, hrsg. von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1973, S. 365-384, hier S. 371.
5. Manuel Zahn: »Der sublime Körper. Eine Kartographie des Körpers zwischen zwei oder mehreren Toden«, Auszug aus einem Beitrag für Bodo Lecke
(Hg.): Mediengeschichte und Deutschunterricht (Beiträge zur Geschichte des
Deutschunterrichts), Frankfurt am Main (in Vorbereitung), http://kunst.erzwiss.
uni-hamburg.de/zahn/texte/sublime_koerper.html (29.08.05). Vgl. dazu auch
eine Definition des cross-mapping, die Elisabeth Bronfen in: »Stanley Cavells ›cultural conversations‹ mit Shakespeare – Vorarbeit für eine sich in Arbeit befindende Einführung zu Stanley Cavell«, http://www.bronfen.info/writing/texts/2004_
119
Steffen Greschonig
Es sind also sowohl historische Transformationen als auch Veränderungen der Medienwahrnehmung, die entscheidend für das sind, was
der Begriff cross-mapping bezeichnet. Kontextveränderungen betreffen
das Medium der Sprache ebenso, wie die diskursiven Bedingungen der
Textrezeption stets im Wandel begriffen sind. Denken wir an Nietzsche, so deutet sich die Verbindung von Lüge und Utopie bereits an.
Bevor die wechselseitige diskursive Durchdringung beider Phänomene mittels cross-mapping näher betrachtet wird, soll zunächst kurz
beleuchtet werden, wie das Textphänomen »Utopie« als Amalgam
verschiedener mythologischer, theologischer und philosophischer Diskursfragmente entstand. Innerhalb dieses Prozesses verdrängen Pragmatisierung und Funktionalisierung die ästhetischen und fiktionalen
Bestandteile der ursprünglichen Diskursphänomene.
Der utopische Diskurs ist nachhaltig beeinflusst von Platons Vorstellungen vom idealen Staat, von der christlichen Heilslehre und vor
allem auch von Augustinus’ Gottesstaat. In diesen Prätexten und Diskursen hat die literarische Utopie ihre sozialphilosophischen Vorläufer.
Sie hat in den Heilsvorstellungen von Bibel und frühchristlicher Theologie genauso ihre Wurzeln wie im Mythos und den staatsphilosophischen Überlegungen von Platons Politeia und Kritias.
In einem – wie sich später erweisen sollte – diskurskonstituierenden Akt entsteht durch die (Neu-)Kombination bereits bestehender
Textsorten wie (platonischer) Dialog, Reisebericht, Fürstenspiegel und
Horaz’scher wie spätmittelalterlicher Satire6 mit Morus’ De optimo rei
publicae statu sive nova insula Utopia ein Text, der Wahrheitsansprüche
in einen zunächst fiktionalen Raum stellt. Dabei gilt: Die Utopie ist als
ou-topos sowohl der (Nicht-)Ort, der mit den Mitteln der Dichtung erlogen ist, als auch jener gute, gar ideale eu-topos, der die Wahrheit in
04_cavell.html (03.03.06) selbst gibt: »[I]ch […] [habe] den Begriff des crossmapping geprägt, um eine von der klassischen Intertextualität/Intermedialität
abweichende Vorstellung, wie kulturelle Einflüsse wirken oder wirksam gemacht
werden könnten, in Umlauf zu setzen: Crossmapping […] als Feststellen von ähnlichen Denkfiguren als Anker für eine vergleichende Lektüre scheinbar nicht verwandter Texte.« Als anschauliches Beispiel für ein cross-mapping, das Bronfen
auch als cross-over bezeichnet, vgl. Elisabeth Bronfen: »Philosophie der Vernunft,
Literatur des Schreckens. Stanley Cavells Lektüren als Cross-Over«, in: Klaus Kastberger, Konrad Paul Liessmann (Hg.): Die Dichter und das Denken. Wechselspiel
zwischen Literatur und Philosophie, Wien 2004, S. 68-84.
6. Vgl. Gudrun Honke: »Die Rezeption der Utopia im frühen 16. Jahrhundert«, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur
neuzeitlichen Utopie, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 168-182, hier S. 169.
120
Lüge und Utopie
ihrer bloßen Potentialität repräsentiert. In der simulierten (Un-)Wirklichkeit der Utopie bleibt der dabei imaginierte Wahrheitsanspruch im
Stadium seiner Potentialität verhaftet. Ohne konkret über den fiktionalen Status hinaus zu dringen und ohne in der Realität Wirkungsmacht
entfalten zu können, bleibt Wahrheit für den außen stehenden Beobachter als bloße Möglichkeit auf den utopischen Raum beschränkt.
Wahrheit und Lüge sind als die zwei Seiten der einen Medaille die
bedingende Möglichkeit der Utopie, die dann ganz Fiktion ist.
Wie Morus das Spiel mit Wahrheit und Lüge perfektioniert, zeigt
insbesondere, wie geschickt er den fiktiven Raphael Hythlodeus zum
Angelpunkt seines vermeintlichen Wahrsprechens macht. Hierzu ein
Zitat aus der Vorrede der Utopia: der fiktive Herausgeberbrief von
Thomas Morus an Petrus Ägidius.
»Thomas Morus grüßt Petrus Ägidius vielmals.
Ich schäme mich beinahe, liebster Petrus Ägidius, Dir dieses Büchlein über den
Staat von Utopia erst nach fast einem Jahre zuzusenden, das Du zweifellos schon
nach sechs Monaten erwartet hast, da Du ja wußtest, daß in diesem Werke die
Mühe des Erfindens für mich wegfiel und ich auch über die Einteilung nicht nachzudenken, sondern nur das wiederzugeben brauchte, was ich mit Dir zusammen
genauso wie Du den Raphael [Hythlodeus] erzählen hörte. Daher gab es ja auch
keine Mühe mit dem sprachlichen Ausdruck; denn seine Redeweise konnte nicht
gewählt sein, da sie einmal unvorbereitet und augenblicksgebunden war, dann
aber die eines Mannes, der, wie Du weißt nicht so sehr des Lateinischen als vielmehr des Griechischen mächtig ist. Je näher aber meine Ausdrucksweise seiner
lässigen Schlichtheit kommt, um so sehr wird sie der Wahrheit entsprechen, die
allein in dieser Sache meine Sorge sein wird und sein muß.
Ich gestehe, lieber Petrus, daß ich durch diese Voraussetzungen so vieler Mühe
enthoben war, daß beinahe nichts zu tun übrig blieb; sonst hätten Erfindung und
Aufbau eines solchen Stoffes auch von einem nicht unbedeutenden und nicht gerade beschränkten Kopfe Beträchtliches an Zeit und Eifer gefordert. Wenn man
aber gar noch verlangt hätte, die Sache nicht nur wahrhaftig, sondern auch gewandt wiederzugeben, so hätte ich das mit dem größten Aufwand an Eifer und
Zeit nicht fertigbringen können.«7
7. Thomas Morus: »Utopia«, in: Klaus J. Heinisch: Der utopische Staat,
Reinbek 1993, S. 13.
121
Steffen Greschonig
Raphael Hythlodeus ist, obschon »Feind leerer Worte«8 – so die griechische Übersetzung seines Namens –, als empirisch fassbare Person
nicht existent. Die satirische Überzeichnung seines Namens – eine
graeko-lateinische Übersetzung macht ihn gar zum Gott der Lüge –
gibt dem Griechisch kundigen Rezipienten gleich mehrere Lügensignale mit auf den Weg. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist und
bleibt Hythlodeus die letzte Instanz für den Wahrheitsgehalt des Berichts. Die »Augenblicksgebundenheit« der fiktiven Begebenheit soll
einerseits Beweis für den Wahrheitsanspruch der in ihr verhandelten
eu-topischen Wahrheiten sein, andererseits deutet die Fiktion (die sich
in der satirischen Subversion der Namen ausdrückt) auf eine Lüge, die
solange Fiktion bleibt, als man die ihr zugrunde liegenden Aussagen
innerhalb des literarischen Ursprungsdiskurses belässt.
Die utopische Wahrheit ist also an die diskursiv markierte Lüge,
die Fiktion, gebunden. Die Fiktion ist keine eigentliche Lüge, da sie
von einem Lügensignal begleitet ist. Harald Weinrich hat diesen Befund in seiner Linguistik der Lüge expliziert: »Eine literarische Lüge, die
von einem Lügensignal begleitet ist, erfüllt daher nicht mehr den Tatbestand der Lüge im außerliterarischen Sinne.«9 Werden die ihr
zugrunde liegenden Aussagen allerdings in außerliterarischen Kontexten bei gleichzeitiger Deleatur der entsprechenden Lügensignale mit
Wahrheitsansprüchen verbunden, werden diese vormals fiktionalen
Diskurselemente zu Lügen im außerliterarischen Sinne. Das utopische
Wahrheitspotential wird dabei einem Prozess der »Entropie«10 preisgegeben; ein Vorgang, der die Fiktion der Utopie verschwinden und
den Wahrheitsgehalt der in ihr verhandelten Inhalte zur Lüge werden
lässt, einer Lüge allerdings, die sich nicht notwendigerweise über die
8. θλος (hythlos) lässt sich mit »leeres Geschwätz« übersetzen, wohingegen δ ιος (daios) sich auf δα ω (daio: brennen) zurückführen lässt. Eine entsprechende Übersetzung des letzteren Wortstamms wäre dann »brennend«, im
übertragenen Sinne »feindlich«. θλοδ ιος (hythlodaios) wäre demnach der
»Feind leerer Worte«. Möglicherweise handelt es sich aber auch um eine graekolateinische Wortschöpfung Morus’, heißt Raphael doch Hythlodeus. In diesem
Sinne wäre er der Gott des »leeren Geschwätzes«, der in der griechischen Mythologie – repräsentiert durch Hermes – sowohl der Gott der Diebe als auch der Lüge
ist.
9. Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966, S. 69.
10. Vgl. Jurij Striedter: »Die Doppelfiktion und ihre Selbstaufhebung.
Probleme des utopischen Romans, besonderes im nachrevolutionären Rußland«,
in: Dieter Henrich, Wolgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven, München 1983,
S. 277-330, hier S. 311.
122
Lüge und Utopie
augustinische Differentia spezifica der subjektiven Täuschungsabsicht
definiert, sondern aus einem Diskurswechsel resultiert.
So kam es schon kurze Zeit nach Erscheinen der Utopia zu irrtümlichen Fehlkontextualisierungen, die nicht nur eine solche Form der
»diskursiven Lüge« darstellen, sondern möglicherweise sogar auf einer
Lüge im klassischen augustinischen Sinne aufbauen. Im Folgenden
der Fall des Basler Ratsherren Claudius Cantiuncula. Dessen erste
Übersetzung der Utopia im Jahre 152411 ist der Präzedenzfall für die
täuschende Vereinnahmung der Utopie. Dass Cantiuncula den ersten
pragmatischen Vorstoß in Richtung Staatsschrift – und wie im Folgenden zu zeigen sein wird, noch pragmatischer, gar in Richtung »Polizei
(-ver-)ordnung« – zu verantworten hat und zum engeren Rezipientenkreis der Utopia gehört, der es (ihn ausgenommen) bei theoretischen
Reflexionen beließ, spricht sogar für eine Lüge im strengen augustinischen Sinne.12 Cantiuncula transformierte nicht nur die utopischen
Rechtsgrundsätze in den real-historischen Kontext der Bauernkriege
und Reformationswirren im Basel des Jahres 1524; er löste gar einen
nicht unerheblichen Teil des Textes aus seinem Kontext heraus und
übersetzte ihn ins Deutsche.
Dass Cantiuncula überhaupt erst in der Lage war, die utopischen
Rechtsgrundsätze zu funktionalisieren, sie in eine »Korrelation […]
[mit] der politischen Situation in Basel«13 zu bringen, lag daran, dass
Morus einen ersten Rezipientenkreis in sein utopisches Projekt mit
einbezog und damit einen Gattungsdiskurs begründete. In einem
Briefwechsel, der teilweise mit der Erstausgabe der Utopia zusammen
veröffentlicht wurde, waren Diskursbeiträge, in welchen das Werk nach
unterschiedlichen Aspekten diskutiert wurde. In der Engführung verschiedener Interessen wie Fiktionalitätsproblematik und Gattungsfragen bleiben die »Rezipienten hinter dem Reflexionsniveau des (Basis-)
Textes zurück«.14 Von Petrus Ägidius (der in der Herausgeberfiktion
direkt von Morus angesprochen wird) und Beatus Rhenanus wird das
Fiktionalitätsproblem diskutiert. Grapheus und Noviomagus thematisieren Fragen der Gattung, wohingegen Peter Paludanus und Erasmus
von Rotterdam die humanistische Bildung des Autors Morus betonen.
11. Thomas Morus: Von der wunderbaren Insel Utopia, hrsg. von H. Höfener,
Basel 1524 (Nachdruck: Hildesheim 1980). Die Übersetzung stammt von Cantiuncula.
12. Vgl. Honke: Rezeption der Utopia (wie Anm. 6), S. 169: »Cantiunculas
Utopiarezeption liegt die Lektüre des Textes und der Begleitbriefe zugrunde und
gehört damit in eine zweite Phase der zeitgenössischen Rezeption.«
13. Ebenda, S. 176.
14. Ebenda, S. 180. Vgl. auch ebenda, S. 170.
123
Steffen Greschonig
Cantiuncula aber ging noch weiter. Er übersetzte lediglich das
zweite Buch der Utopia, unterschlug dabei die Bezüge zum ersten
Buch und zur Vorrede, die durch ihre Herausgeberfiktion erst das
durch die Dialektik von Lügenhaftigkeit und den darin verhandelten
Wahrheitsansprüchen entstehende utopische Spannungspotential des
Textes aufbaut. Cantiuncula rechtfertigte anlässlich seiner Demission
vom Basler Magistratsposten15 und dem Erscheinen seiner fragmenvotarischen Utopia-Übersetzung in einer Dedikationsepistel an den Bürgermeister der Stadt und den Rat sein Anliegen.
»Diewyl nun dise policy der Innsel Vtopia […] die baßgeordnete ältiste vnnd bestendtlicheste yewelten gewesen vnd noch syn soll, so von den mennschen ye angesehen worden, hab ich darumb die histori sollicher Innsel […] als waren liebhanern aller recht vffgesetzten policyen vnd burgerlichen Regiments […] vß der latinischen in die Tütsche sprach […] transferieren wöllen.« (Hervorhebung S.G.) 16
Hielt Cantiuncula möglicherweise die »histori«, also die Geschichte der Insel Utopia, für wahr? In diesem Fall hätte er nicht gelogen,
wäre lediglich einem Irrtum oder einer Selbsttäuschung aufgesessen.
Möglicherweise lag es an Cantiunculas unzureichenden Griechischkenntnissen, dass er die Ironiesignale in der griechischen Nomenklatur von Orten und Personen nicht zur Kenntnis nahm.
Tatsächlich ist nicht mit letzter Gewissheit festzustellen, ob Cantiuncula tatsächlich entgangen ist, dass Morus’ Text durch eine komplexe »Wahrheits- und Herausgeberfiktion« das Lügengebilde der fik-
15. Vgl. Guido Kisch: Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist
des 16. Jahrhunderts, Basel 1970, S. 28f., der in Cantiunculas Entscheidungsbegründung einen Vorwand sieht: »Die Entwicklung des kirchlichen Streites, der mit
dem vollen Sieg des Protestantismus enden sollte, ist es in erster Linie gewesen,
die Cantiuncula […] veranlaßte Stadt und Stellung zu verlassen […]. Zwar gibt er
als Ursache seines Scheidens an, daß er sehr ungern von Basel scheiden müsse,
um seinem alten kranken Vater gemäß kindlicher Pflicht zur Seite zu stehen.«
Kisch weist darauf hin, dass Cantiuncula als gemäßigter Katholik der Reformationsbewegung mit entschiedener Ablehnung entgegen stand. Der Vorwand, den
Vater zu pflegen wäre damit als (Not-)Lüge zu bewerten.
16. Claudius Cantiuncula: »Dedikationsepistel an Bürgermeister und Rat
der Stadt Basel zu Cantiunculas Ausgabe der deutschen Übersetzung des zweiten
Buches von Thomas Morus’ Utopia«, in: Guido Kisch: Gestalten und Probleme aus
Humanismus und Jurisprudenz. Neue Studien und Texte, Berlin 1969, S. 323-328,
hier S. 326f.
124
Lüge und Utopie
tiv-imaginären Staatsbeschreibung verschleiert.17 Dagegen spricht,
dass der Rechtsgelehrte Kontakt zum Basler Humanistenzirkel um
Erasmus gehabt hatte und den fiktiven Briefwechsel zwischen Morus,
Erasmus und den anderen, bereits erwähnten Humanisten mit einiger
Gewissheit kannte.18 In diesem Fall hätte er – durchaus im streng
augustinischen Sinne – gelogen.
Die Tatsache, dass Cantiuncula nur das zweite Buch der Utopia
übersetzte, welches das Rechtssystem darstellt, zeigt in jedem Fall aber
in Richtung dessen, was Morus – aller Wahrscheinlichkeit nach – vermeiden wollte: die Transformation des utopischen Diskurses in eine
Staatsschrift.19 Die nietzscheanische Form der diskursiven Lüge, eine
Form der Lüge also, die in ihrer lügenhaften Metaphorik das Unwirkliche als Wirklichkeit erscheinen lässt, ist aber auch dann virulent, wenn
Cantiuncula lediglich einer (Selbst-)Täuschung aufgesessen ist.
Wohingegen diese erste Kontextualisierung ganz konkret auf die
Reformationswirren in Basel beschränkt blieb, waren spätere Funktionalisierungen des Utopischen, insbesondere jene, die zu Beginn des
19. Jahrhunderts virulent wurden, dem aufkommenden Positivismus
und Historismus als Ausformungen des Umbruchs zur Episteme des
Menschen geschuldet; ein diskursiver Umbruch, den Michel Foucault
in Les mots et les choses20 beschreibt. An die Stelle des utopischen Denkens treten nun die Verzeitlichung des Menschen in der Anthropologie
durch Positivismus und Historismus und die Abwendung von der als
17. Wilhelm Voßkamp: »Thomas Morus’ ›Utopia‹. Zur Konstituierung eines
gattungsgeschichtlichen Prototyps«, in: Ders. (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 183-196, hier
S. 187. Vgl. Honke: Rezeption der Utopia (wie Anm. 6), S. 168ff.
18. Vgl. Honke: Rezeption der Utopia (wie Anm. 6), S. 177 und Hans Süssmuth: Studien zur Utopia des Thomas Morus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des
16. Jahrhunderts, Münster 1967, S. 26ff.
19. In diesem Sinne ist auch die Mohl’sche Definition von der Gesellschaftsutopie als »Staatsroman« denkbar unzulänglich. Hier wird der literarische
Gehalt einzig auf seine gesellschaftspolitische Funktion reduziert. Das Label
»Staatsroman« ist der Versuch der Gestaltung einer »Lehre im Gewande der Erzählung«, welche »die Frage, wie ein Staat am gerechtesten und zweckmäßigsten
einzurichten, die ganze bürgerliche Gesellschaft auf menschlich-zuträgliche Weise
zu ordnen sei, durch die Schilderung eines erdichteten Ideals zu beantworten«
suchte. Robert von Mohl: »Die Staats-Romane. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte
der Staats-Wissenschaften«, in: Zeitschrift für die gesammte [sic!] Staatswissenschaft 1 (1845), S. 24-74.
20. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971.
125
Steffen Greschonig
»metaphysisch« gescholtenen Philosophie. Das »Utopische« ist fortan
diskreditiert. Es ist nicht mehr Möglichkeitsraum, sondern mit dem
Dünkel des Irrtums, der Täuschung, Selbsttäuschung und der Lüge
behaftet.
Zunächst waren es die sozialen Utopien der Frühsozialisten und
dabei insbesondere Charles Fouriers Theorie der vier Bewegungen und
allgemeinen Bestimmungen, die die Schulphilosophie nicht nur des
Irrtums, sondern gar der Lüge anklagten. Fourier beklagt das »Versagen der unexakten Wissenschaften«21, wenn er behauptet, dass der
»Zusammenbruch von Bibliotheken und Berühmtheiten« der Geistesgeschichte bereits begonnen habe.
»Soll man schleppende Trauerkleider anlegen, um den Politikern und Moralisten
zu verkünden, daß ihr letztes Stündlein geschlagen hat und die unendliche Reihe
ihrer Bücher sich in nichts auflösen wird, daß Plato, Seneca, Rousseau, Voltaire
und alle anderen Größen der modernen und antiken Unbeweisbarkeit in den
Strom des Vergessens untertauchen werden?«22
Stattdessen gelte es auf der Basis seiner Theorie der vier Bewegungen und
allgemeinen Bestimmungen »unverzüglich einen Kanton mit progressiven Serien [zu] gründen, der, indem er die Harmonie anschaulich
macht, den Menschen den philosophischen Star sticht und damit, mit
einem Schlag, alle zivilisierten, barbarischen und wilden Nationen ihrer sozialen Bestimmung, der universellen Einheit zuführt«.23 Dort
würde sich dann auch das Verhältnis von Wahrheit und Lüge ebenso
neu bestimmen wie die ökonomischen Verhältnisse.
»Wer in der Zivilisation auf jede nur erdenkliche Art betrügt, wird in der neuen Gesellschaftsordnung zum wahrheitsliebenden Menschen, denn er betrügt ja nicht
aus Vergnügen am Betrug, sondern nur, um zu Geld zu kommen. Man zeige ihm,
daß er bei einem Geschäft tausend Taler gewinnen kann, wenn er lügt, und dreitausend, wenn er die Wahrheit sagt, so wird er die Wahrheit vorziehen, selbst
wenn er der größte Gauner ist.«24
Als sich der Sozialismus Jahrzehnte später zur Wissenschaft aufschwang, mussten die Sozialisten leider feststellen, dass ihre Ahnen
entweder gelogen oder zumindest geirrt hatten. Die fundamentale
21. Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hrsg. von Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main 1966, S. 257ff.
22. Ebenda, S. 60.
23. Ebenda, S. 345.
24. Ebenda, S. 121.
126
Lüge und Utopie
Kritik Engels’ am Frühsozialismus basiert im Wesentlichen auf dem
Vorwurf, er habe sich als Stabilisator einer bürgerlichen Vernunft erwiesen. Der Frühsozialismus habe in seinen Modellen vor allem dahingehend gefehlt, dass er einen Umstand produziert habe, »der es den
Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter nicht
einer besondern Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit
hinzustellen«.25 Insbesondere den »drei großen Utopisten«26 SaintSimon, Fourier und Owen wirft Engels mangelnde Differenziertheit
vor: »Wie die Aufklärer wollen sie nicht zunächst eine bestimmte Klasse, sondern sogleich die gesamte Menschheit befreien.«27
Engels – wollte er konsistent sein – konnte und musste die Frühsozialisten des Irrtums bezichtigen, da die ersten utopischen Kolonien
nach dem Muster Owens in ihrer praktischen Umsetzung, insbesondere in den USA28, faktisch schon gescheitert waren29, die Klassengegensätze sich durch die erfolgreiche Behauptung des Bürgertums im
19. Jahrhundert wesentlich verschärft hatten und die Legitimierung des
eigenen Projekts im positivistischen Klima des 19. Jahrhunderts notwendig wurde. Dennoch durfte sich Engels nicht zu sehr absetzen.
Schließlich konnte und wollte er von den ideengeschichtlichen Wurzeln der Frühsozialisten profitieren, ohne deren Irrtümer zu übernehmen. In eingeschränktem Maße sollte schließlich auch schon für Fourier gelten:
»Der Sozialismus ist immer allein der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft
und Gerechtigkeit und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigne Kraft die
25. Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur
Wissenschaft, Berlin 1971, S. 55 verweist dabei explizit auf Thomas Müntzer.
26. Ebenda.
27. Ebenda, S. 56. Vgl. auch Engels Aussagen zu dieser Problematik in der
Vorrede zur englischen Ausgabe des Manifest der Kommunistischen Partei (aus
dem Jahre 1888), wo eine Typologie, die den Weg zum wissenschaftlichen Sozialismus weist, erstellt wird. Vgl. dazu auch Karl Marx, Friedrich Engels: »Deutsche
Ideologie«, in: Dies.: Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 9-77, hier S. 28. Als Vertreter
des utopischen Sozialismus werden Fourier und Owen von Cabet und Weitling als
Väter des »utopischen Kommunismus« beerbt. Auf diese Vertreter folgt schließlich der wissenschaftliche Sozialismus.
28. Vgl. Ivan Doig: Utopian America. Dreams and Realities, Rochelle Park
(N.J.) 1976.
29. »Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr
mussten sie in reine Phantastereien verlaufen.« Engels: Entwicklung des Sozialismus (wie Anm. 25), S. 59.
127
Steffen Greschonig
Welt zu erklären; da die absolute Wahrheit unabhängig ist von Zeit, Raum,
menschlicher geschichtlicher Entwicklung, so ist es bloßer Zufall, wann und wo
sie entdeckt wird.«30
Dabei wird selbst von Engels die Herbeiführung von gesellschaftlichen
Veränderungen im Wesentlichen als Resultat des Herauslösens (und
der Analyse) von Einzelereignissen aus ihrem Gesamtzusammenhang
betrachtet. Er schreibt: »Um die Einzelheiten zu erkennen, müssen wir
sie [die Erkenntnisse] aus ihrem natürlichen und geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besondren Ursachen und Wirkungen untersuchen.«31
Einerseits Herauslösen von Einzelereignissen aus ihrem Gesamtzusammenhang, andererseits ein universeller Wahrheitsanspruch:
Hätte Engels jene erkenntniskritische Grundhaltung, auf deren Basis
er andere Denksysteme als ideologisch verunglimpfte, an seine eigene
Theorie angelegt, und hätte er seine Erkenntnisse dann nicht revidiert,
so hätte er gar in einem moralischen, in einem strengen augustinischen Sinne gelogen. Doch sind explizit formulierte Wahrheitsansprüche mit implizit vorhandenen Intentionen auf bloßer Textbasis
nicht abgleichbar. Wahrheitsansprüche, die sich aus dem »räthselhaften Wahrheitstrieb«32 der jeweiligen Diskursbeitragenden speisen,
sind aufgrund der »Gesetzgebung der Sprache« mit hermeneutischen
Mitteln nicht von Lügen im außermoralischen Sinne zu trennen.33 So
sind auch diskursive Lügen, Irrtümer und Selbsttäuschungen in letzter
Instanz nicht zu trennen. Auch der Utopismus Engels erscheint in diesem Licht als Lüge im außermoralischen Sinne. Ein cross-mapping von
Lüge und Utopie zeigt dennoch, dass nicht nur die aus Wahrheitsansprüchen heraus entstandene literarische Utopie mit der Lüge verbunden ist, sondern auch andere utopistische (der Selbstzuschreibung
nach bisweilen sogar wissenschaftliche) Diskurse durchdringt. Demgegenüber ist die Lüge der Gegenpol utopischen, utopistischen und wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens. Im Rahmen einer entsprechenden
Analyse ist immer die Frage nach der Perspektive entscheidend, eine
Frage, die nicht erst im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Vergleichs als mehr oder minder (il-)legitim erscheinen mag. So bezichtigt
schon der kritische Rationalismus eines Karl Popper den »wissenschaftlichen« Sozialismus, »utopistisch« zu sein. Popper hat diese
Utopismuskritik in Das Elend des Historizismus expliziert. Seine Kritik
30.
31.
32.
33.
Ebenda, S. 67.
Ebenda, S. 70.
Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge (wie Anm. 5), S. 371.
Ebenda.
128
Lüge und Utopie
trifft den ideengeschichtlichen Urvater des Utopismus, Platon, ebenso,
wie schließlich auch Marx als einen der bekanntesten Vertreter des
Historizismus. Aus der Sicht des kritischen Rationalismus gehen Historizismus und Utopismus eine »unheilige Allianz« ein.
»Das stärkste Bindeglied in dem Bündnis zwischen Historizismus und Utopismus
ist zweifellos die holistische Einstellung, die beiden gemeinsam ist. […] Und sowohl der Historizist als auch der Utopist scheinen durch das Erlebnis einer sich
verändernden sozialen Umwelt beeindruckt und manchmal tief verstört zu sein.
[…] Ein weiteres Bindeglied zwischen dem Historizisten und dem Utopisten ist die
Tatsache, daß beide meinen, ihre Endziele seien nicht etwas, das man wählen
oder für das man sich moralisch entscheiden müßte. Der Historizist und der Utopist meinen vielmehr, diese Ziele innerhalb ihrer Forschungsgebiete wissenschaftlich entdecken zu können.« (Hervorhebung S.G.)34
Dieses Entdecken ist es, welches schon die Frühsozialisten in den Mittelpunkt ihres utopistischen Positivismus stellen und das bei Engels –
trotz oder gar wegen der sich selbst zugeschriebenen Wissenschaftlichkeit und damit perspektivischen Zurichtung – gar universelle Geltung
beansprucht. Für Popper stellt diese vom Irrtum durchdrungene Haltung mehr als nur eine von der eigenen Standortgebundenheit35 geprägte Selbsttäuschung dar, auch wenn er nicht expressis verbis von einer Lüge spricht. Der Glaube an eine zeitliche Vorherbestimmung, innerhalb welcher »wissenschaftliche Wahrheit« entdeckt werden soll,
verknüpft Wahrheitsanspruch und das vermeintliche historische Faktum miteinander. Die Lüge liegt also auch im Historizismus in der
Struktur des Diskurses versteckt. Sie ist das Ergebnis jenes Wahrheitstriebes, den Nietzsche als Ursprung der Nivellierung von Wahrheit und
Lüge im außermoralischen Sinne ausmacht. Dieser »diskursiven Lüge«, die für Popper in erster Linie ein fundamentaler Irrtum als Folge
einer holistischen Geschichtsauffassung ist, muss die Täuschungsabsicht eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen deswegen
nicht notwendigerweise inhärent sein; einem universalistischen Wahrheitsanspruch, der sich seine perspektivische Beschränktheit nicht eingesteht, aber schon.
34. Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 21969, S. 59f.
35. Zur wissenssoziologischen Fundierung des Begriffs und seiner Verbindung zur Lüge vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main
4
1965 und Steffen Greschonig: »Ideologie und Utopie. Karl Mannheims (Wissens-)Soziologie jenseits der Lüge«, in: Steffen Greschonig, Christine S. Sing
(Hg.): Ideologien zwischen Lüge und Wahrheitsanspruch, Wiesbaden 2004,
S. 67-84.
129
Odaliske reproduziert
Odaliske reproduziert.
Umrisslinien des Aktes im 19. Jahrhundert
zwischen Malerei und Fotografie
Silke Förschler
Wie zentral das Verfahren des Vergleichs für die Bestimmung einer
Bildaussage ist, zeigen Erwin Panofskys Ausführungen zur Ikonografie. Das Erfassen eines Bildgegenstandes verläuft über den Vergleich
der dargestellten Formen mit Dingen der Alltagswelt. Das Dargestellte
wird mit alltäglichen Ereignissen, wie zum Beispiel dem Ziehen des
Hutes zur Begrüßung, in Verbindung gebracht. Um die Bedeutung
von etwas Dargestelltem zu entschlüsseln, bedarf es, laut Panofsky,
einer »gewissen Sensibilität« und der Vertrautheit mit Bräuchen und
Traditionen eines Kulturkreises. Im zweiten Schritt wird das Thema
erfasst, indem das zuvor festgestellte Motiv in das bestehende Bildrepertoire eingeordnet wird. Den »eigentlichen Gehalt« eines Bildes, also
dessen Bedeutung, erkennt man, indem man Bildmotive beschreibt
und klassifiziert und sie dann als Symptom von etwas »anderem«,
einer historischen Epoche, einer Nation, einer Klasse oder eines religiösen oder philosophischen Hintergrunds lesen kann. Verglichen
wird hierbei, wann und in welchem Zusammenhang Themen, repräsentiert durch Bildmotive, auftauchen, sichtbar gemacht werden und
wie sie sich voneinander unterscheiden.1
1. Vgl. Erwin Panofsky: »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in
die Kunst der Renaissance«, in: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst,
Köln 1996 [1939], S. 36-67. Wissenschaftlich verortet wird die Ikonografie durch
Panofsky anhand eines Vergleichs mit der Ethnografie. Er fordert: Wie in dieser
Wissenschaft menschliche Rassen beschrieben und klassifiziert werden, solle dies
mit Bildern geschehen. Damit wird die Ordnung aus der Biologie, für die Foucault
herausgearbeitet hat, dass sie seit dem 18. Jahrhundert Klassifizierungen von
Einzelwesen über den Vergleich der sichtbaren Strukturen vornimmt und so eine
131
Silke Förschler
Vergleiche von Bildinhalten und Motiven sind in der Kunstgeschichte eine legitime Methode, um eine Bildaussage zu bestimmen,
Darstellungstraditionen herzustellen oder auch Typen- und Stilgeschichten zu schreiben. Vergleiche auf ikonografischer Ebene werden
in der Regel über Mediengrenzen hinweg gezogen, ohne mediale Differenzen zu thematisieren.2 Dabei wird übersehen, dass diese sich
häufig schon in historisch zeitgenössischen Diskursen festmachen
lassen. Anschließend an die diskursarchäologische Methode Michel
Foucaults verstehe ich Diskurse als den Darstellungen vorgängig und
sie strukturierend. Foucault schlägt für die Malerei eine Analyse der
Diskurse vor, die um Raum, Tiefe, Farbe, Licht, Proportionen, Inhalte
und Umrisse geführt werden. Er geht weiterhin davon aus, dass Diskurse in Techniken und Motiven Gestalt annehmen, komplex auf das
Dargestellte bezogen sind und im Verhältnis zu diesem stehen.3 Um
das »ganze Feston des Sichtbaren und des Sagbaren, das eine Kultur in
einem bestimmten geschichtlichen Augenblick kennzeichnet«4, zu
Rassenklassifizierung etabliert, aufgegriffen und als kunsthistorisches Verfahren
propagiert. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974,
S. 279-287. – Für die Diskussionen dieses Aufsatzes danke ich herzlich Tilo Renz.
2. Als Beispiel ist Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne zu nennen, der Fotografien zu Themenkomplexen auf Tafeln kombinierte. Manche Tafeln vereinen
Werbeplakate, Briefmarken, Zeitungsausschnitte und künstlerische Objekte. Weiblichen Aktdarstellungen des 19. Jahrhunderts widmen sich aus ikonografischer
Perspektive Beatrice Farwell: Manet and the Nude: a Study of Iconography in the
Second Empire, London 1981, sowie Gerald Needham: »Manet, ›Olympia‹ and Pornographic Photography«, in: Thomas B. Hess, Linda Nochlin (Hg.): Woman as Sex
Object, Studies in Erotic Art 1730-1970, London 1972, S. 81-89.
3. Vgl. hierzu Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main
1973, S. 276f. Foucaults Methode der Archäologie wendet sich gegen etwas Vordiskursives der Malerei, etwas Visionäres oder eine leere, nackte Bedeutung, die
durch eine spätere Interpretation freigesetzt werden müsste. Genau dieser vordiskursiven Materialität eine Bedeutung zu geben, versucht beispielsweise Sybille
Krämer mit dem Begriff der Spur. In Abgrenzung zu Marshall McLuhan und Niklas
Luhmann arbeitet sie das Verhältnis zwischen einer Materialität des Mediums und
einer konventionellen Semantik heraus. McLuhan setzt das Medium mit der Botschaft gleich, während Niklas Luhmann Medium und Form, also Zeichenträger und
Bedeutung, unterscheidet. Krämer vergleicht Medien mit dem Unbewussten, da
beide allein durch Spuren in Erscheinung treten. Sybille Krämer: »Das Medium als
Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 73-94.
4. Michel Foucault: »Worte und Bilder« [1967], in: Ders.: Dits et Ecrits.
Schriften 1, Frankfurt am Main 2001, S. 794-797, hier S. 795.
132
Odaliske reproduziert
beschreiben, kann sich die Analyse in zwei Richtungen bewegen, von
den Diskursen zum Artefakt und vom Artefakt zum Diskurs.
Dass mediale Differenzen, wie in der Ikonografie, unberücksichtigt
bleiben, gilt nicht generell für kunsthistorische Ansätze. Unterschiedliche Medien werden aufeinander bezogen, wenn es sich beispielsweise
um Grafiken handelt, die als Vorstudien für ein zu interpretierendes
Gemälde herangezogen werden oder um Fotografien, die als Studien
für Körperdarstellungen in der Malerei fungieren.5 Diese Verknüpfung unterschiedlicher Medien geht häufig mit einer Hierarchisierung
bildgebender Verfahren einher. In zunehmendem Maße finden sich
allerdings in den letzten Jahren Ansätze, die neben dem ikonografischen Gehalt von Bildern ihrer Medialität einen eigenen Wert zuerkennen und deren Einfluss auf die Bedeutungsproduktion berücksichtigen.6 Doch wann sind Vergleiche über Mediengrenzen hinweg für
5. Zu diesem Vergleich anhand einzelner Künstler siehe: Sylvie Aubenas:
»Modèles de peintre, modèles de photographie«, in: Dies. (Hg.): L’Art du nu au
XIXe siècle, le photographe et son modèle, exposition, Paris, Bibliothèque nationale de France François-Mitterrand, 14 octobre 1997 – 18 janvier 1998, Paris 1997,
S. 42-67; Dominique de Font-Réaulx: »Courbet et la photographie: L’Exemple
d’un peintre réaliste, entre vérité et réalité«, in: Aubenas: L’Art du nu au XIXe
siècle, S. 84-91; Ulrich Pohlmann: »Körperbilder. Akte, Akademien, Anatomien«,
in: Ders. (Hg.): Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im
19. Jahrhundert, München 2004, S. 69-97, sowie Katharina Sykora: »Auf den
zweiten Blick. Henri Matisse und die Fotografie«, in: Pia Müller-Tamm (Hg.): Henri Matisse. Figur, Farbe, Raum, Ostfildern 2005, S. 331-342. Eine Ausnahme bildet
die Fragestellung, der Timm Starl nachgeht. Er untersucht, welche Differenzen,
Brüche und Ähnlichkeiten zwischen dem Stillleben in Fotografie und Malerei bestehen. Vgl. Timm Starl: »Nach den Dingen. Die Erfindung des Stillebens durch
die Fotografie«, in: Fotogeschichte, Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 91 (2004), S. 3-14.
6. Vgl. Horst Bredekamp: »Bildmedien«, in: Hans Belting, Heinrich Dilly,
Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer, Martin Warnke (Hg.): Kunstgeschichte.
Eine Einführung, Berlin 2003, S. 355-378; Susanne von Falkenhausen, Silke Förschler, Ingeborg Reichle, Bettina Uppenkamp (Hg.): Medien der Kunst: Geschlecht,
Metapher, Code, Marburg 2004; Hildegard Frübis: »Geschlecht und Medium: Natur,
Körper und Entdeckerphantasien«, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte
und Gender. Eine Einführung, Berlin 2006, S. 331-345; Hans Dieter Huber: »Kommunikation in Abwesenheit. Zur Mediengeschichte der künstlerischen Bildmedien«, in: René Hirner (Hg.): Vom Holzschnitt zum Internet. Überlegungen zum
Verhältnis von Kunst und Bildmedien von 1450 bis heute, Ostfildern 1997, S. 3761, sowie Sigrid Schade, Silke Wenk: »Strategien des ›Zu-sehen-Gebens‹: Ge-
133
Silke Förschler
eine Bildanalyse legitim, und welche neuen Perspektiven ergeben sich
daraus? Illegitim scheint der Vergleich unterschiedlicher Medien in der
Kunstgeschichte immer noch zu sein, sobald mediale Verfasstheiten
reflektiert werden, ohne sie zu hierarchisieren, da dies Kategorien und
Ordnungen der Kunstgeschichtsschreibung wie Gattungshierarchien,
Stilgeschichte, die Unterscheidung der Medien in high and low missachten und das Subjekt des Künstlers hintanstellen würde. Der Gewinn eines medial vergleichenden Verfahrens, das auf derartige Hierarchisierungen verzichtet, liegt meiner Meinung nach gerade darin,
Spezifika der Medien und ihre historische Variabilität besser in den
Blick zu bekommen und darüber Interdependenzen verschiedener
Medien sowie ihre Effekte auf die Bildproduktion beschreiben zu können.7
Ausgehend von diesen methodischen Überlegungen, wird im
Folgenden das Motiv der Odaliske8 in der Malerei mit Aktdarstellungen in der Fotografie verglichen. Dabei gehe ich von Salonkritiken zu
Ingres’ Großer Odaliske aus, um zu zeigen, wie diese Medialität thematisieren, indem sie den Darstellungsgegenstand anhand von Spezifika
der Malerei, vorrangig der Linienführung, bewerten. Untersucht wird
dann, auf welche Weise sich der Malerei zugeschriebene mediale
Charakteristika in der formalen Gestaltung, insbesondere der Umrisslinie, der fotografischen Akte wieder finden lassen. Ich vertrete die
These, dass das neue Medium Fotografie, als naturwissenschaftlich
abgewertet, durch die Übernahme eines Motivs der Aktmalerei und
dessen Darstellungsmodi Anerkennung als Kunst zu erlangen sucht.
Gemälde der Odaliske im 19. Jahrhundert transformieren das traditionelle Motiv der Venus, indem sie den weiblichen Akt in ein orientalischlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte«, in: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.): Genus, Stuttgart 2005, S. 144-185.
7. Strukturhomologien zwischen dem Sehen, welches optische Apparate
wie Thaumatrop, Stereoskop und Kaleidoskop möglich machen, und dem Sehen,
das moderne Kunst voraussetzt, zeigt Jonathan Crary auf. Linda Williams verbindet in Reaktion auf Crary Motiv, Medium und Betrachterblick und macht anhand
pornografischer Fotografien deutlich, dass Sehen und Blick geschlechtlich codiert
sind und damit Machtpositionen einhergehen. Vgl. Jonathan Crary: Techniken des
Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996; Linda Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«, in: Herta
Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 226-266.
8. Der Begriff Odalisque wurde vom türkischen Wort für Zimmer, Oda, abgeleitet und im Grand Larousse du XIXe siècle mit »femme de chambre esclave«
erklärt.
134
Odaliske reproduziert
sches Interieur versetzen. Sie sind Teil des seit Napoleons Ägyptenfeldzug verstärkten Orienthypes. Die räumliche und kulturelle Verlagerung ist für den Vergleich mit der Fotografie relevant, da mit der
Orientalisierung des Motivs eine sinnliche Aufladung der Aktmalerei
vollzogen wird und zu fragen ist, ob sich diese Aufladung auch in der
Fotografie findet. Das Gemälde Große Odaliske von Jean-AugusteDominique Ingres aus dem Jahre 18149 zeigt einen Rückenakt im
Vordergrund, dessen Haut eine große Fläche der Leinwand einnimmt
und dessen Blick den Betrachtenden zugewandt ist (Abb. 1).
Abbildung 1: Jean-Auguste-Dominique Ingres,
Die große Odaliske
Die dargestellten Materialien wie ornamentreiche Stoffe, Schmuck,
Federn sowie Rauch verweisen auf zeitgenössische Vorstellungen des
Orients, die sich aus unzähligen Reiseberichten, Illustrationen und
wissenschaftlichen Texten zusammensetzen.10 Diese Diskursivierung
9. Öl auf Leinwand, 91x162 cm, Musée du Louvre, Paris. Das Gemälde
wird 1813 von Caroline Murat, Königin von Neapel und Schwester Napoleons in
Auftrag gegeben; gefertigt in Rom, ist es zum ersten Mal 1819 im Salon ausgestellt. 1855, nochmals auf der Weltausstellung in Paris zu sehen, erfährt das
Gemälde weitaus mehr Beachtung in der Kunstkritik als bei seiner ersten Präsentation. Im Folgenden beziehe ich mich auf die spätere Rezeption.
10. Zwischen 1704 und 1717 wird die Erzählsammlung Tausend und eine
Nacht von Antoine Galland ins Französische übersetzt (jedoch erst 1840 von unterschiedlichen Künstlern illustriert), die Perserbriefe von Montesquieu 1721 veröffentlicht und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Erfassung Ägyptens zwischen 1809 und 1828 in 23 Bänden publiziert unter dem Namen Description de
l’Égypte, ou Recueil des observations et des recherches qui ont été faites en Égypte
pendant l’expédition de l’armée française.
135
Silke Förschler
einer anderen Kultur, die mit ihrer Kolonialisierung einhergeht11,
vollzieht sich Hand in Hand mit den neu aufkommenden mechanischen Reproduktionstechniken12, die wiederum auf das alte Medium
Malerei Einfluss nehmen. Dass es sich um ein orientalisches Sujet
handelt, wird in den zeitgenössischen Besprechungen des Gemäldes
nicht erwähnt. Hingegen findet die Malweise in Verbindung mit dem
Motiv des weiblichen Aktes ausführliche Beachtung. Der Schriftsteller
und Kunstkritiker Paul Mantz schreibt 1846 über das Gemälde:
»Mon Dieu! Si vous avez quelques doutes sur la valeur du dessin de M. Ingres, un
simple coup d’oeil jeté sur l’Odalisque (1814) va bientot les faire disparaitre. […]
Ingres a étendu le corps de son Odalisque sur une étoffe d’un bleu des plus vifs;
je n’ai pas le droit de blàmer les tons cadavéreux qui s’étalent sous laiselle de la
jeune femme et sur toutes les parties que baignent les demi-teintes, […] Ingres
copiant un modèle vulgaire, n’a pas eu l’audace de corriger les faiblesses d’une
nature appauvri et dégradée, je le regrete: mais ce qui doit m’occuper surtout,
c’est le dessin. L’Odalisque est simplement une étude de femme nue; l’attitude
est choisie pour montrer toute l’habileté du maître, les épaules, les reins, les
cuisses étalant sans voile la splendeur de leurs formes, serront, j’imagine, autant
de prétextes adroitement inventés pour faire voir comment un modèle; les cour11. Edward Said legt in seinem Buch Orientalism, New York 1978, anhand
einer Diskursanalyse literarischer und wissenschaftlicher Texte ausführlich dar,
dass seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den europäischen Wissenschaften der
imaginäre Orient als das Andere konstruiert wurde, um seine politische und kulturelle Beherrschung zu legitimieren. Linda Nochlin überführt in »The Imaginary
Orient«, in: Art in America 9-10/1983, S. 119-131, Saids Ansatz in die Kunstgeschichte. Sie fordert, die Machtstrukturen zu analysieren, innerhalb derer die Orientalisten Bilder produzierten.
12. So enthält beispielsweise die Description de l’Égypte zum Teil maschinell gefertigte Gravuren, die Architektur, Fauna, Flora, Menschen und Sitten
Ägyptens abbilden. Vgl. hierzu die in Kürze erscheinende Dissertation von Melanie Ulz: Auf dem Schlachtfeld des Empire. Männlichkeitskonzepte und Differenzkonstruktionen in der napoleonischen Bildproduktion zum Ägyptenfeldzug. Einer
der ersten, heute noch bekannten Fotografen, die Daguerreotypien des »Orients«
produzierten, ist Frédéric Goupil-Fesquet, der seinen Onkel, den Maler Horace
Vernet, 1839 auf einer Ägyptenreise begleitete. In seinen Schriften Voyage d’Horace Vernet en Orient, die er 1843 veröffentlichte, schildert Goupil-Fesquet seine
ersten Versuche, Aufnahmen zu machen. Je einfacher das fotografische Verfahren
zu handhaben ist, desto mehr Amateure, Künstler und Schriftsteller fertigen Alben mit Reisefotografien an. Vgl. hierzu auch Sylvie Aubenas: »Les photographes
en Orient, 1850-1880«, in: Dies., Jacques Lasarrière (Hg.): Voyage en Orient, Paris
1999, S. 18-42.
136
Odaliske reproduziert
bes se dérouleront charmantes, et l’ensemble, il faut l’espérer, serra correct et
fort: Venez, voyez avec moi.«13
Nach Mantz’ Besprechung drückt die Aktdarstellung die Opposition
von Natur und Kunst aus. Der Einsatz von Farbe und Linie wird als
künstlerisch gelobt, wohingegen problematische Darstellungen der
Anatomie auf die Natur, also auf den Körperbau des Modells, zurückgeführt werden.14 Zudem ist die Haltung des Aktes eine Möglichkeit,
Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen und einen idealen Akt zu schaffen, der als Metapher für die Kunst schlechthin angesehen wird.
Die Linie als Bewertungskriterium findet sich auch bei den zeitgenössischen Kunstkritikern Théophile Gautier und Charles-Louis Duval
als ligne serpentine. Bei Gautier bedeutet der Begriff die Kraft, das Gemälde sinnlich ansprechend zu machen, bei Duval hat er eine moralisierende Funktion. Beide verbinden die Linie mit Anmut und Sinnlichkeit.15 Hier ein Ausschnitt aus dem Text von Duval von 1855:
13. Paul Mantz: »Une exposition hors de Louvre. M. Ingres et son école«,
in: L’artiste. Revue de Paris, 1846, S. 200. »Mein Gott! Wenn Sie Zweifel über den
Wert des Gemäldes von Ingres haben, kann diese ein einfacher Blick auf die Odaliske (1814) zum Verschwinden bringen. […] Ingres hat es verstanden, den Körper seiner Odaliske auf einem Stoff aus dem lebendigsten Blau zu platzieren. Ich
habe nicht das Recht, die fleischlichen Töne der Achselhöhlen der jungen Frau
und jene Teile, die Schattierungen umfassen, zu schmälern […] Ingres malt ein
einfaches Modell ab, ohne die Kühnheit zu haben, die Schwächen einer verarmten, heruntergekommenen Natur zu verändern. Ich bedaure dies, aber das Gemälde muss mich vor allem als Ganzes beschäftigen. Die Odaliske ist einfach eine
Studie einer nackten Frau, die Haltung ist gewählt, um die ganze Kunstfertigkeit
des Meisters zu zeigen, die Schultern, die Lenden, die auseinanderliegenden
Schenkel, die ohne eine Umhüllung die Pracht ihrer Formen zeigen, beinhalten,
stelle ich mir vor, ebenso viele Entschuldigungen, die geschickt erfunden wurden,
um sie wie ein Vorbild aussehen zu lassen; die Kurvenlinien entfalten sich charmant, und als ganzes Bild wird dies hoffentlich richtig und kraftvoll sein: kommen
Sie und schauen Sie mit mir.« (Übersetzung S.F.)
14. Der Frage, wie Natürlichkeit in Aktdarstellungen repräsentiert ist, gehe
ich an anderer Stelle nach. Silke Förschler: »Die Kamera im Bade. Inszenierung
von Natürlichkeit in Badedarstellungen: Malerei und Video«, in: Falkenhausen:
Medien der Kunst (wie Anm. 6), S. 216-227.
15. Vgl. hierzu das Kapitel von Carol Ockman: »This flatulent hand: nineteenth-century criticism«, in: Dies.: Ingres’ Eroticized Bodies. Retracing the Serpentine Line, New Haven 1995, S. 85-109.
137
Silke Förschler
»Ses [Ingres] Odalisques, qu’il faut éviter de considérer sous le point de vue de la
couleur, sont concues dans ce goût élevé de la ligne serpentine, qui n’admet
aucun contour abrupte, aucune opposition heurtée dans la silhouette des corps,
aucun mouvement risqué ou disgracieux. On s’explique aisément qu’un esprit
aussi scrupuleusement appliqué à l’étude incessante du beau extérieur, puisse
faire bon marché des fantaisies de la palette, et s’en tenir parfois à un rigoureux
à peu près du ton de chaque chose.«16
Auch wenn der Einsatz der Farbe weder den Ton der Gegenstände trifft
noch dem Vergleich mit anderen Körperdarstellungen standhält, ist die
kunstvolle Linienführung zentral für die Darstellung der Odaliske. Die
Bewertung hängt also auch in dieser Besprechung eng mit der malerischen Konzeption des weiblichen Körpers zusammen. Zu den bekanntesten Äußerungen über Ingres’ Werk gehört die von Théophile Gautier aus dem Jahre 1855:
»Rien de plus parfait n’est sorti de pinceau. Soulevée à demi sur son coude noyé
dans les coussins, l’odalisque, tournant à demi la tête vers le spectateur par une
flexion pleine de grâce, montre des épaules d’une blancheur dorée, un dos où
court dans la chair souple une délicieuse ligne serpentine, des reins et des jambes d’une suavité de forme idéale, des pieds dont la plante n’a jamais foulé que
les tapis de Smyrne et les marches d’albátre oriental des piscines du harem: des
pieds dont les doigts, vus par-dessous, se recourbent mollement, frais et blancs
comme des boutons de camélia, et semblent modelés sur quelque ivoire de Phidias retrouvé par miracle: l’autre bras, languissamment abandonné, flotte le long
du contour des hanches, retenant de la main un éventail de plumes qui s’échappe, en s’écartant assez du corps pour laisser voir un sein vierge d’une coupe
exquise, sein de Vénus grecque, sculptée par Cléomène pour le temple de Chypre
et transportée dans le sérail du padischa.«17
16. Charles L. Duval: »Beaux-Arts école française. Le Grand Style«, in: Le
Globe industriel et artistique 23 (1855), S. 166. »Seine Odalisken, die man nicht
unter dem Aspekt der Farbe besprechen sollte, sind begreifbar anhand des ausgewählten Geschmacks der ligne serpentine, die keine abrupte Kontur erlaubt,
keine harten Oppositionen innerhalb der Körpersilhouette, keine gefährlichen
oder uneleganten Bewegungen. Es ist leicht zu erklären, dass sich ein Geist, der
sich peinlich genau dem unablässigen Studium der äußerlichen Schönheit widmet, leicht in den Launen der Farbpalette verlieren kann und dabei strenggenommen manchmal ein wenig den Ton der Dinge verfehlt.« (Übersetzung S.F.)
17. Zuerst erschien diese Besprechung in: Le Moniteur universel 195
(1855), dann in Charles Blanc: Ingres sa vie et ses ouvrages, Paris 1870. Sie wurde
vielfach zitiert und fand sogar unter dem Begriff Odalisques im Grand Larousse du
XIXe siècle Eingang. »Nichts Perfekteres ist jemals von einem Pinsel produziert
138
Odaliske reproduziert
Versehen mit orientalisierenden Anspielungen ist in dieser Beschreibung ebenfalls die Linie betont, die den Körper mit Anmut auszeichnet
und eine sinnliche Wirkung erzeugt. Die Verknüpfung von Kunst und
Akt wird auch in dieser Salonkritik mit der Identifizierung der Figur
als Venus vollzogen. Der Autor stellt klar, dass die Venus ursprünglich
für einen anderen Zweck gefertigt wurde, nämlich für einen griechischen Tempel, um erst dann in den Harem gebracht zu werden.18 Mit
der gleichen Angst vor dem Verlust von Aktdarstellungen – die als
wichtiger Bestandteil der eigenen Kunst verstanden werden – aufgrund
ihrer Überführung in den orientalischen Kulturraum äußert sich
Charles Blanc 1870:
»Ingres adore la forme, mais avec le respect d’un maître qui possède son amour
et n’en est point possédé. Qui ne connait ses Odalisques? Elles appartiennent à la
religion de l’art et non pas á la religion de Mohamet.«19
Doch wie lässt sich das Auftauchen der Linie als Bewertungskriterium
in der Kunstkritik erklären, und welchen Rang nimmt die Venus in der
worden. Halb auf den auf einem Kissen liegenden Ellenbogen gestützt, dreht die
Odaliske den Kopf zum Betrachter mit einer Bewegung voller Anmut, Schultern
aus weißem Gold offenbarend, einen Rücken in dessen geschmeidigem Fleisch
eine geschlängelte Linie verläuft, Rücken und Beine, deren Sinnlichkeit von idealer Form sind, Füße, deren Sohlen bisher nur die Teppiche von Smyrna oder Stufen aus orientalischem Alabaster der Schwimmbecken des Harems berührt haben;
Füße, deren Zehen so frisch und weich wie Kamelienblüten scheinen und die geformt sind nach Elfenbeinstatuen, die auf geheimnisvolle Weise entdeckt wurden;
der andere Arm schlaff aufgelegt, fließt entlang der Hüften, in der Hand einen
federnen Fächer haltend, der dadurch, dass er sich genügend vom Körper abhebt,
Raum entstehen lässt, der es erlaubt, auf jungfräuliche Brüste mit einer exquisiten Form zu blicken, Brüste einer griechischen Venus, gemeißelt für einen Tempel
und in den Harem des Paschas transportiert.« (Übersetzung S.F.)
18. Hier klingt das Motiv der weißen Haremssklavin an, dessen Hintergrund die Raubzüge algerischer Piraten bilden, die ab 1800 »weiße« Matrosen
und Frauen von Schiffen raubten und auf Sklavenmärkten verkauften. Hierzu: Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »Sklavenmarkt in K. Zur Verkörperung verleugneter
Erinnerung in der Malerei des Orientalismus«, in: Dies., Karl Hölz, Herbert Uerlings (Hg.): Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus, Marburg 2004,
S. 37-53.
19. Charles Blanc: Ingres (wie Anm. 17), S. 27. »Ingres verehrt die Form,
aber mit dem Respekt eines Meisters, der seine Liebe beherrscht und sie nicht
zeigt. Wer kennt seine Odalisken nicht? Sie gehören der Religion der Kunst an
und nicht der Religion Mohammeds.« (Übersetzung S.F.)
139
Silke Förschler
Kunst ein? Zentral für die Beurteilung künstlerischer Meisterschaft ist
der Gegensatz von Kunst und Natur. So schreibt Charles Blanc in seinem Buch Grammaire des arts du dessin: Der Künstler, der die Natur
imitiert, sei ein Sklave, derjenige, der sie interpretiert, ein Meister und
derjenige, der sie idealisiert und entdeckt, male ein Bild der Schönheit
und sei ein großer Meister. Diese höchste Meisterschaft auf dem Gebiet der Kunst sowie Schönheit, Anmut, das göttliche in menschlicher
Form, das Ideal und die Abstraktion seien in der Darstellung der Venus verkörpert. Der weibliche Akt in der Malerei kann also als Metapher für meisterhafte Kunst gelesen werden.20 Die Hierarchie von
Farbe und Zeichnung ist dabei deutlich benannt und geschlechtlich
konnotiert. So bildet die Zeichnung und die Linie die gedankliche
Essenz und ist männlich, während die Farbe als weiblich gedacht ist. In
der Malerei ist sie zwar notwendig, steht jedoch an zweiter Stelle, da
die Zeichnung auch ohne Farbe eine Idee zum Ausdruck bringen
kann. Die Linie schließlich ist in der Lage, Gefühle beim Betrachter
hervorzurufen.21 Innerhalb dieser Hierarchie von Farbe, Zeichnung
und Linie steht die Fotografie an unterster Stelle; so schreibt Charles
Blanc in seiner Zusammenfassung der Grammaire des arts du dessin:
»La photographie est une invention merveilleuse sans être un art. C’est
justement parce que dans son indifférence elle imite tout et n’exprime
rien. Or, là où il n’y a pas de choix, il n’y a pas un art.«22 Die Fähigkeit
der Fotografie beschränkt sich auf die passive Imitation der Dinge. Die
Übernahme des Aktmotivs aus der Malerei, wo es meisterhaftes Kön20. Vgl. Charles Blanc: Grammaire des Arts du Dessin, Architecture, Sculpture, Peintre, Paris 1867, S. 9-12. In der Zeit zwischen 1860 und 1867 wurden die
einzelnen Kapitel in der Gazette des beaux-arts publiziert, deren Herausgeber der
Autor war. Zur Transformation der Venus als Kunstmetapher zu einem orientalisierten Akt in Ingres’ Die Badende von Valpincon aus dem Jahre 1808, siehe Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte«, in:
Irene Below, Beatrice von Bismarck (Hg.): Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg 2005, S. 19-35, hier
S. 24f.
21. Blanc: Grammaire (wie Anm. 20), S. 21-52.
22. Ebenda, S. 666. »Die Fotografie ist eine wunderbare Erfindung, ohne
Kunst zu sein. Aufgrund ihrer Teilnahmslosigkeit imitiert sie alles und bringt
nichts zum Ausdruck. Dort, wo es keine Wahl gibt, gibt es auch keine Kunst.«
(Übersetzung S.F.) Antoine Claudet führte, um den Unterschied zwischen Malerei
und Fotografie zu illustrieren, den Vergleich zu Poesie und Rhetorik ein. Diese
Zurückstufung der Fotografie geht Charles Blanc nicht weit genug. Er drängt in
einer Fußnote zu Claudet auf den Vergleich zu Poesie und Wörterbuch. Vgl. Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie I 1839-1912, München 1999, S. 121.
140
Odaliske reproduziert
nen veranschaulicht, lässt also eine Relationierung zum alten Medium
und eine Aufwertung des neuen vermuten. Im Folgenden geht es nicht
nur darum, die Wanderung des Motivs nachzuvollziehen, sondern
herauszuarbeiten, wie die Fotografie ihre eigenen formalen Mittel
einsetzt, um sich Darstellungsweisen der Malerei anzunähern, die in
der Kunstkritik Erwähnung finden. Dabei wird auch berücksichtigt,
welche neuen Bedeutungen des Motivs in der Fotografie generiert
werden.
Abbildung 2: Ambroise Richebourg, Étude de nu
Die stereoskopische Daguerreotypie23 Étude de nu von Ambroise Richebourg, zwischen 1851 und 1855 entstanden, setzt einen liegenden
weiblichen Akt diagonal ins Bild (Abb. 2). Der Diagonalen des liegenden Körpers folgend, verharrt der Betrachterblick auf den Rundungen
der Brüste, ohne noch weiter in eine Narration24 des Bildes geführt zu
werden. Auf Ingres’ Gemälde wird die Narration über das AngeblicktWerden in Gang gesetzt und entlang der Körperlinien auf den Vorhang geführt, der auf das Spiel von Ent- und Verhüllen verweist. Die
Fotografie hingegen stellt mit Tiefenschärfe ausschließlich die Brustpartie als Bildzentrum aus, ohne den Akt mit weiteren Gegenständen
in Verbindung zu bringen oder ihn in einen Kontext einzubinden. Die
23. Diese Technik wurde in Frankreich im Frühjahr 1850 eingeführt und ab
1851 kommerzialisiert.
24. Unter piktorialer Narration versteht Mieke Bal das Hervorbringen einer
Bildbedeutung unabhängig von einem Text oder einer Ikonografie. Die bildliche
Narration ergibt sich während des Betrachtens und bildet etwas Neues und Eigenes. Mit diesem Begriff könne die gegenwärtige Faszination, die ein Bild ausübt,
und dessen Historizität verbunden werden. Mieke Bal: »Preisgabe der Autorität
oder Plädoyer gegen den Begriff der Intention«, in: Dies.: Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002, S. 295-334.
141
Silke Förschler
Perspektive und der starke Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen Hintergrund und Akt lassen den weiblichen Körper als abstrakte Form erscheinen, deren Umrisslinie betont ist und deutlich hervortritt. Die
Erotisierung des Aktes verläuft jedoch nicht wie bei der Odaliske über
eine Orientalisierung25, sondern über die Betonung der weiblichen
Brust. Diese wird in Szene gesetzt und dadurch sinnlich aufgeladen.
Abbildung 3: Auguste Belloc, Nu féminin allongé
Auch der Rückenakt Nu féminin allongé von Auguste Belloc aus dem
Jahre 1855 betont durch starke Kontraste, Verschattung und Faltenwurf
die Linie als strukturierendes Bildelement (Abb. 3). Die außerbildliche
Lichtquelle strahlt die zum Betrachter gedrehte Körperseite stark an, so
dass diese als abstrakte Fläche erscheint. Mit diesem Helligkeitskontrast geht eine Betonung der Umrisslinie von Brust, Bauch und Hüfte
einher. Die dem Betrachterblick abgewandte Haltung des weiblichen
Aktes versteckt das Gesicht. Eine Reflexion des Blicks, wie sie das
Wechselspiel von Verbergen und Zu-sehen-Geben auf dem Gemälde
Ingres’ zeigt, findet sich innerhalb der Bildanordnung dieser Fotografie
nicht. Die Flächigkeit des Körpers steht im Gegensatz zu dem in gro25. Eine ausführliche Kategorisierung der Verknüpfung von Orientalisierung und Erotisierung unternehme ich an anderer Stelle anhand von Posen in Malerei und Atelierfotografie, die als koloniale Postkarten zirkulierten. Silke Förschler: »Die orientalische Frau aus der hellen Kammer. Zur kolonialen Postkarte«, in:
Graduiertenkolleg Identität und Differenz (Hg.): Ethnizität und Geschlecht.
(Post)koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, Köln 2005,
S. 77-94.
142
Odaliske reproduziert
ßen und feinen Falten drapierten Tuch. Ähnlich der Großen Odaliske
betont der Faltenwurf die Stofflichkeit, der Kontakt zwischen Haut und
weichem Material geben der Darstellung eine sensuelle Qualität. Die
auf dem Gemälde abgebildeten Materialien repräsentieren durch ihre
Vielfalt und Differenz die Sinnlichkeit und die opulenten Reize eines
imaginären Orients. Das orientalisierte Bildthema wird durch die Möglichkeit der Malerei, unterschiedliche Materialien durch Farbeinsatz
und Farbauftrag gestalten zu können, unterstützt. Im Gegensatz dazu
betont die motivische Anordnung von Haut und Stoff auf der Fotografie die Umrisslinie des Körpers. In der Malerei als Ausdruck einer Idee
verstanden und als Kriterium für die Bewertung von Meisterschaft
herangezogen, kommt die Linie in Verbindung mit dem weiblichen
Körper auch in der Fotografie zum Einsatz. Die Fotografie scheint
damit ihre Kompetenz zu beweisen, gestalterisch eingreifen zu können
und zu mehr als Reproduktion fähig zu sein. Wie in der Malerei macht
sich die Kunstfertigkeit am Bild des weiblichen Körpers fest.
Die Annäherung der Fotografie an die Malerei kann nicht anders
als durch den Vergleich der formalen Darstellung aufgewiesen werden.
Der Umstand, dass die Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts
noch keinen Kunststatus genießt26, erklärt das Fehlen derartiger
Überlegungen in den Salonkritiken der Zeit. Der Vorwurf der hohen
Detailgenauigkeit und der damit einhergehenden Nähe zu den Naturwissenschaften wird der Fotografie bis in die 1860er Jahre gemacht.
Erste Ansätze, die Fotografie als Kunst aufzufassen, finden sich, als
begonnen wird, formale Mittel wie »künstlerische Unschärfe« zu diskutieren.27 Erst in den 1890er Jahren treten Diskurse um den Fotografen als Künstler auf: Ein persönlicher Stil soll durch manuelles
Eingreifen und den Einsatz von Retusche, Tönungen des Papiers,
Gummi-Druck oder Rahmungen sichtbar werden.28
Abschließend werden noch zwei Études de nu von Louis-Camille
d’Olivier aus dem Jahre 1855 betrachtet (Abb. 4 und 5). Abgebildet ist
26. 1857 heißt es in einer anonymen Kritik: »Was die fotografische Ausstellung angeht, so braucht man nicht von individuellen Arbeiten zu sprechen wie
bei Werken der Malerei. Die Fälle sind nicht vergleichbar. Der Maler beschäftigt
oder sollte beschäftigen Hand und Auge nach dem Befehl seines Geistes. Der Fotograf benutzt eine Maschine und wendet ein wenig Urteilsvermögen an. Der
Künstler arbeitet von innen nach außen. Der Fotograf gebraucht äußerliche Kräfte, die einem Befehl folgen.« (Übersetzung S.F.) In: Art Journal (1857), zitiert
nach: Journal of the Photographic Society (1858), S. 192.
27. Antoine Claudet, in: The British Journal of Photography (1866), S. 416.
28. Vgl. Wolfgang Kemp: »Vorwort«, in: Ders.: Theorie der Fotografie (wie
Anm. 22), S. 13-45.
143
Silke Förschler
auf beiden Fotografien das gleiche Modell, jedoch führen dessen unterschiedliche Posen zu jeweils anderen Bildaussagen.
Abbildungen 4 und 5: Louis-Camille d’Olivier:
Étude de nu
Die erste Fotografie präsentiert den weiblichen Akt seitlich, die geschlossenen Augen des Modells lassen den Betrachterblick ungestört
schweifen. Die aufgetürmten großflächigen Kissen und das in einem
Bogen nach unten hängende Tuch der Unterlage rahmen den Körper.
Insgesamt wirkt die Komposition ausgewogen und auf Harmonie
bedacht. Der herabhängende Teppich am rechten Bildrand als zufälliges Element führt jedoch den Gegensatz zum Gemälde vor. Auf der
Großen Odaliske ist die Komposition ohne störende, zufällige Bildelemente aufgebaut. Die verschiedenen Bildebenen thematisieren Sichtbarkeit als zentrales Interesse von Haremsdarstellungen. Der herab144
Odaliske reproduziert
hängende Teppich auf der Fotografie hingegen macht auf apparative
Grenzen der Fotografie – wie Bildausschnitt und Brennweite – aufmerksam und stellt situative Bedingungen des Mediums aus. Dass
gerade diese Möglichkeit der Fotografie, einen spezifischen Moment
einfangen zu können29, als Bildaussage gewünscht ist, wird anhand
der zweiten Aktfotografie deutlich. Hier verbinden sich der auf den
Betrachter gerichtete Blick mit den hinter den Kopf gelegten Armen
und den leicht geöffneten Beinen zu einem aufreizenden Moment.
Genau diesen fängt die Kamera ein und macht Fotograf und Betrachter
zu Augenzeugen. Ein weißer Schal unterstützt die Linienführung der
Armhaltung, wirkt jedoch ebenso zufällig hingeworfen. Auf dieser
Aktfotografie stellt sich über das Festhalten zufälliger Details, ergänzt
durch das unscharfe Bein, das gerade in Bewegung zu sein scheint,
eine medienspezifische Augenblicklichkeit her. Ein weiteres Vergleichsmoment der Aktbilder in Malerei und Fotografie ist die Thematisierung der Oberfläche über die Darstellung der Haut. Sowohl zeitgenössische als auch aktuelle Besprechungen weisen auf den geschlossenen
Farbauftrag bei Ingres hin, der weder Muskeln, Knochen noch Adern
modelliert, sondern nur feinste Schattierungen, die eine perfekt geschlossene Fläche bilden.30 Betont wird diese wiederum von der Umrisslinie, die den Körper plastisch erscheinen lässt. Die Abzüge auf
Salzpapier (Abb. 3-5) zeichnen sich durch einen goldbraunen Ton und
eine samtige Oberfläche aus, da sich aufgetragene Emulsion und Papierfasern verbinden. Schärfer und reicher an Details als die zuvor
gebräuchliche Daguerreotypie bilden diese Abzüge die Haut als großflächig angelegte Hell-Dunkel-Kontraste ab. Bei Ingres gibt es eine
29. Der Kunstkritiker Jules Janin beschreibt, noch bevor das fotografische
Verfahren endgültig veröffentlicht war, dass der Reiz der Daguerreotypie darin
bestehe, dass »[der Daguerreotyp] augenblicklich all die geliebten Gegenstände
aufnehmen kann: den Sessel des Großvaters, die Wiege des Kindes, das Grab des
alten Mannes.« (Hervorhebung S.F.) Jules Janin: »Der Daguerreotyp«, in: L’Artiste 12 (1838-39), S. 145-48.
30. Siehe hierzu, wie allgemein zur Ikonografie des Aktes in der Malerei
des 19. Jahrhunderts, Ekkehard Mai: »Entzauberung und Mystifikation. Wechselbilder der Venus-Olympia von Cabanel bis Cézanne«, in: Bayrische Staatsgemäldesammlungen (Hg.): Venus. Bilder einer Göttin, München 2001, S. 106-123. Regina Prange beschreibt den Körper der Odaliske als in die Fläche gebannt, als unbeweglich, so dass der Blick nicht in den Raum verweisen kann. Meiner Meinung
nach ist der Blick der Odaliske jedoch ein Bildelement, das das koloniale Bestreben nach maximaler Sichtbarkeit des Orients thematisiert. Regina Prange: »Das
Interieur als ›Frauenzimmer‹. Zur modernen Bildgeschichte des weiblichen Aktes
im Innenraum«, in: kritische berichte 3 (1995), S. 43-70, hier S. 56.
145
Silke Förschler
Analogie zwischen der Flächigkeit der Haut und der Leinwand31,
während die Oberfläche der fotografischen Abzüge durch den haptischen Eindruck, weich zu sein, auf ein charakteristisches Merkmal von
Haut verweist. Damit kann die Darstellung von Haut in beiden Medien
als Reflexion der jeweiligen Oberfläche gelesen werden.
Der Vergleich zwischen Aktfotografie und Malerei zeigt, dass in
der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Motiv der Malerei, an dem Parameter von Kunst und Könnerschaft verhandelt wurden, auch in der Fotografie abgebildet wird. Das zentrale Gestaltungsmoment der Linie, das
in der Malerei Anmut und Sinnlichkeit ausdrückt, findet sich ebenfalls
in der Aktfotografie als strukturierendes Element. Hier tritt die Linie
durch den Einsatz fotografischer Spezifika wie Tiefenschärfe und
Schwarz-Weiß-Kontrasten hervor. Durch Betonung der Linie kann die
Fotografie unter Beweis stellen, dass sie nicht nur kopiert und passiv
abbildet, wie Charles Blanc ihr vorwirft. Sie wendet eigene gestalterische Mittel an und setzt gleichzeitig aus der Malerei entlehnte Formelemente ein.
Das Aufkommen neuer Medien im 19. Jahrhundert wird in der
Forschung32 eng mit einem Produktionsanstieg pornografischer Bilder verbunden und an die Frage geknüpft, wie der Zusammenhang
zwischen einer »Liebe zum Obszönen«33, der neuartigen Wirklichkeitstreue und dem Authentischen des indexikalischen Zeichens der
Fotografie zu fassen ist. Die erotisch-pornografischen Fotografien sind
nach Abigail Solomon-Godeau als Bruch mit idealisierten Aktdarstellungen der Malerei zu begreifen, da die »Spur des Realen«, also die
mechanische Aufzeichnung der Präsenz eines nackten Körpers vor der
Kamera, ihrer Meinung nach ein völlig neues Genre begründet.34 Wie
31. Zur medizinischen Auffassung der Haut im 19. Jahrhundert und deren
Umsetzung in Ingres’ Portraitmalerei vgl. Mechthild Fend: »Medium Haut. Oberfläche und Körpergrenze in Malerei und Medizin des 19. Jahrhunderts«, in: Falkenhausen: Medien der Kunst (wie Anm. 6), S. 242-256.
32. Beatrice Farwell: The Cult of Images. Baudelaire and the 19th-Century
Media Explosion, Santa Barbara 1977; Peter Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität
im bürgerlichen Zeitalter, München 1986; H. Montgomery Hyde: A History of Pornography, London 1964; sowie Walter Kendrick: The Secret Museum. Pornography
in Modern Culture, New York 1987.
33. Charles Baudelaire: »Das moderne Publikum und die Fotographie«
[1859], in: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5, hrsg. von Friedhelm Kemp und
Claude Pichois, München/Wien 1989, S. 133-140, hier S. 137f.
34. Abigail Solomon-Godeau: »Reconsidering Erotic Photography. Notes
for a Project of Historical Salvage«, in: Dies.: Photography at the Dock. Essays on
146
Odaliske reproduziert
der Vergleich zwischen Odaliske und Aktfotografien zeigt, verläuft die
bildliche Vermittlung dieser »Spur des Realen« jedoch über Codes, die
in enger Verbindung stehen zur Aktmalerei und ihrer Rezeption. Gestalterische Mittel wie Tiefenschärfe und Hell-Dunkel-Kontraste idealisieren das Dargestellte ebenfalls und bilden es nach gewissen motivischen Mustern ab, die aus der Malerei übernommen und transformiert
werden. So kann man für die besprochenen frühen Aktfotografien in
Abgrenzung zu Solomon-Godeau formulieren, dass die Anerkennung
der Fotografie nicht über den Bruch mit medialen Bedingungen der
Malerei und deren Verhältnis zum Abgebildeten geschieht, sondern
darüber, dass Kategorien der Aktmalerei aufgenommen und im neuen
Medium eingesetzt werden. Stellt man die Fotografien in einen anderen Diskurskontext, hier in den des Leitmediums Malerei, kann über
die Verknüpfung von Form und Diskurs gezeigt werden, wie das Verhältnis der Medien anhand von Aktdarstellungen verhandelt wird.
Photographic History, Institutions, and Practices, Minneapolis 1997, S. 220-237,
hier S. 229.
147
Zeichen/Präsenz
Zeichen/Präsenz.
Zu einer vermeintlichen Dichotomie
Markus Rautzenberg
Das Problem der Präsenz hört nicht auf, die Geisteswissenschaften
umzutreiben. Die Frage, wie Präsenz, Materialität oder schlicht aisthesis
mit der Konstitution von Sinn zusammenhängen, ist ein Thema, das
sich dem Ariadnefaden gleich durch die Geschichte der okzidentalen
Philosophie zieht und seit den frühen achtziger Jahren wieder zunehmend an Brisanz gewonnen hat. Einen Grund für diese Brisanz, für
die Virulenz einer Kategorie, die spätestens seit Derrida endgültig
desavouiert schien, liegt in der spezifischen Art und Weise, in der die
Semiotik durch den Begriff des Mediums herausgefordert wird. Denn
der Ariadnefaden führt bekanntlich nicht nur aus dem Labyrinth heraus, sondern ebenso direkt in dessen Zentrum. Und genau hier lauert
der Minotaurus des für die Semiotik Inkommensurablen: die Insistenz
des schieren »Dass«, die Präsenz.1 Dabei sollte man doch meinen,
dass man sich – zumindest was die Zeichentheorie betrifft – endgültig
der »bleiernen Last des Referenten« (so ein Ausdruck Umberto
1. Charles Sanders Peirce hat sich der Metapher des Minotaurus und des
Labyrinths nicht nur mehrfach bedient; das Labyrinth und der Minotaurus in
dessen Zentrum ist eines von Peirces zentralen Darstellungsformen zur Verdeutlichung der Komplexität der Zeichenverkettung, welches er auch mehrfach gezeichnet hat (siehe die Reproduktion einer dieser Zeichnungen in: Thomas L.
Hankins, Robert J. Silverman: Instruments and the Imagination, Princeton 1995,
S. 145): »Peirce liked to draw mazes that mirrored the complexity of semiotic
systems. In his drawing of the labyrinth of signs the minotaur stands at its heart
[…]. The literary critic or cultural anthroplogist may conclude, that the minotaur
is another human creation – part of the structure of myth. But a scientist will
argue that if the labyrinth represents the semiotic system behind an experimental
graph, the object that the minotaur signifies is beyond our ability to construct or
deconstruct.« Ebenda, S. 144.
149
Markus Rautzenberg
Ecos)2, der Präsenz entledigt hätte. Einmal mehr tritt hier das Problem
der Vergleichbarkeit des scheinbar Unvergleichbaren zutage und wird
zu einem theoretischen Problem, innerhalb dessen zentrale Fragen
nicht nur der Zeichentheorie, sondern auch der Medienphilosophie zur
Disposition stehen.
Bereits 1967, mitten in der Hochzeit des französischen Strukturalismus, läutet die Totenglocke für jede Art »metaphysischer« Zeichentheorie. In diesem Jahr erscheinen Jacques Derridas Grammatologie
und die Aufsatzsammlung Die Schrift und die Differenz nahezu zeitgleich. Derrida radikalisiert hier die de Saussure’sche Zeichentheorie
in einer Weise, dass sie an ihrem Endpunkt angekommen zu sein
scheint. Der metaphysische Traum von einem »transzendentalen Signifikat« scheint ausgeträumt, das Signifikat endgültig vom Signifikanten abgelöst zu sein. Übrig bleibt die konstitutive Abwesenheit eines
Zentrums, eines Bezugspunktes, auf den sich das Reich der Zeichen
beziehen könnte. Zeichen verweisen nicht auf ein »Reales«, sondern
ausschließlich auf andere Zeichen. Aisthesis, das wahrgenommene
Reale, die »bleierne Last des Referenten«, scheint durch eine undurchdringliche Membran scharf vom Reich der Zeichen getrennt. Die Idee
des Zeichens, das auf ein Bezeichnetes verweist, wird so zum Phantasma, zum metaphysisch-romantischen Begehren, das mit der »Realität« nichts zu tun hat.
Im vollen Bewusstsein der Tragweite seines Projekts spricht
Derrida von dieser Form der dichotomen Trennung dieser beiden Bereiche in Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen als von einem »Ereignis«, das sich in der Theorie bereits vollzogen habe. Ausgehend vom Begriff der Struktur und
des Zeichens zeigt Derrida auf, wie die Geschichte der Metaphysik die
Geschichte einer Unmöglichkeit ist, nämlich der immer wieder aufgenommenen Suche nach dem »Ursprung«, einem »Zentrum«, um das
sich eine jeweils historisch gegebene episteme gruppieren könnte. Am
Beispiel der »Struktur« führt Derrida aus:
»Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde, obgleich sie
immer schon am Werk war, bis zu dem Ereignis, das ich festhalten möchte, immer
wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein
Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung
beziehen wollte.«3
2. Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte,
Frankfurt am Main 1977, S. 149.
3. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1994,
S. 422.
150
Zeichen/Präsenz
Diese Bewegung, dieser Gestus, der hier nachgezeichnet wird, ist der
Ort des Ereignisses, von dem Derrida spricht und als dessen philosophische Inauguratoren er Nietzsche, Freud und Heidegger nennt. Derrida weist nach, dass dieses Zentrum immer schon ein abwesendes
war, das eben durch diese Abwesenheit das Konzept der »Struktur«
oder des »Zeichens« erst konstituiert. Dieses Zentrum ist die Präsenz,
die Insistenz des schieren »Dass«, ein Phantasma, das durch seine philosophiegeschichtlichen Stadien im Verlauf des Derrida’schen Textes
durchdekliniert wird. Dieses Phantasma sei
»die Bestimmung des Seins als Präsenz in allen Bedeutungen dieses Wortes. Man
könnte zeigen, daß alle Namen für Begründung, Prinzip oder Zentrum immer nur
die Invariante einer Präsenz (eidos, arche, telos, energeia, ousia, aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.«4
Die Derrida’sche Dezentrierung des Zeichenbegriffs hat so eine Enthermeneutisierung der Zeichentheorie zur Folge, die den Zeichenbegriff bzw. den Vorgang der Semiose sozusagen kybernetisiert. Diese
Austreibung nicht nur des Sinns oder der Bedeutung, sondern der Präsenz selbst aus dem Bannkreis des Zeichens, scheint eben die Schwierigkeiten zu beseitigen, welche die Semiotik de Saussure’scher Provenienz seit jeher mit dem »fatalen Referenten«5 hatte. Die Loslösung
des Zeichens von seinem Referenten ist bereits bei de Saussure angelegt, dessen linguozentristische Theorie sich nicht für die Ebene des
Außersemiotischen interessiert. Für de Saussure sind sowohl Signifikant als auch Signifikat bereits der Sphäre des Aisthetischen enthoben.
Derrida radikalisiert de Saussures Ansatz insofern, als bei ihm auch
das Signifikat im Verhältnis zum Signifikanten abdriftet und das Spiel
der Signifikanten allein in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Diese
Entwicklung schreibt sich gleichzeitig in die Geschichte der Kybernetik
ein. Der entscheidende Binarismus von Präsenz/Absenz wird durch
den von Muster/Zufall ersetzt. Wir befinden uns hier im Zeitalter des
von Katherine Hayles beschriebenen »Posthumanismus«.6
Derrida entkoppelt den Zeichenbegriff von jedem Bezug zu einem
wie auch immer gearteten Referenten jenseits des Zeichenuniversums
und entlässt in einer kongenialen Radikalisierung des de Saussure’schen Zeichenbegriffs das Spiel der Zeichen in ein konstitutiv unabschließbares Kontinuum der Signifikantenverkettung ohne Verbin4. Ebenda, S. 424.
5. Eco: Zeichen (wie Anm. 2), S. 149.
6. N. Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 1999.
151
Markus Rautzenberg
dung zu einem »Außen«, einem, wie er es nennt, »transzendentalen
Signifikat«. Interessanterweise trifft sich Derrida an diesem zentralen
Punkt mit der Kybernetik in einer Weise, dass man von einer radikalen
Kybernetisierung der Zeichentheorie durch Derrida sprechen kann.
Denn der Kern und das eigentlich antimetaphysische Skandalon der
Kybernetik liegt in der Tatsache, dass sie mit Kalkülen arbeitet und
diese – wie Sybille Krämer gezeigt hat7 – keiner Semantik bedürfen,
um intelligibel zu sein. Kalküle – mit Krämer verstanden als symbolische
Maschinen – sind eben deshalb maschinenhaft, weil sie, um zu funktionieren, zunächst einmal keiner Interpretation, keines Sinns oder
telos bedürfen. Sie sind rein syntaktisch und benötigen auf funktionaler
Ebene keine Semantik, oder zugespitzt formuliert: Die Semantik von
Kalkülen fällt mit ihrer Syntaktik zusammen. Eben das ist auch eine
zentrale Einsicht, die aus Derridas Austreibung des »transzendentalen
Signifikats« resultiert und gleichzeitig die Definition der Funktionsweise des Binärcodes, der wiederum Grundlage der Turingmaschine
ist.
Man hat es hier mit einer »Struktur« zu tun, die exakt dem entspricht, was Jacques Lacan mit der Kategorie des Symbolischen meint.
Denn das Symbolische bei Lacan ist nicht einfach mit Sprache oder
Diskurs gleichzusetzen, sondern bezeichnet genau diese oben beschriebene »Signifikantenmaschine«, die, unabhängig von der Ebene
der Signifikate, die zur Ordnung des Imaginären gehört, aus disjunkten Differenzen besteht, deren Minimalform und Urszene Freuds
»Fort-Da«-Spiel ist, der Binarismus von 0 und 1. Der Skandal ist nicht
nur, dass dieses kybernetische Zeichenuniversum nicht nur nicht um
ein Zentrum (Sinn, Präsenz) kreist, sondern dieses auch in keiner
Weise benötigt, um zu funktionieren.
Diese Abwesenheit von Präsenz, die als imaginäres Phantasma
entlarvt wird, ruft rund zwanzig Jahre später eine Gegenbewegung auf
den Plan, die sich nicht der Trauer um die Abwesenheit eines »transzendentalen Signifikats« fügen will. Das kühle ultrasemiotische Universum des Derrida’schen Signifikantenkontinuums wird unerträglich
und führt zu mannigfaltigen Gegenentwürfen, welche die Insistenz
des »Dass« wieder zu ihrem Recht kommen lassen wollen. Ein Extrembeispiel: Wie eine 2004 vom heutigen Papst und damaligen Leiter
der vatikanischen Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, anlässlich
des sechzigsten Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie gehaltene Rede zeigt, wird Derrida auch außerhalb des akademischen Bereichs immer mehr zum universalen Buhmann, zum »Zerstö7. Sybille Krämer: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in
geschichtlichem Abriß, Darmstadt 1988.
152
Zeichen/Präsenz
rer der Vernunft«. Im Kern geht es Joseph Ratzinger um nichts anderes als diese eben skizzierte de-zentrierende Bewegung in Derridas
Theorie, auch wenn innerhalb der Rede irreführenderweise die Dekonstruktion als Beispiel genannt wird, die eine Konsequenz und nicht die
Ursache der kritisierten Theoreme ist. Die Abwesenheit des »transzendentalen Signifikats«, also letztlich Gottes, kann natürlich von Ratzinger nicht hingenommen werden. Die nach-Derrida’sche »gottlose«
Vernunft wird von ihm dann allerdings auch als Motor hinter den Entwicklungen der Biotechnologie beschrieben, die das Hauptziel seiner
Kritik ist. Für all das wird Derrida direkt verantwortlich gemacht, was
nur zeigt, was für ein Skandal Derridas erste Texte aus den sechziger
Jahren immer noch zu sein scheinen. In eine ähnliche Richtung, wenn
auch angemessener und komplexer, zielt die Kritik, die das Leitmotiv
von George Steiners 1989 erschienenem Essay Von realer Gegenwart
bildet.
Steiner diagnostiziert Derridas Position als die Vollendung eines
Vertragsbruchs zwischen »Wort und Welt«. Dieser gebrochene Vertrag
sei, so Steiner, das Signum einer Welt, die in die Kälte referenzloser
Indifferenz geworfen sei. Steiner macht keinen Hehl daraus, dass er
unter diesem gebrochenen Vertrag auch die Gottesferne des so genannten modernen Menschen subsumiert und nimmt damit Ratzingers Kritik vorweg. Obwohl seine weitläufige Argumentation mehr als
einmal an bekannte kulturpessimistische Klischees aus dem Umfeld
der »konservativen Revolution« erinnert, macht er es sich dennoch
nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag und es Botho
Strauß’ Nachwort zur deutschen Ausgabe suggeriert. Es geht nicht um
einen irrationalistischen rollback, sondern um die nach-metaphysische
Restituierung dessen, was Steiner »reale Gegenwart« nennt, also eben
jenes Minotaurus, den Derrida endgültig aus dem Labyrinth der Philosophie vertrieben zu haben schien.
Steiner begreift den nicht nur durch Derrida inaugurierten Bruch
von »Wort und Welt«, also von Zeichen und Referent, Semiotik und
Ästhetik, als eine Form der Sprachkritik, die mit der Moderne eins ist
und den unhintergehbaren Status quo der momentanen historischen
Situation bildet. In einer für unseren Zusammenhang signifikanten
Weise behauptet Steiner eine Kontinuität zwischen dieser »Sprachkritik«, die die Abwesenheit eines »transzendentalen Signifikats« postuliert, und dem, was er die »Mathematisierung unseres beruflichen,
gesellschaftlichen und auch bald privaten Lebens«8 nennt. Verantwortlich dafür ist – natürlich – der Computer:
8. George Steiner: Von realer Gegenwart, München 1990, S. 154-155.
153
Markus Rautzenberg
»Computer sind weit mehr als pragmatische Werkzeuge. Sie initiieren, sie entwickeln nicht-verbale Methoden und Konfigurationen des Denkens, der Entscheidungsfindung, sogar, so ist zu argwöhnen, ästhetischer Wahrnehmung. […] Bildschirme sind keine Bücher; das ›Narrative‹ eines formalen Algorithmus ist nicht
das eines diskursiven Erzählens. So ist es weder der logos in irgendeiner transzendenten Konnotation, noch sind es die weltlichen, empirischen Systeme logisch-grammatikalischer mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, die jetzt die
wichtigsten Träger spekulativer Energie, verifizierbarer und anwendbarer Erkenntnisse und Informationen […] sind. Es ist die algebraische Funktion, die lineare oder nicht-lineare Gleichung, der binäre Code. Im Zentrum des Zukünftigen
steht das ›byte‹ und die Zahl. Vor diesem umfassenden Hintergrund der Krise des
Wortes, der Aufhebung von Bedeutung können wir, so glaube ich, die negative
Semiotik, die Impulse zur Dekonstruktion am zwingendsten erfassen, die in der
Philosophie des Sinns und in der Kunst des Lesens während der letzten Jahrzehnte so sehr im Vordergrund gestanden haben. In ihren Bereich fällt die nihilistische Logik und der konsequente Extremismus ›nach dem Wort‹.«9
Es kann hier in der gebotenen Kürze nicht darum gehen, den Wahrheitsgehalt dieser Diagnose im Einzelnen unter die Lupe zu nehmen.
Es wäre zu zeigen, dass das Fehlen einer medientheoretischen Perspektive an diesem Punkt zu einigen unfruchtbaren Vereinfachungen bezüglich der Konstitution digitaler Medien führt. Wichtig ist es, an diesem Punkt zunächst einmal die angesprochene Korrelation von semiotisch-philosophischer Sprachkritik nach Derrida und dem Aufkommen
digitaler Medien, die Engführung von »kybernetisierter« Semiotik und
Maschinensprache festzuhalten.
Was Steiner der von ihm diagnostizierten Inflation sinnentleerter
Zeichenprozesse in Zeiten digitaler Medien gegenüberstellt ist nun die
Rehabilitierung dessen, was er das Erlebnis »realer Gegenwart« nennt,
das – paradigmatisch für die anti-semiotische Theoriebildung, die ich
hier nachzuzeichnen versuche – den Körper und die aisthesis in den
Mittelpunkt stellt. Es geht um die Beschreibung von Präsenz angesichts von Zeichenphänomenen, die als Erfahrung radikaler Alterität
beschrieben werden:
»In den meisten Kulturen, in den Zeugnissen von Dichtung und Kunst bis in die
neueste Moderne wurde die Quelle der ›Andersheit‹ als transzendental dargestellt
oder metaphorisiert. Sie wurde als göttlich, als magisch, als dämonisch beschworen. Es ist eine Gegenwart von strahlender Undurchdringlichkeit. Diese Gegenwart
ist die Quelle von Kräften, von Signifikationen im Text, im Werk, die weder bewußt gewollt sind noch bewußt verstanden werden. Es ist heute Konvention, die9. Ebenda, S. 155.
154
Zeichen/Präsenz
sen Überschuß an Vitalität dem Unbewußten zuzuschreiben. Eine solche Zuschreibung ist eine weltliche Formulierung dessen, was ich ›Alterität‹ genannt
habe.«10
Steiners Essay hat seine stärksten Momente in den Beschreibungen
von Ereignissen, in denen dieses Erleben »realer Gegenwart«, einer Alterität, geschieht. Diese ist immer aisthetisch vermittelt, ohne dabei
unmittelbar sinnstiftend zu sein. Der Körper, die Materialität der Oberfläche ist hier aller vorhergehenden Tiefenmetaphorik zum Trotz der
Ort des ästhetischen Erlebens.
»Es gibt Passagen bei Winckelmann, in Kenneth Clarks Untersuchungen über Aktdarstellung, in denen Worte zum sorgfältigen Dienst an der Berührung gepreßt
werden, in denen die Sprache zu einer nur um einen Schritt entfernten Entsprechung zu den taktilen Ebenen, Kurven, der gerundeten Wärme oder intendierten
Kälte des Marmornen und des Metallischen gemacht wird. Die besten Leser von
Texten, von Architekturkompositionen (sie sind selten) können die Genesis ihres
eigenen Sehvermögens vermitteln; sie können nahe bringen, wie sich in Ihnen
selbst die relevante Strukturierung und Verknüpfung zu begrifflicher Form gestaltet und dementsprechend auch in der Rezeption des Beobachters. Die das Werk
animierenden und die am Wahrnehmungsakt beteiligten Nervensysteme verschränken sich miteinander.«11
In dem Moment also, wo »Worte zum sorgfältigen Dienst an der Berührung gepreßt werden«, werden Zeichen für Präsenz transparent.
Diese Beschreibung des ästhetischen Erlebens zeigt die von Derrida als
undurchlässig postulierte Membran zwischen »Wort und Welt«, zwischen Zeichen und Referent in einer spezifischen Dynamik. Die Membran wird sozusagen semipermeabel und zeigt ein osmotisches Verhältnis von aisthesis und semiosis im Augenblick ästhetischer Erfahrung.
Was hier beschrieben wird, ist tatsächlich das skandalon postmetaphysischer Semiotik, der Minotaurus im Zentrum der dezentrierten Struktur: Der singuläre, flüchtige, nicht wiederholbare Augenblick ästhetischen Erlebens: die Epiphanie erlebter Form.12
Erlebte Form ist es auch, was andere post-semiotische und posthermeneutische Ästhetiken und Kulturtheorien umtreibt. Man könnte
zeigen, dass von Karl Heinz Bohrers Begriff der »Plötzlichkeit«13 über
10. Ebenda, S. 276.
11. Ebenda, S. 246.
12. Ebenda, S. 244.
13. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen
Scheins, Frankfurt am Main 1981.
155
Markus Rautzenberg
die kulturwissenschaftlichen Aneignungen des Performanz-Begriffs in
den achtziger und neunziger Jahren bis zur philosophischen Rehabilitierung der Aisthetik zum Beispiel bei Gernot Böhme14 oder Dieter
Mersch15 jenes Phänomen erlebter Form im Fokus kulturwissenschaftlicher Theoriebildung steht.
Während Bohrers Entdeckung des »Plötzlichen« die Virulenz eines
Zeitmodus von der Romantik über Nietzsche bis in die literarische
Moderne aufdeckt, der sich in seiner Ereignishaftigkeit sowohl semiotischen als auch hermeneutischen und systemtheoretischen Zugriffen
sperrt, transformiert sich die in den achtziger Jahren bis heute zunehmend ausdifferenzierende Performativitätsdebatte von ihrem Ausgang
bei John Langshaw Austin zu einer Theorie des Ereignisses, des Körpers und der Materialität.16 Gernot Böhme fundiert Ästhetik wieder in
der Aisthetik und findet mit der Kategorie der »Atmosphäre« einen für
ästhetisches Erleben konstitutiven Gegenstand, der sich semiotischen
Ansätzen entzieht und allein über die Wahrnehmung vermittelt ist.
Die geradezu anti-semiotische Ausrichtung all dieser Theorien ist
in der eben beschriebenen, durch Derrida vollendeten »Kybernetisierung« der Semiotik begründet. Diese Semiotik entbehrt jeden Verweises auf ein Nicht-Semiotisches, seitdem das Phantasma der Präsenz
dekonstruiert ist. Mit der Entkopplung von der »bleiernen Last des
Referenten« scheint die Semiotik zwar ihrer metaphysischen Vorurteile
entledigt, gleichzeitig jedoch auch ihres heuristischen Wertes für jede
Form von Präsenztheorie beraubt worden zu sein. Das Dilemma dabei
ist: Es gibt natürlich auch keinen Weg zurück. Eine sozusagen naive
Semiotik gibt es nicht mehr, da diese durch ihre Sinn- und Bedeutungszentriertheit von vornherein desavouiert scheint. Im Ergebnis
bedeutet das die Erosion des Zeichenbegriffs überhaupt.
Kontemporäre Präsenztheorie kann sich, gerade im Hinblick auf
ihr metaphysisches Erbe, keinen Rückfall in eine wie auch immer
geartete Form des Essentialismus erlauben. Präsenztheorie auf der
Höhe des momentanen Reflexionsniveaus hat also die schwierige
Aufgabe, ein grundlegendes methodisches und philosophisches Problem zu lösen, das man vielleicht wie folgt beschreiben kann: Zum
einen kann auf einen Zeichenbegriff nicht verzichtet werden, denn das,
was in der Präsenzerfahrung gewärtig wird, ist nur an der Schwelle
14. Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine
Wahrnehmungslehre, München 2001.
15. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München
2002.
16. Vgl. zum Stand der Forschung: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen
Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002.
156
Zeichen/Präsenz
zum Zeichen überhaupt artikulierbar. Leider kann man es sich nicht
bequem machen in dem Wittgenstein’schen Diktum, dass, wenn man
von etwas nicht sprechen kann, man besser schweigen solle. Eben
dieses Außersemiotische, das am Rand der Zeichen für Momente
aufzuscheinen vermag, die erlebte Form, ist es gerade, auf die es
ankommt. Oder genauer: Der Moment der Osmose zwischen Zeichen
und Präsenz ist eben jenes Schwellenphänomen, das zu beschreiben
einer nachmetaphysischen Semiotik und Medientheorie aufgegeben
ist.
Auf dem Spiel steht hier unter anderem die Frage, ob Semiotik
überhaupt mit Phänomenen der Präsenz methodisch kompatibel sein
kann. Diese Frage wird aufgrund der allgemeinen Dichotomisierung
von semiosis und aisthesis zumeist verneint. So schreibt noch Hans
Ulrich Gumbrecht in seiner neuesten Publikation:
»Und wenn die von mir begründete Aussage zutrifft, daß sich die beiden Dimensionen [gemeint sind hier die zwei Dimensionen ästhetischen Erlebens, Bedeutung und Präsenz] nie zu einer stabilen Komplementaritätsstruktur entwickeln
werden, müssen wir einsehen, daß es nicht nur unnötig, sondern in analytischer
Hinsicht sogar kontraproduktiv wäre, wollte man versuchen, eine Verbindung herzustellen und einen komplexen Metabegriff zu bilden, der die semiotische und
nichtsemiotische Definition miteinander verschmilzt.«17
Nun ist es aber gerade diese seltsam paradoxe Formulierung einer
»nichtsemiotischen Definition« des Zeichens, die Semiotik wieder
funktional für Präsenztheorie macht und so etwas wie den theoretischen nucleus für eine postmetaphysische Semiotik bilden könnte. Man
kommt dem, um was es hier geht, vielleicht auf die Spur, wenn man
einen weiteren Komplex hinzunimmt, der ebenfalls im Zuge der Geschichte der Präsenztheorie, wie sie oben kurz skizziert wurde, immer
mehr an Relevanz gewonnen hat: den Begriff des Mediums. Im Gegensatz zum Zeichenbegriff, wie er sich in der Folge de Saussures und
Derridas entwickelt hat, unterhält die Kategorie Medium Verbindungen sowohl zu semiotischen als auch zu nicht-semiotischen Phänomenen, und zwar auf eine spezifische Art und Weise, die zu der Vermutung Anlass gibt, dass die dichotomische Trennung von Zeichen- und
Präsenzphänomenen eine künstliche ist, die analytisch zwar notwendig, aber nicht unüberwindbar ist.
17. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von
Präsenz, Frankfurt am Main 2004, S. 130.
157
Markus Rautzenberg
Zu diesem Zweck soll im Folgenden ein wesentlicher Teilaspekt
des Mediengebrauchs in den Blick genommen werden, der innerhalb
des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen in den Fokus
gerückt wurde18 und in dem Band Performativität und Medialität eine
erste Auffächerung erfährt.19
Hier wird der Aspekt der Aisthetisierungsleistung von Medien untersucht, was einen entscheidenden Schritt hin zum Verständnis des
Verhältnisses von Zeichen- und Präsenzphänomenen bedeutet. Die
Frage, die dabei im Zentrum steht – die Kernfrage von Medienphilosophie überhaupt –, ist die nach der Konstitutionsleistung von Medien,
die eben deshalb das Vermittelte, ihre Botschaft, formen oder überhaupt erst konstituieren können, weil die Medialität des Mediums
selbst eben nicht semiotischer, sondern aisthetischer Natur ist. In der
Materialität des Sinnlichen wird die Immaterialität eines Sinns erst
gegenwärtig, so eine Formulierung Sybille Krämers aus der Einleitung
zu Performativität und Medialität.20 In diesem Geschehen einer Vergegenwärtigung von Sinn besteht die Aisthetisierungsleistung von Medien.
An diesem Punkt wird deutlich, in welch engem Zusammenhang
Zeichen- und Präsenzphänomene aller Dichotomisierungen zum Trotz
eigentlich gedacht werden müssen. Die Schwierigkeit für eine adäquate
Beschreibung dieser Dynamik besteht nicht zuletzt in ihrer Ereignishaftigkeit. Auch Hans Ulrich Gumbrecht kommt in seinem bereits
erwähnten Text zu dem Schluss, dass ästhetisches Erleben immer ein
Geschehen, ein Hin und Her von Sinn- und Präsenzphänomenen ist.
Das ist gemeint, wenn er davon spricht, dass diese zwei Ebenen nie in
einer »stabilen Komplementaritätsstruktur« erfassbar seien.
Daraus folgt jedoch nicht, dass sie überhaupt nicht erfassbar sind.
Es kommt nur darauf an, den Blick beharrlich auf den Moment zu
lenken, in dem Zeichen- und Präsenzphänomen, Sinn und Sinnlichkeit, wenn man so will, noch nicht auseinandergefallen sind. Dieses
Auseinanderfallen ist nämlich – das sollte deutlich geworden sein –
kein Mangel, keine unwissenschaftliche Unschärfe, die es gelte methodisch auszumerzen. Im Gegenteil: Nur in dieser Dynamik, in dem
18. Erika Fischer-Lichte, Christoph Wulf (Hg.): Praktiken des Performativen, Paragrana 13 (2004), H. 1.
19. Sybille Krämer: Performativität und Medialität, München 2004.
20. Sybille Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierungsleistung‹ gründenden
Konzeption des Performativen«, in: Dies. (Hg.): Performativität und Medialität
(wie Anm. 19), S. 20.
158
Zeichen/Präsenz
Moment des plötzlichen Aufscheinens einer Aisthetisierung von Sinn
via Medium kann man dem Gegenstand der Beobachtung, dem ästhetischen Erleben gerecht werden. Wenn dieses Hin und Her von Sinnund Präsenzebenen nur in seiner ereignishaften Dynamik adäquat
gefasst werden kann, so ist damit gleichzeitig gesagt, dass die Aisthetisierungsleistung von Medien eng an die jeweils spezifische Performativität des Mediengebrauchs gekoppelt ist.
Die Fokussierung auf die Aisthetisierungsleistung und Performativität von Medien erlaubt auf diese Art und Weise, semiotische Bedeutungskonstitution im Moment ihres Vollzuges zu erfassen, indem die
medialen Ermöglichungsgrundlagen von Zeichen in die Beschreibung
des semiotischen Prozesses integriert werden könnten. Steiners erlebte
Form würde sich so als ein Ineinander von semiosis und aisthesis erweisen, dessen ephemerer Status eine Erfassung in Form der Darstellung
einer Dynamik erfordern würde.
Mit Steiners Begriff der erlebten Form und dessen Beschreibung
von Worten, »die zum sorgfältigen Dienst an der Berührung gepreßt
werden«, ist bereits ein Beispiel für die Dynamik von aisthesis und
semiosis im Medium der Sprache genannt worden. Dass dieses und alle
anderen Beispiele in Steiners Essay dem Bereich der Kunst und der
klassischen Ästhetik entstammen, bedeutet jedoch nicht, dass die Phänomene, um die es hier geht, auf den Bereich der so genannten high
culture beschränkt sind. Vielmehr scheint die Vermutung berechtigt,
dass das Interesse an der aisthetisierenden Qualität von Medien sowie
den Präsenzaspekten von Zeichenphänomenen sich nicht zuletzt der
Verfasstheit digitaler Medien verdankt, deren Siegeszug von der Marktreife des LISA Computers 1981 bis in die Gegenwart mit der skizzierten Entwicklung von Präsenztheorie parallel verläuft. Diese spezifische
Verfasstheit digitaler Medien ist jedoch keine absolut singuläre Qualität. Vielmehr zeigen digitale Medien die beschriebene Pendelbewegung
zwischen aisthesis und semiosis in der medialen Performanz von Zeichenphänomenen in einer solchen Intensität und Ubiquität, dass die
Beschäftigung mit Präsenz wieder virulent werden musste.
Es ist unschwer zu erkennen, wie eng die Renaissance der Medientheorie ab der Mitte der achtziger Jahre mit dem Aufkommen des
Computerzeitalters verkoppelt ist. Es gibt keine relevante neuere Medientheorie, die nicht auf den Computer und das digitale Zeitalter bezogen wird, oder von diesem Medienwechsel ihren Ausgang nimmt. Man
denke nur an Friedrich Kittler, Derrick de Kerkhove oder Lev Manovich. Man könnte mit Friedrich Kittler sogar soweit gehen zu behaupten, dass digitale Medien die Kategorie »Medium« überhaupt erst
sichtbar werden ließen. Nicht weniger plausibel ist jedoch auch die von
Jens Schröter geäußerte These, dass die spezifische Funktionsweise
159
Markus Rautzenberg
des Computers avancierte Medienbegriffe wie den Niklas Luhmanns
wiederum überhaupt erst ermöglicht.21
Obwohl viele Präsenztheoretiker ihren Versuch der Rehabilitierung
»realer Gegenwart« gerade als Gegenentwurf zur Allgegenwart digitaler, »entkörperlichter« Simulakra verstanden wissen wollen (so George
Steiner, aber auch zum Beispiel Dieter Mersch22), ist vielleicht die
Frage erlaubt, ob nicht das, was hier mit virtueller Gegenwart bezeichnet werden soll, dieses Interesse an Präsenzphänomenen nicht vielmehr positiv motiviert hat. Mit dem Ausdruck virtuelle Gegenwart soll
in bewusst paradoxer Umkehrung von Steiners Essay-Titel der Blick
auf die Verfasstheit digitaler Zeichen gelenkt werden, denen eine genuine Ereignishaftigkeit anhaftet, die erst den Blick für die oben beschriebenen Zeichenqualitäten zwischen aisthesis und semiosis schärfen
half.
Es ist bemerkenswert, wie innerhalb eines historischen Zeitraums,
in dem sich digitale Medien aus den Labors und Universitäten heraus
zur Ubiquität entwickelt haben, gleichzeitig eine kulturwissenschaftliche Richtung entsteht, die den Präsenzaspekt von Zeichenphänomenen in den Mittelpunkt rückt. Diese kulturwissenschaftliche Ausrichtung hin zu Präsenzphänomenen scheint Aspekte in den Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit stellen zu wollen, die im Zeitalter des Digitalen
im Verschwinden begriffen zu sein scheinen. Diese Verschwindensmetaphern, die von Autoren wie Jean Baudrillard, Paul Virillo oder auch
Neil Postman als Schreckgespenst aufgebaut werden, beinhalten die
bekannten topoi des »Verschwindens des Köpers«, oder der »Simulakra«. Den kulturpessimistischen Kern dieser Thesen bringt Dieter
Mersch auf eine prägnante Formel:
»Die Abenteuer des Realen scheinen sich restlos in die Simulation verflüchtigt zu
haben: Es herrscht das Imaginäre, das Phantasma, die unendliche Wiederholbarkeit, die das Ganze des Seienden in lauter Gespinste aus kalkulierbaren und manipulierbaren Texturen verwandeln.«23
Dieser immer noch vorherrschenden Beurteilung digitaler Medien liegt
die Vorstellung des Computers als Rechenmaschine zugrunde, die, als
kybernetische Monade und Triumph »instrumenteller Vernunft«
(Horkheimer) seit Leibniz und Descartes, den Menschen in absehbarer
21. Jens Schröter: »Intermedialität, Medienspezifik und die universelle
Maschine«, in: Krämer (Hg.): Performativität und Medialität (wie Anm. 19),
S. 402ff.
22. Mersch: Was sich zeigt (wie Anm. 15), S. 21.
23. Ebenda, S. 22.
160
Zeichen/Präsenz
Zeit überflüssig mache. Einen der extremsten Standpunkte dieser Art
vertritt sicherlich der amerikanische Robotik-Experte und Direktor des
Mobile Robots Laboratory an der Universität Pittsburgh, Hans Moravec,
der in Mind Children: The Future of Human Intelligence sogar die These
vertritt, dass das menschliche Nervensystem inklusive Gehirn in nicht
allzu ferner Zukunft verlustfrei auf Festplatten speicherbar sei.24
Friedrich Kittlers an Lacan geschultes Technik-apriori ist ein weiteres,
wenn auch sehr viel ernster zu nehmendes Beispiel.
Dieser im Falle Moravecs radikal-cartesianischen Interpretation
digitaler Medien, die, wenn auch wesentlich subtiler, noch in den
Interpretationen des Digitalen von Baudrillard bis Mersch zu spüren
ist, steht jedoch die alltägliche Erfahrung des Mediengebrauchs gegenüber. Angesichts navigierbarer Polygonräume mit force-feedback interfaces vom medizinischen Operationsroboter bis zum Dual-Shock-Pad von
Sonys Playstation, in der Interaktion mit Hypertext, DVD-Menüs, computer aided design oder in den Techniken der virtual cinematography, die
mit Film und Fotografie medientechnisch nichts mehr gemein haben,
zeigt sich eine semiotische Praxis, die nicht mehr nur rezeptiv sondern
immersiv verfährt. Für Immersion, das Eintauchen (lat. immersio) in
Zeichenwelten, ist jedoch gerade eine somatisch-aisthetische Involviertheit konstitutiv, während man es gleichzeitig natürlich immerzu
mit Zeichenprozessen zu tun hat, von der Binärebene bis hinauf zum
graphical user interface (GUI). Immersio und in-lusio sind eng miteinander verkoppelt.
Eine Zeichentheorie, die dieser Form von Zeichenpraxis auf der
Grundlage ihrer medialen Verfasstheit gerecht werden will, kann also
ohne die Aisthetisierungsleistung von Medien nicht konzipiert werden.
Aller dargelegten Schwierigkeiten im Spannungsfeld von semiosis und
aisthesis zum Trotz hat sich die Theorie natürlich der »normativen
Macht des Faktischen« zu beugen und nicht umgekehrt. So ist im Lichte der beschriebenen Problematik eine Semiotik oder Semiosthetik zu
konzipieren, die den Aspekt der Aisthetisierung nicht unterschlägt,
sondern in ihr Theoriedesign implementiert.25 Ansätze dazu gibt es
reichlich. So ist beispielsweise die Medium/Form-Differenz Niklas
Luhmanns, die sich bekanntlich auch einer Wahrnehmungskategorie
24. Hans Moravec: Mind Children: The Future of Human Intelligence, Harvard 1988.
25. An einigen Teilaspekten dieses Projekts versucht sich der Verfasser
zurzeit. Dabei ist das Portmanteauwort Semiosthetik nichts weiter als der Versuch,
der oben skizzierten Zusammenschau von semiosis und aisthesis qua Medienbegriff einen programmatischen Titel zu geben.
161
Markus Rautzenberg
Fritz Heiders verdankt26, für dieses Projekt ebenso vielversprechend
wie bestimmte Aspekte der Semiotik Charles Sanders Peirces. Hier
wäre vor allem nach der Rolle der »Erstheit« zu fragen, die sich mit der
Zeichenkategorie des »Qualizeichens« verbindet. Mit dem tone eines
Zeichenträgers ist die materielle, mediale Ebene bereits Thema. Auch
kann der späte Roland Barthes hier ebensowenig ignoriert werden, wie
die Exponenten der »Toronto-School«, allen voran natürlich Marshall
McLuhan, dessen Rückbindung von Medientechnologien an den Körper als Extensionen desselben trotz aller mitunter harschen Kritik27
innerhalb der Medientheorie virulent geblieben ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Zeichen- und Medientheorien mit den Herausforderungen der Präsenzerfahrung nur fertig
werden, wenn die medialen Ermöglichungsgrundlagen von Zeichenprozessen angemessen in den Blick genommen werden. Das gilt nicht
nur für die Medienphilosophie, sondern muss sich auch in den Methoden der Medienwissenschaften selbst niederschlagen. Dies wäre
kein Rückfall hinter die Erkenntnisse postmetaphysischer Philosophie.
Im Gegenteil würden eine solche Theorie und an sie anschließende
Methoden den Blick auf eine »nichttheologische Transzendenz« hin
öffnen, um einen Ausdruck Dieter Merschs zu verwenden. Diese »enthüllt sich nicht in der Tiefe dessen, was gedacht oder wahrgenommen
werden kann, sondern befindet sich an der Oberfläche dessen, was
(sich) gibt«.28 Diese Form von säkularer Transzendenz hatte Joseph
Ratzinger sicher nicht im Blick, jedoch wird es hier erst eigentlich
interessant.
26. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995.
27. Matthias Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der
Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt am Main 2001,
S. 133ff.
28. Mersch: Was sich zeigt (wie Anm. 15), S. 37.
162
Über vergleichende Verfahren
Cross-mapping diskurshistorisch
Cross-mapping diskurshistorisch
Tilo Renz
Mit dem erstmals 2002 eingeführten Verfahren des cross-mapping
schlägt Elisabeth Bronfen die Untersuchung von Beziehungen zwischen Gegenständen vor, die auf den ersten Blick wenig miteinander
zu tun haben.1 Zusammenfassend erläutert sie den Begriff:
»Beim Verfahren des cross-mapping geht es um das Feststellen und Festhalten von
Ähnlichkeiten, die sich zwischen ästhetischen Werken ergeben, für die keine
eindeutigen intertextuellen Beziehungen im Sinne von explizit thematisierten
Einflüssen festgemacht werden können. Es geht darum, die Transformation, die
sich durch die Bewegung von einer historischen Zeit in eine andere ergibt, hervorzuheben oder die Bewegung von einem medialen Diskurs in einen anderen
nachzuzeichnen.«2
Literarische Texte, Arbeiten der bildenden Kunst oder auch Filme
werden auf Verbindungen untersucht, die sie miteinander unterhalten,
deren Status aber schwer zu beschreiben ist. Am ehesten scheinen sie
sich ex negativo bestimmen zu lassen: Die im Zuge des cross-mapping
untersuchten Werke weisen kein offenkundiges Abhängigkeitsverhältnis auf, das sich etwa in einem formalen oder inhaltlichen Zitat oder
einer anderen expliziten Referenz manifestiert. Da die Qualität der
Verbindung schwer zu fassen ist, da sie gewissermaßen untergründig,
1. Vgl. Elisabeth Bronfen: »Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache«, in: Lutz Musner, Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen, Wien 2002,
S. 110-134. Siehe außerdem Bronfens 2004 in Frankfurt am Main erschienenes
Buch Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper,
Literatur und Film, sowie ihren Beitrag in diesem Band. – Für kritische Kommentare zu meinem Aufsatz danke ich Silke Förschler, Frieder Mißfelder und André
Rottmann.
2. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 1), S. 111.
165
Tilo Renz
auf einer verdeckten Ebene zu liegen scheint, rückt diese Beziehung
selbst ins Zentrum des Interesses. Es drängt sich die paradox anmutende Frage auf, wie ein analytisches Vorgehen begründet werden
kann, das zwei oder mehrere Gegenstände verknüpft, deren augenscheinliche Unverbundenheit zugleich für dieses Verfahren konstitutiv
ist. Dass Bronfen in der zitierten Passage von Transformationen
spricht, deutet auf den Anspruch hin, die Verbindung nicht allein auf
den kreativen Impuls der Analysierenden zu stützen.3 Obgleich verdeckt, scheinen die Beziehungen zwischen Texten, Filmen und anderen Kulturprodukten doch an ihnen selbst aufgewiesen werden zu
können. Bronfen beschreibt sie als Ähnlichkeiten von »Denkfiguren«,
die den Artefakten eingeschrieben sind.4 Als Bezeichnung desjenigen Elements, das Unverbundenes verbindet, kommt dem Begriff
Denkfigur eine Schlüsselposition in Bronfens Ausführungen zu. An
ihn werden hohe konzeptionelle Anforderungen gestellt: Er bezieht
sich auf eine Bedeutungsebene, die abstrakt genug ist, um im jeweiligen Artefakt nicht explizit thematisiert sein zu müssen, die nicht nur
Effekt einer Analyse ex post, sondern im untersuchten Gegenstand
selbst angelegt ist und die schließlich zugleich Invarianz genug besitzt,
um in unterschiedlichen Artefakten wiedererkennbar zu sein – mehr
noch: die These ihrer Verbundenheit allererst zu begründen – und sich
doch zu transformieren. Außerdem bezeichnet der Begriff offenbar
Konstellationen von Problemen oder Fragestellungen, also relationale
Beziehungen, die sich zweidimensional abbilden lassen, denn nach
Bronfen besteht das analytische Vorgehen in einem »Aufeinanderlagern und Kartographieren von Denkfiguren«, im cross-mapping eben.5
Die folgenden Ausführungen werden zunächst herausarbeiten, inwiefern Bronfens Lektüreverfahren als kulturwissenschaftliches zu charakterisieren ist, um es dann aus einer Foucault’schen Perspektive zu
betrachten und schließlich zu erweitern. Der Bezug auf Michel Foucault ist durch die Anleihen beim New Historicism in Bronfens Entwurf
des cross-mapping bereits enthalten. Nicht zuletzt weil die Ausführungen Foucaults zur diskursarchäologischen Methode selbst kein kohä3. Bronfen gründet ihr Vorgehen durchaus auch, aber nicht ausschließlich auf die »lebendige Kraft der Interpretation«. Ebenda, S. 111f. Zu einer pointierten Kritik der »monumentalen Stellung des [Autor-]Subjekts«, die am Neuhistorismus orientierten Texten häufig eigen sei – und als solche werden sich auch
Bronfens Ausführungen zum cross-mapping gleich herausstellen –, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt am Main 2003,
S. 462f.
4. Vgl. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 1), S. 111f.
5. Ebenda, S. 111.
166
Cross-mapping diskurshistorisch
rentes Ganzes ergeben, kann es hier nicht um eine methodologischsystematische Reformulierung des cross-mapping gehen, sondern allenfalls um eine schlaglichtartige problematisierende Lektüre einzelner
Aspekte. Der Vorschlag zur Ausweitung der beim cross-mapping untersuchten Fragestellungen setzt bei einer von Foucault wenig ausführlich
behandelten Frage an: Der von Elisabeth Bronfen verwendete Begriff
der »Umschriften« erweist sich als eine Möglichkeit, die Spezifität
künstlerisch gestalteter Gegenstände diskurstheoretisch zu bestimmen.
I. Kartografieren von Denkfiguren
als kulturwissenschaftliches Verfahren
Werden Beziehungen zwischen Artefakten beschrieben, so sind nach
Bronfen Modifikationen zu berücksichtigen, die sich im Allgemeinen
aus kulturhistorischem Wandel ergeben und die im Besonderen aus
medialen Veränderungen resultieren. Hinter diesen unterschiedlichen
kulturellen Veränderungen stehe ein nicht-personalisierter Akteur: soziale Energie.6 Den Begriff übernimmt Bronfen von Stephen Greenblatt, der ihn in seinen Arbeiten zur Literatur und Kultur der Renaissance einführt, bzw. in Anlehnung an die Literaturtheorie jener Epoche
entwirft, die das Konzept der energia ihrerseits der antiken Rhetorik
entleiht.7 Bronfen zitiert und reformuliert, was nach Greenblatt als
energia gilt:
»›Power, charisma, sexual excitement, collective dreams, wonder, desire, anxiety,
religious awe, free-floating intensities of experience.‹ Man könnte auch sagen:
alles, was an kulturellen Empfindungen und Vorstellungen von einer Gesellschaft
erzeugt und von dieser repräsentiert wird.«8
Der pointierenden Zusammenfassung gemäß handelt es sich um gesellschaftliche Imaginationen, um Ergebnisse bewusster wie unbewusster kollektiver Prozesse. Soziale Energie manifestiert sich nach
Greenblatt niemals unmittelbar, sondern immer nur in Form von
Spuren, d.h. insbesondere in literarischen Texten oder anderen Artefakten, generell aber in allen denkbaren Überresten einer Kultur. Bronfen treibt diese Überlegung weiter, indem sie die These vertritt, dass
6. Vgl. ebenda, S. 110.
7. Vgl. Stephen Greenblatt: »Die Zirkulation sozialer Energie«, in: Ders.:
Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt am Main 1993, S. 9-33, hierzu S. 15.
8. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 1), S. 111.
167
Tilo Renz
sich das Zirkulieren sozialer Energie diachron in Form von »Umschriften« ausdrücke.9 Nicht nur die sozialen Umstände, in denen etwa ein
Shakespeare-Drama entstanden ist, sondern auch das Stück selbst
seien im Laufe der Zeit »radikal refiguriert worden«.10 Damit ist weder gemeint, dass sich das Drama im Verhältnis zu seinem Kontext,
noch dass es sich aus der Perspektive des sich wandelnden Publikums
verändert hat. Vielmehr zielt Bronfen auf die bereits genannten Umschriften, verstanden als Modifikationen des Textes selbst in Form von
Nachdichtungen, Zitierungen einzelner Motive oder Figuren, Adaptionen in anderen Medien (insbesondere im Film) und schließlich Bezugnahmen auf das vorausgehende Drama, die viel weniger offensichtlich sind, um die es beim cross-mapping aber vorrangig geht. Diese
textuellen und medialen Transformationen können, so das Versprechen des cross-mapping, Aufschluss geben über kulturelle Zusammenhänge und ihre Wandlungsprozesse.
»Der Sinn eines solchen cross-mapping besteht darin, zu klären, wie jene im
Hollywood-Kino wiederbelebte energia einige der von Shakespeare Stücken in
Umlauf gesetzten Denkfiguren aufgriff; gleichzeitig aber auch andere, neue und
refigurierte Gestaltungen durchgespielt wurden. Welche für unsere zeitgenössische Kultur spezifischen Fragestellungen können hier gerade durch einen verstohlenen Rückgriff auf einen klassischen Text formuliert werden?«11
Als kulturelle Kraft verstanden, die die Aktualisierung von Denkfiguren
bedingt, ermöglicht soziale Energie erst, unterschiedliche Artefakte diachron zu verbinden und ihre Relation als »Umschrift« zu bezeichnen.
Umgekehrt scheint auch soziale Energie selbst im Zuge eines crossmapping fassbar gemacht werden zu können. Cross-mapping geht über
das deskriptive Nachvollziehen von textuellen Transformationen hinaus und versucht »Umschriften« mit kulturellen Wandlungsprozessen kausal zu erklären. Es zielt auf »die Frage, warum eine Denkfigur
9. Vgl. ebenda, S. 111. Bei Greenblatt selbst findet sich der Begriff der
»Umbildungen« (»refigurations«). Vgl. Greenblatt: Zirkulation (wie Anm. 7),
S. 15, sowie ders.: »The Circulation of Social Energy«, in: Ders.: Shakespearean
Negotiations, Berkeley/Los Angeles 1988, S. 1-20, hier S. 6.
10. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 1), S. 110. Der Gedanke ist bei
Greenblatt lediglich angelegt, vgl. Greenblatt: Zirkulation (wie Anm. 7), S. 15.
11. Bronfen: Cross-Mapping (wie Anm. 1), S. 112.
168
Cross-mapping diskurshistorisch
überlebt«.12 (Hervorhebung T.R.) Damit ist cross-mapping als kulturwissenschaftliches Verfahren eingeführt, denn kulturwissenschaftliche
Untersuchungen zeichnet aus, dass sie sich in der Regel nicht auf
Interpretationen oder close readings eines singulären Kulturprodukts
beschränken, sondern es mit anderen in Verbindung bringen, oder,
wenn sie sich doch darauf beschränken, das Ziel einer symptomalen
Lektüre verfolgen, d.h., zu Einsichten über den kulturellen Zusammenhang kommen wollen. Kulturwissenschaftliche Analysen sind also
niemals nur werkimmanente Untersuchungen von Gegenständen der
Hochkultur, die allenfalls noch mit einer Einordnung in die Geschichte
der jeweiligen Kunstform aufwarten, sondern kulturellen Zusammenhängen gilt ihr Erkenntnisinteresse.13 Daher ist ihnen auch das Problem der Einbindung von anderen als ästhetischen Kontexten immer
schon aufgegeben.14
12. Bronfen: Liebestod (wie Anm. 1), S. 11. Im Beitrag zu diesem Band hat
Bronfen ihre Position modifiziert; hier heißt es: »Bei diesem Suchen nach Analogien geht es jedoch weniger um die Frage, warum eine Denkfigur überlebt, sondern darum, welche Entwicklung diese Denkfigur in der Bewegung vom Medium
des Theaters ins Medium des Kinos erfahren hat: um die kulturellen Konsequenzen
einer historischen und medialen Umschrift.« (Hervorhebungen T.R.) Siehe S. 26
des vorliegenden Buches. »Umschriften« scheinen nun weniger für die Ursachen
als für die Effekte von kulturellen Veränderungen zu stehen. Sie lassen aber nach
Bronfen weiterhin Rückschlüsse auf den kulturellen Kontext zu, in dem sie auftreten.
13. Für eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft formuliert Udo Friedrich: »Dient der Kontext traditionell als heuristisches Instrumentarium zur Erklärung von Textbeobachtungen, so ist er in kulturwissenschaftlicher Perspektive Focus der Forschung.« Udo Friedrich: »Konkurrenz der symbolischen Ordnungen«, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 46
(1999), S. 562-572, hier S. 570. Friedrichs knappe Formel ist Teil der Debatte um
das Verhältnis von (germanistischer) Literatur- und Kulturwissenschaft. Vgl. insbesondere Walter Haug: »Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?«, in: DVjs
73 (1999), S. 67-93; Gerhart von Graevenitz: »Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung«, in: DVjs 73 (1999), S. 94-115; Walter Haug:
»Erwiderung auf die Erwiderung«, in: DVjs 73 (1999), S. 116-121.
14. Jüngere kulturwissenschaftliche Ansätze erweitern sozialgeschichtliche, indem sie weitere Kontexte hinzuziehen und indem sie das Verhältnis von
Gegenstand und Kontext anders bestimmen: Kulturelle Phänomene sind nicht
länger Produkte gesamtgesellschaftlicher Realitäten, sondern werden aufgrund
ihrer Eigenschaft, Teil der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit zu
sein, als ebenso ›real‹ angesehen wie historische Ereignisse und soziale Struktu-
169
Tilo Renz
Soziale Energie stellt aber nicht nur sicher, dass beispielsweise ein
literarischer Text der Renaissance noch immer in der Lage ist, Rezipienten zu affizieren, sondern sie stiftet auch Verbindungen zwischen
verschiedenen Elementen einer vergangenen Kultur. Nach Greenblatt
meint der Begriff qualitativ gezielt offen gehaltene Austauschbeziehungen, die zwischen unterschiedlichen Teilbereichen einer jeweiligen
Kultur bestehen. Es handelt sich um
»ein subtiles, schwer faßbares Ensemble von Tauschprozessen, ein Netzwerk von
Wechselgeschäften, ein Gedränge konkurrierender Repräsentationen, eine Verhandlung zwischen Aktiengesellschaften«.15
Den bereits erwähnten Einflüssen, die in die Konzeption der sozialen
Energie bei Greenblatt eingegangen sind, kann damit ein weiterer hinzugefügt werden: Das Konzept ist orientiert an Überlegungen Foucaults zu Korrespondenzen unterschiedlicher diskursiver Zusammenhänge innerhalb einer Kultur.16 Foucault hat vorgeschlagen, diskursive Formationen und die ihnen eigenen Regelmäßigkeiten über traditionelle Grenzen von Wissenschaftsdisziplinen und Textsorten hinweg
zu untersuchen, um Korrespondenzen und Anschlussstellen herausarbeiten zu können, die Untersuchungen leicht entgehen, wenn sie sich
an traditionellen Einteilungen von Wissensfeldern orientieren.17 Damit wird zum einen ein Modell kulturwissenschaftlichen Arbeitens als
Überschreiten disziplinärer Grenzen und Verknüpfen unterschiedliren. Vgl. Jan-Dirk Müller: »Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer
mediävistischen Kulturwissenschaft«, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.):
Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000,
S. 461-481, hier S. 464ff.
15. Greenblatt: Zirkulation (wie Anm. 7), S. 16. Es geht um das Beschreiben von »Verschiebungen« beispielsweise »der normalen Sprache, aber auch von
Metaphern, Zeremonien, Tänzen, Emblemen, Kleidungsstücken, abgegriffenen
Geschichten […] aus einer kulturell abgegrenzten Zone in eine andere«. Ebenda,
S. 17.
16. Vgl. Moritz Baßler: »Einleitung. New Historicism – Literaturgeschichte
als Poetik der Kultur«, in: Ders. (Hg.): New Historicism, Tübingen/Basel 2001,
S. 7-28, hier S. 14. In Greenblatts Texten wird Foucault allerdings selten als Referenz genannt; vgl. aber beispielsweise Greenblatt: Zirkulation (wie Anm. 7),
S. 23, Anm. 12.
17. Zu Foucaults Absicht, über die historische Analyse einzelner Wissenschaftsdisziplinen hinauszugehen vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens,
Frankfurt am Main 2002, S. 40f. und S. 253ff.
170
Cross-mapping diskurshistorisch
cher Bereiche von Kulturen entworfen, zum anderen geht mit der von
Foucault anvisierten Ebene der Beschreibung historischer Zusammenhänge das Bestreben einher, bestehende Ordnungen und Klassifikationen des Wissens von vergangenen Kulturen zu revidieren.18
Dass soziale Energie nach Greenblatt nicht nur diachron zirkuliert
und Verbindungen stiftet, sondern auch eine synchrone Dimension
besitzt, lässt die auch für das cross-mapping relevante Frage nach der
Einbindung von Gegenständen in ihren zeitgenössischen Kontext
hervortreten. Foucaults Ausführungen zum historischen Wandel kultureller Zusammenhänge sowie zur Kontextualisierung von Aussagen
bieten eine Möglichkeit, das mehrfach relationale Verhältnis, das sich
für das cross-mapping damit ergibt, zu erläutern.
II. Epistemische Wechsel und die Konstitution
von Aussagen
Hans-Georg Gadamer beschreibt in Wahrheit und Methode die Verbindung zwischen einem überlieferten Gegenstand und dem gegenwärtig
Interpretierenden wie folgt:
»Nun ist die Zeit nicht primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er
trennt und fernhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt. Der Zeitenabschnitt ist daher nicht
etwas, das überwunden werden muß. […] In Wahrheit kommt es darauf an, den
Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu
erkennen. Er ist nicht gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die
Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt.«19
Gadamers hermeneutisches Modell der Annäherung an vergangene
Sinnzusammenhänge fasst die Überlieferung als ein Vorwissen auf,
welches nicht als Vorurteil diskreditiert, sondern als Basis des Verstehens anerkannt wird. Indem Bedeutung tradiert wird, verschweißt sie
den Interpretierenden mit der Vergangenheit und macht so Verstehen
möglich. Die Überlieferung des Sinns, die Tradition, wird als kontinuierlich gedacht, und zwar über große historische Zeiträume hinweg.
18. Zum intermediären Bereich von Kultur, auf dessen Beschreibung die
diskursarchäologische Methode zielt, vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge.
Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1997, S. 22ff.
19. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke Bd. I, Tübingen 1990, S. 302.
171
Tilo Renz
Diese totalisierende20 Vorstellung von Geschichte stößt innerhalb des
hermeneutischen Paradigmas selbst an Grenzen. Wie zum Beispiel
Überlieferungen aus dem Mittelalter an einen als umfassend verstandenen Traditionszusammenhang angekoppelt werden können, steht
angesichts rasch ablaufender Modernisierungsprozesse seit der Frühen
Neuzeit in Frage. Mit der Annahme eines Abbruchs kontinuierlicher
Tradition im Falle mittelalterlicher Literatur hat sich bereits Hans Robert Jauß auseinandergesetzt.21 Mittelalterliche literarische Texte
erschließen sich modernen Lesern, so Jauß, nur unter der Voraussetzung der Anerkennung ihrer befremdenden Andersheit, ihrer Alterität:
»Gegenüber solchem Modernismus [d.h. der unkritischen Aktualisierung mittelalterlicher literarischer Texte, T.R.] meint [die Rede von
ihrer] Modernität die Erkenntnis einer Bedeutung mittelalterlicher
Literatur, die nur im reflektierten Durchgang durch ihre Alterität zu
gewinnen ist.«22 Jauß stellt damit heraus, dass die mittelalterliche
Überlieferung zwar nicht vollständig von der Moderne geschieden
werden kann, dass beide aber auch nicht kontinuierlich ineinander
übergehen, sondern Verbindungen erst unter Berücksichtigung grundlegender Differenzen herausgestellt werden können.23
Eine radikale Absage an Vorstellungen von Tradition, Kontinuität
und Entwicklung, die beispielsweise in Gadamers Hermeneutik vertreten werden, findet sich im Vorwort von Michel Foucaults breit angelegter wissensarchäologischer Studie Die Ordnung der Dinge:
»Wir haben vergeblich den Eindruck einer fast ununterbrochenen Bewegung der
europäischen Ratio seit der Renaissance bis zu unseren Tagen […]; diese ganze
Quasi-Kontinuität auf der Ebene der Ideen und der Themen ist wahrscheinlich nur
eine Oberflächenwirkung. Auf der archäologischen Ebene sieht man, daß das
System der Positivitäten sich an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten
20. »Man sollte Gadamer fragen, wessen und was für eine ›Tradition‹ er
eigentlich meint«, kommentiert Terry Eagleton. Terry Eagleton: Einführung in die
Literaturtheorie, Stuttgart/Weimar 1994, S. 38.
21. Hans Robert Jauß: »Einleitung«, in: Ders.: Alterität und Modernität
der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977,
S. 9-47.
22. Ebenda, S. 25.
23. Im gegenwärtigen Bild vom Mittelalter verbinden sich Vorstellungen
der Kontinuität mit solchen der Alterität, d.h., es ist als geprägt von Ambiguitäten oder als »dialektisch« zu bezeichnen; in diesem Sinne hat kürzlich Valentin
Groebner das Mittelalterbild der Gegenwart, insbesondere der heutigen Populärkultur, bestimmt. Vgl. Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München/Wien 2003, S. 25.
172
Cross-mapping diskurshistorisch
Jahrhundert auf massive Weise gewandelt hat. Das heißt nicht, daß die Vernunft
Fortschritte gemacht hat, sondern daß die Seinsweise der Dinge und der Ordnung
grundlegend verändert worden ist, die die Dinge dem Wissen anbietet, indem sie
sie aufteilt.«24
Hier wird nicht nur vorgeschlagen, eine alternative Ebene der Ordnung
des neuzeitlichen abendländischen Wissens zu analysieren, sondern
die These vertreten, dass für diesen Zeit- und Kulturraum jene »QuasiKontinuität auf der Ebene der Ideen und der Themen«, von der die
zeitgenössische Geschichtswissenschaft, so Foucault, ausgehe, tatsächlich gar keine ist. Gegenstände und Begriffe, die identisch oder allenfalls geringfügig modifiziert zu sein scheinen, werden durch Zeichensysteme hervorgebracht, denen differente Modelle von Repräsentation
zugrunde liegen. Was oberflächlich betrachtet ähnlich aussieht, hängt
auf einer tieferen Ebene mit ganz anderen Voraussetzungen zusammen. In der Ordnung der Dinge scheint Foucault diese These am deutlichsten anhand seiner Beschreibung der Einführung des Begriffs vom
Menschen zu vertreten. Erst in der Moderne – d.h. bei Foucault: seit
der Zeit um 1800 – kann es zu einer Konzeption des Menschen kommen, wonach dieser, zugleich Subjekt und Objekt des eigenen Verstehens, durch eine der Repräsentation unzugängliche Dimension ausgezeichnet ist. Die gegenwärtige Vorstellung vom Menschen wird erst
möglich, als sich das Repräsentationsmodell des klassischen Zeitalters
mit seinen eindeutigen und transparenten Zuordnungen von Gegenstand und Signifikant auflöst, das dem Menschen die Rolle zugewiesen
hat, Beziehungen zwischen Ding und Zeichen herzustellen, ohne
selbst zum problematischen Ausgangspunkt von Repräsentationspraktiken zu werden.25 Der Effekt, den die scharfe Abgrenzung unterschiedlicher Episteme auf Semantiken haben kann, zeigt sich nicht
zuletzt in der berühmten Prophezeiung des letzten Satzes der Ordnung
der Dinge, wonach »der Mensch«, verstanden als empirisch-transzendentales Doppelwesen, ebenso wie er um 1800 entstanden sei, möglicherweise in naher Zukunft wieder verschwinde »wie am Meeresufer
ein Gesicht im Sand«.26
Die von Foucault innerhalb des neuzeitlichen Wissens aufgewiesenen Diskontinuitäten stellen Verfahren, die – wie das cross-mapping –
in diesem Zeitraum diachrone Verbindungen ziehen, vor die Fragen,
ob und an welchen Punkten mit wissenshistorischen Veränderungen
zu rechnen ist, wie diese zu beschreiben sind und wie sie sich auf
24. Foucault: Ordnung der Dinge (wie Anm. 18), S. 25.
25. Vgl. Ebenda, S. 376f., sowie zusammenfassend S. 407.
26. Ebenda, S. 462.
173
Tilo Renz
einen beabsichtigten Vergleich auswirken. Hält man sich an die in der
Ordnung der Dinge vorgegebene Abfolge von Repräsentationssystemen
und die ihnen hier unterstellte wissensgenerierende Kraft, so stellt sich
der diachrone Vergleich über ihre Grenzen hinweg als nicht statthaft
dar. Dass das Etablieren von Beziehungen zwischen Gegenständen
über Epistemgrenzen hinweg unmöglich erscheint, hängt mit einer
Grundannahme der diskursarchäologischen Methode zusammen. Es
handelt sich um eine Variante des Verhältnisses von Gegenstand und
Kontext, um das von Aussage und diskursiver Regelmäßigkeit.
Aussagen erhalten als kleinste Einheiten von Diskursen ihre Identität nicht allein von den Wörtern, von den Elementen, aus denen sie
bestehen, sondern in erster Linie vom Kontext, in dem sie auftreten.27
Wie eng jedoch diese Bindung einzelner Aussagen an den Gesamtzusammenhang ist, in dem sie identifizierbar werden, wird von Foucault
nicht einheitlich konzipiert. Die zitierte Passage aus dem Vorwort zur
Ordnung der Dinge, welche die Annahme einer Kontinuität als »Oberflächenwirkung« zurückweist, die verdecke, dass sich das »System der
Positivitäten […] auf massive Weise gewandelt« habe, unterscheidet
zwar zwischen System und Oberfläche, schweigt aber über die Beziehung der beiden Ebenen zueinander.28 Im Vorwort zur deutschen
Ausgabe bezeichnet Foucault das Enthüllen der »Gesetze des Aufbaus«
der untersuchten Diskurse als Ziel seiner Analysen.29 Damit wird die
Existenz eines Bauplans unterstellt, der die Gestalt des Gebäudes determiniert. Auch im Zuge seiner methodologischen Überlegungen in
der Archäologie des Wissens geht Foucault wiederholt über eine positivistische Beschreibung von Diskursen hinaus und scheint bestrebt, zu
einer Vorstellung von autonomer Steuerung durch diskursive Regularitäten zu gelangen, mit der die Herausbildung bestimmter Aussagen
und ihrer Beziehungen untereinander kausal begründet werden kann.30
Hubert Dreyfus und Paul Rabinow kritisieren diese Tendenz, weil
Foucault hier die deskriptive Herangehensweise aufgebe und auf die
strukturalistische Annahme der Steuerung durch eine Tiefendimension zurückfalle.31 Da Foucault zudem nicht bereit sei, ein den Bereich
des Diskursiven regulierendes Außen zuzulassen, ergibt sich das Kon27. Vgl. Foucault: Archäologie (wie Anm. 17), S. 144, sowie Hubert Dreyfus, Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik,
Frankfurt am Main 1987, S. 78-80.
28. Foucault: Ordnung der Dinge (wie Anm. 18), S. 25.
29. Vgl. ebenda, S. 12.
30. Vgl. beispielsweise Foucault: Archäologie (wie Anm. 17), S. 105.
31. Vgl. Dreyfus, Rabinow: Foucault (wie Anm. 27), S. 105-111, hierzu
S. 109f.
174
Cross-mapping diskurshistorisch
zept von »Regelmäßigkeiten, die sich selbst regeln« – eine für die
Autoren, die den machtkritischen Foucault favorisieren, schwer nachvollziehbare Annahme.32 Unabhängig davon, welche methodischen
Probleme einzelne Stränge der Argumentation Foucaults nach sich
ziehen, kann seine Position, die sich zwischen einer rein deskriptiven
Erfassung des Raums der Streuung von Aussagen und der Analyse
eines steuernden und determinierenden Regelsystems bewegt, für das
Verfahren des cross-mapping Folgendes bedeuten: Wenn eine enge
Bindung von Aussagen an diskursive Regularitäten angenommen wird
– in dem Sinne, dass Regelmäßigkeiten, wenn auch keine steuernde,
so doch eine Aussagen konstituierende Kraft zukommt – und wenn
sich dieses Verhältnis von Aussagen und Regularitäten zudem in eine
historische Erzählung der sprunghaften Abfolge von Epistemen einbinden lässt, so muss das Stiften von Verbindungen über Epistemgrenzen hinweg als illegitimes Vorgehen erscheinen. Mögen Aussagen
auch auf der Oberfläche ähnlich erscheinen, wenn sie unterschiedlichen Epistemen zugehören, sind sie durch radikal differente Regelsysteme konstituiert worden. Sie einander identifizierend anzunähern
würde die unterschiedlichen, d.h. bei Foucault historisch differenzierten, diskursiven Reglementierungen verkennen, auf deren Grundlage
sie gebildet wurden. Ein cross-mapping, das auf diese Weise Äpfel und
Birnen miteinander in Beziehung setzt, würde an der Ordnung diskursiver Zusammenhänge vorbeigehen. Um Äpfel und Birnen zu vergleichen, scheint daher aus diskurstheoretischer Perspektive ein Vergleich
der dazugehörenden Gärten und Gewächshäuser unumgänglich, denn
sie beeinflussen in entscheidendem Maße, welche Obstsorten sich
entwickeln. Wenn sie auch keine operationalisierbare Methode bereitstellen, so liefern diskurstheoretische Überlegungen doch eine Warnung vor der übereilten Identifizierung auf den ersten Blick ähnlich
anmutender Gegenstände. Darüber hinaus ist mit Foucault auch eine
tiefenstrukturelle Verknüpfung des oberflächlich Disparaten nicht
problemlos möglich. Da der Zeichenbegriff, der die Kohärenz einer
Episteme sicherstellt, nicht strukturalistisch invariant erscheint, sondern verzeitlicht ist, muss beim cross-mapping damit gerechnet werden,
dass sich auch die verdeckte Ebene, auf deren Grundlage eine diachrone Verbindung hergestellt wird, an bestimmten Punkten sprunghaft
und radikal umgestaltet hat. Auch eine Denkfigur also – jene konstant
erscheinende konzeptionelle Basis des cross-mapping – könnte sich im
Lauf der Zeit grundlegend gewandelt haben. Die diskurstheoretische
Perspektive konfrontiert das cross-mapping also mit der Möglichkeit,
angesichts historischer Diskontinuitäten den Halt zu verlieren.
32. Ebenda, S. 110.
175
Tilo Renz
Um der Verunsicherung Grenzen zu setzen, kann jedoch hinzugefügt werden, dass Foucault in der Archäologie des Wissens die strenge
Scheidung klar umrissener Episteme als einziges Modell, Historizität
zu denken, in Zweifel gezogen hat. Hier heißt es nun, die diskursarchäologische Analyse nehme
»weder ein rein logisches Schema von Gleichzeitigkeiten noch eine lineare Ereignisabfolge zum Modell; sondern sie versucht die Überschneidung der Beziehungen, die notwendig sukzessiv sind, mit anderen, die es nicht sind, zu zeigen«.33
Anstatt ein bestimmtes Modell von Zeitlichkeit zu favorisieren, wird
vorgeschlagen, die Transformationen selbst auf unterschiedlichen
Ebenen zu untersuchen.34 Dass auch Modelle der Entwicklung und
der Rekursion Teil eines Transformationsprozesses sein können, wird
ausdrücklich benannt. Zu rechnen sei mit »Phänomene[n] der Kontinuität, der Rückkehr und der Wiederholung«.35 Alle drei Zeitformen
betonen nicht das Inkommensurable verschiedener historischer Kontexte, sondern im Gegenteil das Ähnliche, sei es als wiederkehrend
gedacht oder als einer nur allmählichen Veränderung unterworfen.
Diese Revision der Akzentuierung von Brüchen ermöglicht diachrone
Verbindungen auch im Rahmen einer an diskurstheoretischen Überlegungen orientierten Methode. Bruchstellen, wo auch immer sie aufgewiesen werden, müssen, laut Foucault, nicht alle Teile des kulturellen
Zusammenhangs affizieren, sondern es sind auch Ebenen der Kontinuität denkbar. Gleichwohl werden epistemische Wechsel als Form von
Historizität nicht vollständig verabschiedet, sondern sie stellen weiterhin eine Variante von Zeitlichkeit in kulturellen Zusammenhängen
dar.36 Der spontane Wandel jedoch – und darin besteht die Modifikation in der Archäologie des Wissens – kann gleichzeitig überlagert sein
von kontinuierlichen Entwicklungen auf anderen Ebenen.
III. Cross-mapping literarischer Texte und Filme
Zentrales Merkmal des cross-mapping ist eine Herangehensweise an
Texte und Filme, die zugleich provokativ und produktiv ist, weil sie
durch die Konfrontation von Artefakten, die in keiner historischen
33. Foucault: Archäologie (wie Anm. 17), S. 239.
34. Vgl. ebenda, S. 245f.
35. Ebenda, S. 246f.
36. Auch in der Archäologie des Wissens wird das Modell der linearen Sukzession kritisiert. Vgl. ebenda, S. 240.
176
Cross-mapping diskurshistorisch
Abhängigkeitsbeziehung zueinander stehen, Strukturveränderungen
aufweist. Elisabeth Bronfens Kronzeuge für das Verfahren, nicht aufeinander bezogene Texte und Filme in heuristischer Absicht zu verbinden, ist Stanley Cavell. In seinem 1981 erschienenen Buch Pursuits
of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage bezieht Cavell romantische Hollywoodkomödien der dreißiger und vierziger Jahre
wiederholt auf Dramen Shakespeares.37 Sein verknüpfendes Vorgehen ist insofern eher formalistisch als hermeneutisch zu nennen, als er
die Hollywoodfilme nicht um bei Shakespeare gefundene Sinndimensionen erweitert, sondern in den jeweiligen Erzählungen Strukturhomologien und -verschiebungen nachweist, um diese dann als Ausgangspunkte für Interpretationen der Filme zu nehmen:
»I am not interested to try to provide solider evidence for the relation of The
Philadelphia Story [R: George Cukor, USA 1940] and A Midsummer Night’s Dream. I
might rather describe my interest as one of discovering, given the thought of this
relation, what the consequences of it might be. This is a matter not so much of
assigning significance to certain events of the drama as it is of isolating and
relating the events for which significance needs to be assigned.«38
Bronfen selbst zitiert diese Textstelle und reformuliert sie im Sinne
ihres Vorgehens: Es gelte »auszuloten, wie die Denkfiguren, die [es]
erlauben, eine Ähnlichkeit zwischen zwei unterschiedlichen Textsorten
auszumachen, [im jeweiligen Text] eingesetzt werden«.39 Sie charakterisiert die »Umschriften« als abhängig von einem Typus, dem jüngere »Bearbeitungen« nicht entkommen können.40 Einzelne Figuren
oder Figurenkonstellationen werden anhand bestimmter grundlegender Züge typisierend bestimmt und ihr Wandel wird dann anhand spezifischer textueller oder filmischer Realisierungen nachvollzogen.41
Die Rede von den Denkfiguren wird hier also in ihrem konkreten Wortsinn verstanden, als Figuren in Erzählungen, die im Lektüreprozess
von Bronfen auf den zweiten Wortsinn bezogen werden, nämlich auf
Problemkonstellationen, die der Lesenden zu denken geben. Die Nähe
zur traditionellen Motivgeschichte liegt auf der Hand.42 Im Unter37. Stanley Cavell: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge (Mass.)/London 1994.
38. Ebenda, S. 144f.
39. Bronfen: Liebestod (wie Anm. 1), S. 14.
40. Vgl. ebenda, S. 18f.
41. Bronfen arbeitet beispielsweise mit verschiedenen Typen weiblicher
Subjekte. Vgl. ebenda, S. 14f.
42. Augenfällig wird die Nähe, wenn Elisabeth Frenzel bei der Unterschei-
177
Tilo Renz
schied zu dieser geht es Bronfen aber weder um das positivistische Erfassen und Verfolgen eines bestimmten Motivs, noch um das Herausarbeiten seines kunstvollen Einsatzes in einem einzelnen Werk; vielmehr werden verschiedene Realisierungen einer Denkfigur kontrastiert
in einem Verfahren, das auf die Analyse des kulturellen Zusammenhangs zielt.43 Hier zeigt sich erneut, dass das cross-mapping als literaturwissenschaftliches Vorgehen ohne Berücksichtigung seines kulturwissenschaftlichen Horizonts nicht angemessen zu beschreiben ist.
Umgekehrt aber ist eine Erweiterung des cross-mapping um die im
vorausgehenden Abschnitt angesprochene synchrone Dimension der
Zirkulation sozialer Energie nicht zu realisieren, ohne den bei Bronfen
stark gemachten Bezug auf ästhetische Artefakte zu berücksichtigen.
Die an Foucault orientierte Methodologie ist um eine Vorstellung von
künstlerischer Formgebung zu erweitern. Bei den vorangegangenen
Ausführungen über die Unentschiedenheit in den Texten Foucaults,
wie bestimmend die Beziehung zwischen diskursiven Regelmäßigkeiten und Aussagen gedacht wird, ist unberücksichtigt geblieben, dass es
beim cross-mapping nicht um die diachrone Verbindung von Aussagen
im Foucault’schen Sinne geht, sondern um die von ästhetischen Artefakten. In Foucaults Diskursarchäologie ist die Beziehung zwischen
ästhetischen Artefakten und Diskursen nicht systematisch ausgearbeitet. Noch in der Ordnung der Dinge findet sich die Beschreibung moderner Literatur seit dem 19. Jahrhundert als »eine Art ›Gegen-Diskurs‹«, als ein Bereich, der die repräsentierende Funktion von Sprache
verweigert und daher mit anderen Diskurszusammenhängen der Zeit
nicht in Beziehung gesetzt werden kann.44 Diese Konzeption von
Literatur durchzieht bereits Foucaults frühe literaturkritische Schriften.45 Ebenfalls in der Ordnung der Dinge aber zeigen literarische Texdung von Thema und Motiv als Beispiel für ein Motiv Personenkonstellationen
heranzieht, die durch einen »Handlungsansatz« ergänzt sind: »Die verfeindeten
Brüder« oder »Die verleumdete Gattin«. Vgl. Elisabeth Frenzel: »Vorwort«, in:
Dies.: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte,
Stuttgart 1988, S. V-XVI, hier S. VIII.
43. Rudolf Drux nennt lediglich das Herausarbeiten von »Epochenaffinitäten« und die »Suche nach existenziellen bzw. anthropologischen Grundmustern«
als Formen gegenwärtiger motivgeschichtlicher Ansätze, die über positivistisches
Sammeln und die Analyse einzelner Werke hinausgehen. Vgl. Rudolf Drux: »Motivgeschichte«, in: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin/New York 2000, S. 641-643, hier S. 642.
44. Vgl. Foucault: Ordnung der Dinge (wie Anm. 18), S. 76f., sowie S. 365f.
45. Foucault beschreibt beispielsweise, dass Selbstbezüglichkeit in Texten
Maurice Blanchots nicht als Verinnerlichung zu fassen sei, sondern die Literatur
178
Cross-mapping diskurshistorisch
te, wie Cervantes’ Don Quichotte oder die Schriften de Sades, das Ende
von historischen Wissensformationen und epistemische Bruchstellen
an.46 Sie erweisen sich als mit ihrer diskursiven Umgebung verbunden, denn aus ihrer Analyse lassen sich Aussagen über diese Umgebung treffen.47 In der Archäologie des Wissens heißt es dann – allerdings nicht über Literatur, sondern über Malerei:
»[S]ie [die archäologische Analyse] würde untersuchen, ob der Raum, die Entfernung, die Tiefe, die Farbe, das Licht, die Proportionen, die Inhalte, die Umrisse
in der betrachteten Epoche nicht in einer diskursiven Praxis benannt, geäußert
und in Begriffe gefaßt worden sind; und ob das Wissen, dem diese diskursive
Praxis Raum gibt, nicht in Theorien und vielleicht Spekulationen, in Unterrichtsformen und in Verschreibungen, aber auch in Verfahren, in Techniken und fast in
der Gebärde des Malers angelegt war. […] Man müßte zeigen, daß sie [die
Malerei] wenigstens in einer ihrer Dimensionen eine diskursive Praxis ist, die in
Techniken und Auswirkungen Gestalt annimmt. So beschrieben ist die Malerei
nicht eine reine Vision, die man anschließend in die Materialität des Raumes
übertragen müßte; sie ist ebensowenig eine nackte Gebärde, deren stumme und
unendliche leere Bedeutungen durch spätere Interpretationen freigesetzt werden
müßten. Sie wird von der Positivität eines Wissens völlig durchlaufen.«48
Obgleich also der Bereich des Ästhetischen in Richtung auf andere
Formen des Wissens einer Kultur geöffnet und gefragt werden kann,
welche Diskurse in Artefakte eingegangen sind, lassen sie sich nicht
auf die Menge der diskursiven Fäden, aus denen sie gewoben sind,
reduzieren. Das (ästhetische) Ganze ist auch hier mehr als die Summe
der einzelnen Teile. Bereits Ursula Link-Heer und Jürgen Link deuten
in ihren Überlegungen zu Literatur als einem Interdiskurs an, dass ein
literarischer Text ihm vorausgehendes diskursives Material »weiter-verarbeitet, […] verfremdet und gegen [den] vorliterarischen Sinn zu wenhier eine Bewegung nach außen vollziehe und die »Sprache […] die Seinsweise
des Diskurses, das heißt die Dynastie der Repräsentation, hinter sich« lasse. Michel Foucault: »Das Denken des Außen«, in: Ders.: Schriften zur Literatur, hrsg.
von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main 2003, S. 208-233, hier
S. 209f.
46. Zu Cervantes’ Don Quichotte vgl. Foucault: Ordnung der Dinge (wie
Anm. 18), S. 78-82, zu de Sade vgl. ebenda, S. 262ff.
47. Zum Nebeneinander der beiden genannten Konzeptionen von Literatur
bei Foucault vgl. Ursula Link-Heer: »Michel Foucault und die Literatur«, in: Joseph Jurt (Hg.): Zeitgenössische französische Denker. Eine Bilanz, Freiburg im
Breisgau 1998, S. 119-142, hierzu S. 129.
48. Vgl. Foucault: Archäologie (wie Anm. 17), S. 276f.
179
Tilo Renz
den versucht«.49 Christa Karpenstein-Eßbach hat vorgeschlagen, die
Diskursanalyse literarischer Texte um den Gedanken des transformierenden Rekurses von Literatur auf ihr vorausgehende literarische und
nicht-literarische Texte zu erweitern. Ein literarischer Text nimmt Material aus der Literatur ebenso wie aus anderen Wissensfeldern auf und
unterwirft es, so Karpenstein-Eßbachs Formulierung, einer »verschiebenden Wiederholung […] – sei es, daß er einen größeren Reichtum
semantischer Bezüge entfaltet, sei es, daß er eine irreguläre Verschiebung im forminnovativen Normbruch vollzieht«.50 (Hervorhebung
C.K.-E.) Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, der ästhetischen
Dimension kultureller Artefakte Rechnung zu tragen, denn in der
analytischen Beschreibung der Wiederholung kann herausgearbeitet
werden, ob sie sich auf die Aktualisierung diskursiver Vorgaben reduzieren lässt oder inwiefern sie diese modifiziert. Kunstprodukte können damit aus dem sie umgebenden Universum der Diskurse heraustreten. Sie erscheinen durchaus gebunden an das ihnen vorausgehende
Textfeld, lassen sich aber nicht notwendig auf dieses reduzieren. Für
das Verfahren des cross-mapping bedeutet diese Überlegung, dass ein
Raum eröffnet wird für diachrone Verbindungen von Artefakten. Diese
Distanzierung von der Annahme einer Bestimmung ihrer Bedeutung
durch den historisch-diskursiven Kontext ermöglicht, über den Diskurszusammenhang, in den sie synchron eingebunden sind, hinauszugehen und nach Einflüssen oder Homologien in anderen historischen
Kontexten zu fragen.
Einer eigenständigen Entwicklung des Bereichs ästhetischer Artefakte jedoch ist damit keineswegs das Wort geredet. Die Notwendigkeit
synchroner diskurshistorischer Einbindung eines untersuchten Artefakts bleibt bestehen – schon allein um historisch spezifisch und für
einen jeweiligen Gegenstand die Geformtheit, das ästhetische »Mehr«
allererst bestimmen zu können.51 Darüber hinaus ist nicht geklärt,
wie die diachrone Bezugnahme von verschiedenen künstlerisch gestalteten Artefakten aufeinander zu beschreiben ist. Was für eine Form
von Zeitlichkeit etwa könnte ihr zugrunde liegen? Im cross-mapping,
verstanden als Verknüpfung des intertextuell Unverbundenen, scheint
49. Jürgen Link, Ursula Link-Heer: »Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse«, in: LiLi 20 (1990), S. 88-99, hier S. 96.
50. Christa Karpenstein-Eßbach: »Diskursanalyse, Literatur und ästhetischer Wert«, in: LiLi 120 (2000), S. 137-144, hier S. 142.
51. Vgl. Jan-Dirk Müller: »Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46 (1999),
S. 574-585, hier S. 584, sowie Ders.: Der Widerspenstigen Zähmung (wie Anm.
14), S. 462f.
180
Cross-mapping diskurshistorisch
zumindest das Modell der Tradierung – beispielsweise eines literarischen Stoffes – von vorneherein ausgeschlossen zu sein. Hier liegt eine
verdeckte Verbindung vor, die sich auf die Konstanz oder Rekursion
einer Denkfigur stützt. Spätestens aber mit dem Konzept der Denkfigur kommt für das cross-mapping neben dem ästhetischen auch der
wissenshistorische Wandel ins Spiel: Welche Wissensordnung erlaubt
es, eine Denkfigur auf eine je historisch spezifische Weise zu denken?
Ungeachtet dieser Fragen, die dem cross-mapping aus diskurstheoretischer Perspektive zu stellen sind, weisen die Überlegungen zur
Konzeption ästhetischer Artefakte in der Diskurstheorie Foucaults auch
auf einen Ansatzpunkt hin, das Verfahren des cross-mapping zu erweitern. Nimmt man den Vorschlag Karpenstein-Eßbachs auf, das Verhältnis von Literatur und wissenschaftlichen oder anderen Diskursen
als eines der »verschiebenden Wiederholung« zu fassen, so kann Elisabeth Bronfens Rede von den »Umschriften« nicht nur auf den Bereich
der ästhetischen Produktion bezogen werden, sondern auch auf andere
Wissensgebiete. Ein cross-mapping würde auf diese Weise berücksichtigen, dass Artefakte nicht nur andere, von ihnen historisch getrennte
Gegenstände umschreiben, sondern immer auch ihren synchronen
wissenshistorischen Kontext. Zu kartografieren sind folglich nicht nur
Relationen innerhalb unterschiedlicher Artefakte, sondern auch die
Beziehungen zwischen diesen Artefakten und den Diskursen, in die sie
eingebunden sind und die sie durchziehen. Botanisch formuliert muss
beim cross-mapping also immer auch gefragt werden: Wie hängt denn
das Obst am Baum, gestern und heute?
181
Kunst des Ver-Gleichens
Kunst des Ver-Gleichens.
Zur Blickführung in Physiognomiken des
späten 18. und des frühen 20. Jahrhunderts
Karsten Lichau
I. Physiognomik und die Illegitimität des Vergleichens
Der im Folgenden unternommene Vergleich zwischen der Physiognomik des späten 18. Jahrhunderts – insbesondere Johann Kaspar
Lavaters zwischen 1775 und 1778 erschienenen Physiognomischen Fragmenten – und Schriften der literarischen Physiognomik aus der Zeit
der Weimarer Republik (Rudolf Kassner, Max Picard, Ernst Benkard)
verlangt nach einer Erklärung: Die Physiognomik Lavaters mit der der
Weimarer Zeit zu vergleichen, erscheint zunächst einmal nicht sonderlich gewagt oder provozierend – gelten doch gerade diese beiden Zeiten
als Hochphasen physiognomischer Praktiken. Außerdem durchziehen
intertextuelle Bezüge auf Lavater – auch und gerade in entschiedenen
Abgrenzungsversuchen – die gesamte moderne Geschichte der Physiognomik. Im Zentrum der folgenden Ausführungen soll es allerdings
weniger um explizite Bezüge der physiognomischen Lehre oder deren
intertextuelle Verflechtungen gehen. Vielmehr sollen Verfahren der
In-Bezug-Setzung von Text- und Bildelementen sowie kulturelle Strategien der Etablierung von medialen Hierarchien im Vordergrund
stehen – also jene unterschwelligen Prozesse des »Ver-Gleichens«, die
eine Vergleichbarkeitssphäre zwischen Text und Bild überhaupt erst
erzeugen, indem sie den Blick zwischen den bildlichen und textuellen
Komponenten des Buchmediums hin und her wechseln lassen. Dabei
wird sich zeigen, dass die Etablierung medialer Relationen und Hierarchien auch eine Pädagogik der »Blickführung« beinhaltet, deren Programm dem Auge des durch wiederholte Übung geschulten Physiognomikers entgeht. Kurz gesagt: Physiognomik soll als eine Kunst der
ver-gleichenden Blickführung unter die Lupe genommen werden, die –
183
Karsten Lichau
bei Lavater – auf eine Beherrschung des Bildes durch den Text zielt,
aber nicht auf »Bildlichkeit«1 verzichten kann.
Was »Bildlichkeit« auszeichnet, ist dabei gleichwohl in Veränderung begriffen. Dies zeigt sich im diachronen Vergleich zwischen dem
18. und dem 20. Jahrhundert, aber auch im synchronen Nachvollzug
der Prozesse der Blickerziehung. Es handelt sich also um einen doppelten Vergleich – oder einen doppelten Versuch, vermeintlich Unvergleichbares zu ver-gleichen: die physiognomischen Techniken der Blickführung im späten 18. und im frühen 20. Jahrhundert und räumliche
und mediale Distanzen zwischen Textelementen und Bildlichkeit.
Dass das Objekt des historischen Vergleiches – die Physiognomik
– selbst unterschiedliche Formen des »Ver-Gleichens« in sich birgt,
lässt sie für eine kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Vergleichen besonders interessant erscheinen. Caroline Walker Bynum,
eine Vorreiterin gewagter komparativer Vorgehensweisen, hat in ihrer
Untersuchung über Metamorphosis and Identity2 die Auseinandersetzung über den historischen Wandel anhand einer Beschäftigung mit
mittelalterlichen Konzepten der Verwandlung geführt. Die in ihrer
Studie herausgearbeiteten mittelalterlichen Konstrukte der Metamorphose und des Hybriden liefern ihr Elemente, die sich auch in ihren
Konzepten des historischen Vergleichens wiederfinden. Zugleich spielt
die Unterscheidung visueller und narrativer Formen in die unterschiedlichen Entwürfe von Verwandlung hinein.
»A hybrid is a double being, an entity of parts, two or more. It is an inherently
visual form. We see what a hybrid is; it is a way of making two-ness, and the
simultaneity of two-ness, visible. Metamorphosis goes from an entity that is one
thing to an entity that is another. It is essentially narrative.« 3
Diese Konzepte fließen ein in ihren Begriff der »paradoxical history«,
wenn es heißt:
1. »Bildlichkeit« verwende ich hier im Sinne eines weit gefassten BildKonzeptes, wie es etwa von William J.T. Mitchell in die Beschäftigung mit »dem
Bild« eingeführt wurde. Er unterscheidet fünf Typen von Bildlichkeit, die neben
dem »graphischen« Bild (also dem Bild im engeren Sinne, wie etwa einem Gemälde oder einer Zeichnung) optische Bilder (Projektionen), perzeptuelle (auf Sinnesdaten beruhende) Bilder, geistige Bilder (wie Träume, Vorstellungsbilder oder
Ideen) und sprachliche Bilder (Metaphern, Beschreibungen) umfassen. Vgl.
William J.T. Mitchell: »Was ist ein Bild?«, in: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit.
Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1990, S. 17-68.
2. Caroline Walker Bynum: Metamorphosis and Identity, New York 2001.
3. Ebenda, S. 30, Hervorhebung im Original.
184
Kunst des Ver-Gleichens
»Like the hybrid figures twelfth-century students used as memory aids and learning-tools, the history we write is less a synthesis and reconciliation than an
assertion of opposites. The most profound evocations and analyses of the past
tend, I think, to put us in contact with the contradictory aspirations of that past
and to keep us ever aware of the contradiction inherent in the arrogant effort to
understand something radically other than ourselves.« 4
Paradoxe Geschichtsschreibung heißt aber für Bynum, gerade nicht auf
die Kontextualisierung zu verzichten – sie fordert »[to] audaciously
relate current to past concerns yet argue paradoxically for embedding
texts, painstakingly and obsessively, in their historical context«.5
Aspekte der Verwandlung oder des Wechsels spielen dabei auch
für unseren Zusammenhang – die Physiognomik – eine entscheidende
Rolle. So ist für die Blickführung zwischen Text und Bild die Frage
nach einer identitären oder fließenden Mischung der zu vergleichenden Teile bedeutsam: Die Lavater’sche Physiognomik wird sich als eine
mediale Strategie erweisen, die das Bild dem Text unterordnet und
damit eine hierarchische Trennung zwischen Text- und Bildsphäre zu
errichten versucht. Zugleich führt sie jedoch – da sie auf Bildlichkeit
nicht verzichten kann – bildliche Formen in den Text und textuelle
Verfahren in die Abbildungen ein; sie stellt also selbst einen Moment
der Verwandlung vor dem Hintergrund historisch sich verändernder
medialer Konfigurationen dar, in denen mittels diskursiver Praktiken
die Schrift als Leitmedium etabliert wird.
Auf den paradoxen Status des Bildes im späten 18. Jahrhundert, wie
er dem Betrachter und Leser auch bei Lavater begegnet, hat Barbara
Maria Stafford – eine weitere Theoretikerin des provozierenden oder
gar illegitimen Vergleichens – hingewiesen: »Optical demonstration
and visualization were central to the processes of enlightening. Yet
from a conceptual standpoint, images, paradoxically, were reduced to
misleading illusions without the guidance of discourse.«6
II. Die unsichtbaren Mühen des
»schnellen Menschengefühls«
Johann Kaspar Lavater versieht die Titelseite des 1775 erschienen ersten
Bandes seiner Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Men4. Ebenda, S. 36.
5. Ebenda, S. 34.
6. Barbara Maria Stafford: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge (Mass.)/London 1991, S. 2.
185
Karsten Lichau
schenkenntnis und Menschenliebe7 mit einer Vignette von Daniel Nikolaus Chodowiecki (Abb. 1). Sie wird einige Seiten später mit einer »Erklärung der Titelvignette« versehen, die sich wie ein Vorhang auf die
Vorrede hin öffnet und wie folgt lautet: »Sieh die warnende Güte! Sieh
die Erfahrung, die still prüft, an des Genius Seite, der anschaut, was die
Natur zeigt.« (PF I, S. a) Diese Vignette vereint in nuce zahlreiche Phänomene, die für das Folgende von zentraler Bedeutung sind – Phänomene, die bei einem genaueren Hinsehen Lavaters physiognomische
Führung des Blicks auch in ihren verschwiegenen Aspekten sichtbar
werden lässt.
Abbildung 1: Daniel Chodowiecki, Titelvignette der Physiognomischen
Fragmente, Bd. I, 1775
Die Figurenkonstellation Genie, Erfahrung und »warnende Güte«
personifiziert erstens ein pädagogisches Verhältnis. Sie veranschaulicht, was Lavaters Bemühungen um ein nachvollziehbares Erlernen
des physiognomischen Blickes – und als solches werden sich die Physiognomischen Fragmente erweisen – ausmacht, was jedoch gerade am
Ende der angestrebten Blickerziehung wieder aus dem Blick des wahren physiognomischen Genies geraten muss: Die »warnende Güte«,
die von oben auf den Genius blickt, personifiziert die notwendigen
Korrekturen und Fehler der empirischen Einübung in die physiognomische Wissenschaft. Die »Erfahrung, die still prüft«, steht für die
Dauer eines jeden Lernprozesses, für die Zeit, die während der durch
Wiederholung erlangten Erfahrung vergeht. Und sie steht dafür – dies
zeigen der Hinweis auf die »Stille« der Prüfung und die Tatsache, dass
7. Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung
der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. I, Hildesheim 2002 [Nachdruck der
Ausgabe Leipzig und Winterthur 1775]. Im Folgenden abgekürzt als PF I.
186
Kunst des Ver-Gleichens
sie ihren Blick den Blicken der anderen entzieht –, dass die erfolgreiche physiognomische Blickführung mit der Ausblendung von Blickverhältnissen einhergeht, mit Nicht-Erblicktem.
Zweitens verweist die Erklärung der Titelvignette durch einen Text
auch auf das ambivalente Verhältnis von Text und Bild in den Physiognomischen Fragmenten. Obwohl er den Wert von Abbildungen immer
wieder betont – »Hauptkupfertafeln und Vignetten werden sehr selten
bloße Zierde, größtentheils Hauptsache, Fundament, Urkunde seyn«
(PF I, S. b) – verweist die textuelle Geste »sieh die … !«, die uns im
Laufe der Physiognomischen Fragmente häufig begegnet, auf Lavaters
ebenso grundlegendes wie letztlich unreflektiertes Misstrauen gegenüber dem Bild, auf sein Bestreben, die Kraft der Bildlichkeit durch
textuelle Verfahren zu kontrollieren und zu lenken.
Und schließlich nimmt die Vignette auch das Scheitern des Lavater’schen Bestrebens, seine Physiognomik als Wissenschaft zu etablieren, vorweg – ein Scheitern, das nicht zuletzt in der medialen (Selbst-)
Täuschung des physiognomischen Blickes begründet ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass nicht nur der Genius die »Natur«
anschaut, sondern der Blick der Angeschauten zurück zum Genius
verläuft: Das Gesicht auf der Tafel sieht nicht nur aus der Bildfläche
heraus, es wendet sich auf beiden Reihen der Tafel – betrachtet oder
»liest« man diese von links nach rechts, in der Richtung der Lektüre
eines Textes – auch dem Genius zu. Was den Genius als Natur anschaut, ist also ein eigenartiges Text-Bild-Phänomen, in dem die Linearität des Textes und das Kunst-Bild zur »Natur« überblendet werden.
Das physiognomische Genie identifiziert auf diese Weise Natur und
Kultur, Text und Bild – Verhältnisse, die sich für einige Zeitgenossen
Lavaters wie Winckelmann, Lessing, Lichtenberg oder Mendelssohn
wesentlich komplexer darstellen. Dass die Blickwechsel zwischen Text
und Bild für die Beherrschung der komplexen Struktur ihrer medialen
Bezüge von entscheidender Bedeutung sind, entgeht Lavater auf der
reflexiven Ebene immer wieder. Als Programm der Blickführung prägen diese komplexen Verhältnisse die Physiognomischen Fragmente
jedoch auf augenfällige Weise.
Nicht zufällig ist der Genius in Chodowieckis Vignette zugleich
Subjekt und Objekt von Blicken. In der Figur des Genius verbindet
sich die Etablierung einer medialen Hierarchie mit der Durchsetzung
eines pädagogischen Führungsanspruchs des Physiognomikers. Das
Genie stellt – wie David Wellbery gezeigt hat8 – im späten 18. Jahr8. David E. Wellbery: »Zur Physiognomik des Genies: Goethe/Lavater.
›Mahomeths Gesang‹« in: Rüdiger Campe, Manfred Schneider (Hg.): Geschichten
der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg 1996, S. 331-356.
187
Karsten Lichau
hundert eine Figur dar, die das Dilemma des Überblendeten, die
Spannung des Unvereinbaren in sich trägt. So muss auch Lavaters
Genie die Spuren des Wissens und seiner mühsamen Vermittlung, die
ihn erst zum Genie gemacht hat, ausblenden. Es ist einerseits »in seiner absoluten Originalität Gewähr dafür, daß Sinn subjektiv-individuell
gestiftet wird. Andererseits aber stellt das Genie den Wissenden vor das
Problem, daß sich absolute Originalität nicht in wiederholbaren sprachlichen Zeichen formulieren läßt.«9
In der nun folgenden Betrachtung der einleitenden Passagen der
Physiognomischen Fragmente wird sich zeigen, dass Lavaters Werk (genau wie sein »Genius«) in diesem Dilemma steht. Die Fragmente präsentieren sich als Einführung in ein empirisch vermittelbares Wissen.
Ja, sie bilden geradezu den zeitlichen Prozess des Erlernens von physiognomischen Blickwechseln nach. Und gleichzeitig konstatieren sie
die Existenz eines hermetischen Wissens, das sich allein in einem
»schnellen Menschengefühl« manifestiert.
So gilt Lavater die empirische Nachprüfbarkeit und mitteilbare
Sichtbarkeit der physiognomischen Beobachtungen anhand der von
ihm angeführten Bilddokumente als wichtiges Argument, das die Wissenschaftlichkeit der Physiognomik sichert. »So bald eine Wahrheit
oder eine Erkenntnis Zeichen hat, so bald ist sie wissenschaftlich, und
sie ist es so weit, so weit sie sich durch Worte, Bilder, Regeln, Bestimmungen mittheilen läßt.« (PF I, S. 53) Und doch geht für ihn Physiognomik über zeichenhafte Mitteilbarkeit hinaus:
»Bis auf einen gewissen Grad lässt sich physiognomische Wahrheit bestimmen –
in Zeichen und Worte fassen, mittheilen – sagen: ›das ist Character hohen Verstandes – dieser Zug ist der Sanftmuth, dieser dem wilden Zorn eigen! So blickt
die Verachtung! So die Unschuld! Wo dieß Zeichen – da ist diese Eigenschaft!‹
– Läßt sich sagen: ›So musst du beobachten! Den Weg musst du gehen, dann wirst
du finden, was ich fand, dann hierinn zur Gewissheit kommen‹ – Aber soll der
geübte Beobachter, der Feinergebaute auch hier, wie in allen Dingen, die Wissenschaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer sehen? Nicht weiter fliegen?
Nicht häufig Anmerkungen machen, die sich nicht in Worte kleiden […] lassen?«
(PF I, S. 54f.)
Damit aber kommt der Physiognomik eine Rolle zu, die zugleich Wissenschaft und schon nicht mehr Wissenschaft ist: »Sie wird werden die
Wissenschaft der Wissenschaften, und dann keine Wissenschaft mehr
seyn, sondern Empfindung, schnelles Menschengefühl!« (PF I, S. 55)
Begründet wird dieses Paradox durch eine pädagogische Hierarchie,
9. Ebenda, S. 334.
188
Kunst des Ver-Gleichens
die in den lernenden Nachvollzug des empirisch Sichtbaren durch den
Physiognomik-Adepten zugleich die unerreichbare Überlegenheit des
physiognomischen Genies einschmuggelt und zementiert.
»Also – Was soll ich sagen? Was soll ich thun? Physiognomik wissenschaftlich
machen? Oder nur, den Augen rufen zu sehen? Die Herzen wecken, zu empfinden?
Und dann hier und dort, einem müßigen Zuschauer […] in’s Ohr sagen: ›Hier ist
was, das auch du sehen kannst. Begreif nun, daß andere mehr sehen!‹« (PF I,
S. 55)
Die Distanz zwischen physiognomischem Genie und übriger Menschheit findet sich wieder in Lavaters Ausschluss von Lesenden und Betrachtenden aus den Zirkulationssphären seines Werkes. In der Vorrede heißt es mit Bezug auf den von vielen Zeitgenossen angemerkten
teuren Anschaffungspreis der Fragmente, das Buch sei »durchaus nicht
für den großen Haufen geschrieben. Es soll von dem gemeinen Mann
nicht gelesen und nicht gekauft werden.« (PF I, S. a2) Diesen Ausschluss – qua Anschaffungspreis – legitimiert Lavater aber mit der
mühsamen Arbeit empirisch-wissenschaftlicher und künstlerischer
Praxis. Immer wieder durchaus aufmerksam für die materiale und
mediale Beschaffenheit seiner Schriften, führt er die Kostbarkeit und
den Prachtreichtum der Fragmente nicht allein auf ihren Inhalt zurück, sondern gibt an, sie seien »kostbarer als andere Werke mit Kupfern, weil sehr viele Zeichnungen und Kupferplatten fehlgeschlagen
sind.« (PF I, S. a3)
Diese Fehlschläge, die der Exklusivität der physiognomischen
Genie-Gemeinde also letztlich zugrunde liegen – immerhin »können’s
verschiedene zusammenkaufen [sic!] und gemeinschaftlich besitzen«
(PF I, S. a3) –, erweisen sich als Spuren der mühsamen und kostenreichen empirisch-beobachtenden Prozesse, die nach Lavater zum physiognomischen Genie führen. So heißt es einmal, »daß ich mich unzählige male in meinen Urtheilen geirrt habe, und noch täglich irre –
Daß aber gerade eben diese Irrthümer und Fehlschläge das natürlichste und sicherste Mittel waren, meine Kenntnisse zu berichtigen, zu
befestigen, und zu erweitern«. (PF I, S. 7) Genau die zeitintensiven
Mühen und Irrtümer der Lernprozesse, auf die er hier hinweist und
die die Physiognomischen Fragmente performativ präsentieren, versucht
er jedoch inhaltlich auszublenden. In dem Ruf an die Augen, zu sehen,
der das Subjekt medial und sozial unterwirft, verschwinden die Erfahrung und die Prüfung und werden zum »schnellen Menschenblick«.
189
Karsten Lichau
III. »Alles Poesie, und nicht ein Schimmer von Poesie«:
Blickführung in der physiognomischen Pädagogik
Johann Kaspar Lavaters
Die pädagogischen Hierarchien der Blickführung sind in Lavaters Physiognomischen Fragmenten eng verknüpft mit der Etablierung einer
medialen Hierarchisierung. Der erste Band lässt sich lesen als zeitliche
Entfaltung eines Programms der Blickführung, in dem das Leitmedium des Textes den Blick unter seine Kontrolle nimmt, ihn Schritt für
Schritt an das Bild heranführt, um schließlich in einem abschließenden Übungsteil die erfolgreiche Erziehung des Auges zum physiognomischen Blick in der Konfrontation mit dem Bild zu prüfen.
»Den Augen rufen zu sehen«: Diese Anrufung – in der das Dilemma des zwischen Subjektivierung und Objektivierung stehenden
Genius angelegt ist – wird von Lavater nicht nur verkündet, sie findet
sich als Programm auch im Aufbau seines Werkes wieder. Die klassische Lavater’sche Gegenüberstellung von Porträt und Text, wie sie als
Text- und Bildprogramm große Teile der Physiognomischen Fragmente
durchzieht, findet sich in den einleitenden Passagen seiner Fragmente
kaum. Der Beginn seines »1. Versuchs« (die ersten acht Fragmente)
umfasst ausführliche theoretische Bestimmungsversuche der Physiognomik. In einer unsystematischen Systematik, wie sie bei Lavater häufig anzutreffen ist, werden darin empirische Ansätze mit dogmatischen
verknüpft.10
10. Die oft sehr widersprüchliche Einordnung Lavaters in Wissenstraditionen lässt sich am ehesten mit einer solchen eklektizistischen »unsystematischen
Systematik« fassen. Verschiedene Autoren haben auf z.T. sehr unterschiedliche
Einflüsse hingewiesen: Hartmut Böhme betont hermetische Elemente, während
Claudia Schmölders auf die Hermeneutik des Johann Martin Chladenius verweist;
Martin Blankenburg sieht beide Elemente verbunden in einer »Herme/neu/tik«.
Lavaters »zukunftsweisende« rationalistisch-analytische Methoden der Zurichtung, Zerschneidung, Mortifizierung der Körper sind ebenso betont worden (Rotraut Fischer, Gabriele Stumpp und Barbara Maria Stafford) wie sein physiko-theologisches Erbe und Verbindungen zu Bodmer, Bonnet und Leibniz (Blankenburg).
Vgl. hierzu Hartmut Böhme: »Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition«, in:
Ders.: Natur und Subjekt. Versuche zur Geschichte der Verdrängung, Frankfurt am
Main 1988, S. 179-211; Claudia Schmölders: »Das Profil im Schatten. Zu einem
›physiognomischen Ganzen‹ im 18. Jahrhundert«, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.):
Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994,
S. 242-259; Martin Blankenburg: »Wandlung und Wirkung der Physiognomik:
Versuch einer Spurensicherung« in: Karl Pestalozzi, Horst Weigelt (Hg.): Das
190
Kunst des Ver-Gleichens
Von besonderem Interesse für Lavaters Text-Bild-Praktiken sind
die Stellen, an denen er – nach einigem Zögern – die ersten Abbildungen in seine Fragmente einfügt, um den universalen Wahrheitsanspruch seiner physiognomischen Lehre durch Demonstrationen zu
stärken und den Blick des physiognomischen Adepten durch zunehmende Differenzierungen und Details zu verfeinern. Ein besonderes
Augenmerk gilt dabei dem 9. Fragment (»Von der Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit«), in dem die Blickschulung vom
Text zum Bild wechselt, und den abschließenden »Physiognomischen
Übungen zur Prüfung des physiognomischen Genies« im 17. Fragment.
Gedankenexperimente
Nach dem ausführlichen Einleitungsteil bringt das 9. Fragment einen
recht unvermittelten Bruch. Lavater räumt die spekulative Qualität der
bisherigen schriftlichen Ausführungen ein:
»Doch ich will es zugeben: dergleichen metaphysische Präsumptionen, so einleuchtend sie scheinen, und so viel sie wenigstens bey gewissen Lesern gelten
sollten, sind nicht beweisend genug. Es kommt auf die Wirklichkeit der Sache in
der Natur, mithin auf sichere Beobachtungen und Erfahrungen an.« (PF I, S. 58)
Angesichts der Qualitäten der Kupfertafeln als Zeugnisse, die Lavater
einleitend herausgehoben hatte, ist nun mit bildlichem Anschauungsmaterial zu rechnen. Was folgt, ist jedoch wiederum ein zweiseitiger
Textteil, in dem Lavater das Prinzip der Universalität des Schönen und
des Hässlichen – der zwei moralisch-ästhetischen Leitkategorien der
Fragmente – einführt. Dabei greift er noch immer nicht auf entsprechende Abbildungen zurück. Vielmehr wird die für seine gesamte
Argumentation tragende Hypothese der Entsprechung von moralischer
und ästhetischer Schönheit als Text präsentiert – und zwar in der
Form des Gedankenexperiments, auf die er gleich zweifach zurückgreift:
Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen 1994, S. 179-213; Ders.: »Physiognomik, Physiognomie«, in: Joachim Ritter,
Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, Basel
1989, Sp. 955-963; Rotraut Fischer, Gabriele Stumpp: »Das konstruierte Individuum. Zur Physiognomik Johann Kaspar Lavaters und Carl Gustav Carus’«, in: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Transfigurationen des Körpers. Spuren der
Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989, S. 123-143, sowie Stafford: Body Criticism
(wie Anm. 6).
191
Karsten Lichau
»Ich stelle den schönsten Menschen neben den hässlichsten, und kein Mensch
wird ausrufen: ›Jener wie hässlich! Dieser wie so reizend schön!‹ Und eben derselbe schöne Mensch schneide allerley Gesichter: Zuschauer aus allen Nationen
des Erdballes werden immer mit einer Stimme rufen: ›Das war ein hässliches – das
ein scheußliches, das ein ekelhaftes – dies nun wieder ein ordentliches, ein
anmuthiges, ein schönes Gesicht‹ u.s.f.« (PF I, S. 59)
Es folgt, nach der Ankündigung »[w]ir wollen nun sehen«, ein zweites
Gedankenexperiment:
»Man zeichne einem Kinde, einem Bauren, einem Kenner, einem jeden andern,
das Gesicht eines Gütigen und eines Niederträchtigen, eines Aufrichtigen und eines
Falschen. Man zeichne ihm dasselbe Gesicht in einem Augenblicke edler begegnender Güte, in einem Augenblicke verachtender Eifersucht – und frage: ›welche
dieser Gesichter hältst du für schön, – für die schönsten? Und welche für die
häßlichsten?‹ Und siehe da! Kind und Bauer und Kenner, werden dieselben
Gesichter für die schönsten halten und alle dieselben für die häßlichsten.« (PF I,
S. 60f., Hervorhebungen im Original durch Fettdruck)
Auch hier handelt es sich um ein in der Imagination durchgeführtes
Experiment. Die anschauliche Evidenz des gezeichneten Gesichts geht
jetzt zwar vom gezeichneten Bild zum Urteil, die Zeichnung selbst ist
jedoch nicht visuell repräsentiert.
Diese Gedankenexperimente verdeutlichen die Lavater’schen
Text-Bild-Strategien und ihre darin verborgenen (Selbst-)Täuschungen. Zunächst einmal ist zu bemerken, dass der Text der physiognomischen Pädagogik in zweifacher Weise auf Bildlichkeit zurückgreift: Im
Gedankenexperiment – also einer Form der »geistigen Bildlichkeit« –
wird selbst wiederum ein »grafisches« Gesichtsbild zum Objekt der
urteilenden Betrachtung. Zugleich wird der gedachte Betrachter des
Experiments nicht mit dem Bild alleingelassen, sondern sein Blick wird
vom Text geführt. Und zwar auch hier auf doppelte Weise: Der Text der
Fragmente gibt die zu findenden Ausdrücke (Gütiger, Niederträchtiger,
Aufrichtiger, Falscher) vor und betont sie im Druckbild durch Fettdruck. Auch innerhalb des Gedankenexperiments leitet die imaginäre
Stimme des Physiognomikers die »Fragenden«: »welche dieser Gesichter hältst du für schön, – für die schönsten? Und welche für die häßlichsten?« (PF I, S. 61)
Die bereits erwähnte Parallelisierung von medialen und sozialen
Hierarchien wird an dieser Stelle ebenfalls deutlich. Denn Lavater
wendet sich, in Klammern, an den Kreis der Eingeweihten:
192
Kunst des Ver-Gleichens
»(Dem Kenner nur werd’ ich meine Frage um etwas näher bestimmen müssen; ich
werde ihm sagen müssen: ›Ich frage nicht, welche sind am besten gemacht,
welcher Ausdruck ist am wahrsten getroffen, welches ist der Kunst halber das
schönste? Sondern welche Gesichter sind an sich, ohne Rücksicht auf die Kunst
des Zeichnens, schön und welche häßlich?‹)« (PF I, S. 61)
Abbildung 2: Zwölf Köpfe nach Charles Le Brun,
aus Physiognomische Fragmente, Bd. I, 1775
Der Kenner vermag also durch das gemachte Bild der Kunst hindurchzusehen und die Natur der »Gesichter an sich« zu entdecken. Wie der
Genius auf Chodowieckis Vignette blendet er dabei nicht nur die Zeichenhaftigkeit des Bildes, sondern auch die »warnende Güte« der
Text-Stimme aus.11
11. Friedrich Kittler hat anhand der Figur des Faust die zweifelhafte These
aufgestellt, dass »immer, wenn jemand versucht, keine anderen zu betrügen, […]
nur der Selbstbetrug« bleibt (Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900,
München 1987, S. 22). Lavaters Beispiel zeigt jedenfalls, dass auch der ausdrückliche Wunsch, sich wissend über Nicht-Wissende zu erheben, nicht vor Selbstbetrug gefeit ist.
193
Karsten Lichau
Im weiteren Verlauf überträgt Lavater nun die im Gedankenexperiment entwickelten Verfahren von der Vorstellungsebene auf die Ebene
seines Buches und weist seine Leser an:
»Man vergleiche auf der nächsten Tafel die Gesichter der Gemüthsruhe, und der
Verachtung und des Hasses; der Liebe, Freude, Hochachtung und des Zorns – und
urtheile.« (PF I, S. 61)
Die Tafel, an der diese – wiederum textlich vorgegebenen – Ausdrücke
gefunden werden sollen, ist in drei mal vier Karos aufgeteilt (Abb. 2).
Die im Text vorgegebene Serie überführt also auch die Abbildung in
eine seriell lesbare Abfolge von Gesichtsausdrücken. Greift also der Text
im Gedankenexperiment auf ein geistiges Bild zurück, um Anschaulichkeit und Überzeugungskraft zu gewinnen, so nimmt das Abbild
seinerseits textuelle Qualitäten an, indem es in eine serielle Abfolge
überführt wird.12 Auch die von Barbara Stafford als »dissecting« bezeichnete Technik der zunehmenden (visuellen) Zerschneidung des
Körpers13, die sich (ebenso wie die geometrischen Verfahren) erst in
den darauf folgenden Bänden der Fragmente im Bildteil niederschlägt,
wird an dieser Stelle textuell angelegt: »Man vergleiche auch nur einzelne Züge, Mund und Mund, Aug’ und Aug’; Nase und Nase, Stirn
und Stirn«. (PF I, S. 61)
Ekphrastische Bildlichkeit
Lavaters Argumentationen und Demonstrationen enden schließlich in
seiner Hypothese: »Je moralisch besser, desto schöner. Je moralisch
schlimmer, desto häßlicher.« (PF I, S. 63) Im direkten Anschluss an
diese These wendet sich Lavater gegen potentiellen Widerspruch. Und
wieder rekurriert er dabei im Text auf Bildlichkeit:
»Nun brechen Einwendungen hervor, wie Waldwasser. Ich höre sie rauschen. Mit
furchtbarem Sturze stürzen sie daher, pfeilgerade gegen das arme Hüttgen, das
ich mir gebaut hatte, und worinn mir so wohl war. – Nicht so verächtlich lieben
Leute! Etwas Geduld! Nicht ein armes Strohhüttchen auf ein Sandbänkchen – ein
massiver Pallast auf Felsen erbaut! Und die furchtbaren Waldströme zerschäumen,
und ihre Wuth wird sich legen am Fuße des Felsen!« (PF I, S. 63)
12. Wohl nicht zufällig greift Lavater für seine ersten bildlichen Demonstrationen auf Zeichnungen Charles Le Bruns zurück, die ihrerseits bereits zu
Lehrzwecken angefertigt wurden und daher besonders stark gegeneinander
differenziert sind.
13. Vgl. Stafford: Body Criticism (wie Anm. 6), S. 47ff.
194
Kunst des Ver-Gleichens
Die Bildlichkeit des Textes beruht nicht nur auf dem sprachlichen
Gleichnis; die Stelle evoziert aufgrund des Motivs und seiner dynamischen Natureffekte (das »arme Hüttgen«, eine Sandbank im rauschenden Waldwasser) die »grafische Bildlichkeit« eines Landschaftsgemäldes des 18. Jahrhunderts. Und doch weist das Gedankengemälde Eigenschaften eines textuellen Gebildes auf. Denn inmitten der Bildlichkeit erscheint die Negation: Indem das »Hüttgen« als Illusion enttarnt
wird, wird es gewissermaßen durchgestrichen und ersetzt durch den
festgefügten »Palast«.
Geübte Blickwechsel
Der zweite Teil des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente
bringt einen umfangreichen Übungsteil »zur Prüfung des physiognomischen Genies«. Hier entwickelt Lavater das Verfahren der Gegenüberstellung eines Textteils und einer mehrteiligen Bildtafel aus Gesichtsprofilen, das auf spätere physiognomische Bildpraktiken stilbildend wirkte und als eines seiner wichtigsten Vermächtnisse an die
physiognomische Tradition gelten kann (Abb. 3, 4).
Die Bildtafeln werden gerahmt durch einen Text, der aus einem
Frage- und einem Antwortteil besteht. Auch hier gibt der Text zunächst
vor und überprüft dann, was in dem Gesichtsprofil zu erblicken ist:
»1) Ist unter diesen Profilen ein dummes oder am Verstande schwaches? 2) Welches ist wohl das verständigste? 3) Welches das empfindsamste?« (PF I, S. 186)
Die Antworten finden sich oft erst auf der nächsten Doppelseite. Die
Einübung in das physiognomische Sehen erfolgt über das Verdecken
der Antworten und führt den Blick zum Bild: Der Versuch, die Zuordnung von Frage und Abbildung zu umgehen (angesichts der durchaus
schwierigen Fragen sehr naheliegend), wird durch die verräterische
Geste des Umblätterns enttarnt. Die Auflösungen erfolgen dann meist
ohne weitere Erläuterung.
Aufschlussreich sind die Transformationen, die die Bildtafeln im
Zuge der physiognomischen Übungen erfahren. Innerhalb weniger
Seiten zieht sich das abgebildete Gesichtsprofil von der Zeichnung
(Übung A, Abb. 3) über die ausgefüllte Silhouette (Übung B) bis zur
einfachen Profillinie zurück (Übung C, Abb. 4), die für Lavater den
Königsweg der Physiognomik darstellt. Die physiognomische Übung
inszeniert damit einen Prozess der Unterwerfung des Bildes unter
die Kriterien der Eindeutigkeit und der Feststellung. »Hier nur, in
der Reduktion auf die Linie, kann Bild in Schrift verwandelt werden
[…]. Dieses Treffen, Lektüre und fixierte Begegnung zugleich, kenn195
Karsten Lichau
zeichnen das literarische Unternehmen des Physiognomen.«14 Der
»Wunsch nach Kontrolle, der paradoxerweise gerade die hermetische
Abbildung 3: Sechs Köpfe im Profil, aus Physiognomische Fragmente,
Bd. I, 1775, Doppelseite 186f.
Abbildung 4: Sechs männliche Silhouetten, aus Physiognomische
Fragmente, Bd. I, 1775, Doppelseite 190f.
14. Liliane Weissberg: »Literatur als Repräsentationsform. Zur Lektüre von
Lektüre«, in: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur
und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹,
Stuttgart 1992, S. 293-313, hier S. 300.
196
Kunst des Ver-Gleichens
Tradition mit der Aufklärungstradition verbindet«15, findet seinen
Ausdruck in der Einübung von Blickwechseln, die Gesichter zu Profillinien und Bilder zu eindeutig lesbaren Zeichen zusammenziehen.
Mit der einfachen Profillinie der Silhouette ist für Lavater der emphatisch beschworene Triumph über Täuschung und Künstlichkeit erreicht. Doch der Weg bis zur Reduktion des Auges auf den »schnellen
Menschenblick«, der zugleich auch den Weg zur Kontrolle des Bildes
durch den Text darstellt, war, wie wir gesehen haben, ein langer. Seine
Umwege, die Überblendungen und Ausblendungen im Blickwechsel
zwischen Textualität und Bildlichkeit, geraten dem Genie nun aus dem
Blick. Das Einstudieren durch Wiederholung, das den Blick durch
Übung erst konstruierte, wohnt ihm als Wiederholungszwang inne;
und mit dem Zwang zur Wiederholung trägt der Physiognomiker den
Zwang zur Aus- und Überblendung im Auge.
IV. Die »Re-Auratisierung« der Gesichtsbilder in der
literarischen Physiognomik der Weimarer Zeit
Die Physiognomik der Weimarer Zeit (bzw. ihre literarischen Formen,
um die es hier geht) weist – wie schon Lavaters Physiogomik vor ihr –
Spuren medialer Umbrüche und kultureller Veränderungen auf. Die
neuerliche und veränderte Auseinandersetzung mit dem Gesicht in
Text und Bild gewinnt ihre Brisanz und Faszinationskraft auch hier
aus der Verknüpfung solcher kultureller Kontexte, die sich etwa in der
konservativen Ablehnung der massenmedialen Reproduktionsmedien,
der Fotografie und des Kino-Bildes, niederschlagen. Das »Gesicht«
zwischen sozialer und medialer »Vermassung« und (verlorener) auratischer Einzigartigkeit metaphorisiert politische und medienästhetische
Parteinahmen.
Der Umgang physiognomischer Schriften mit Texten und Bildern
lässt sich durch Parallelen zur Kunstkritik aufhellen. In einer Untersuchung über »Bildbeschreibung im kunstkritischen Werk Carl Einsteins«16 hat German Neundorfer von einer »paradoxen Re-Auratisierung des Kunstwerks in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit«17 gesprochen. Durch die Konkurrenz zwischen fotografischen
Reproduktionstechniken und älteren Drucktechniken wie Lithografie
oder Holzdruck kommt es nicht nur zu einem »Veralten« der letzteren;
15. Ebenda, S. 308.
16. German Neundorfer: »Kritik an Anschauung«. Bildbeschreibung im kunstkritischen Werk Carl Einsteins, Würzburg 2003.
17. Ebenda, S. 9.
197
Karsten Lichau
sie gewinnen im medialen Verbund des (Kunst-)Buches auch einen
neuen Wert als »authentische« Kunstwerke, »als medienästhetisches
Surplus, dessen Eigenwert erst durch die Konkurrenz zu fotografischen Reproduktionen zu konturieren war«.18
Die Aufwertung solcher bibliophiler Abbildungsteile bewirkt in der
weiteren Folge, dass Strategien der Re-Auratisierung nun auch auf
Zusammenstellungen fotografischer Bilder angewendet werden.19 Im
Zuge dieser Entwicklung tritt der Text in Distanz zum Bild. Er verschwindet – selten – ganz oder wird zum Präsentationskontext der
re-auratisierten fotografischen Abbildungen. Denn die Bilder mit ihrer
Kunst-Aura »verlangen nach einem Text, einem Kontext womöglich,
der [der] Auslösung aus dem hic et nunc der lokal gebundenen Präsentation in eine solche im Medium des Buchs nachkommt«.20 In diesem
Zusammenhang konstatiert Neundorfer eine veränderte Textur des
Buches: Dort, wo in seinen »kunstkritischen Publikationen ein Abbildungsteil als Korrelat dem Text zur Seite« steht, ist nämlich »das
merkwürdige Phänomen zu beobachten […], dass Einstein kaum einmal auf die beigesellten Abbildungen direkt eingeht«.21
Ebendieses »merkwürdige Phänomen« begegnet uns nun auch im
Bereich der literarischen Physiognomik. Max Picards 1929 im Münchner Delphin-Verlag erschienene Publikation Das Menschengesicht22
enthält 30 Gesichtsporträts. Sie umfasst fotografische Porträts ebenso
wie fotografische Abbildungen von gemalten Porträts, Zeichnungen,
Büsten und zwei Totenmasken; die Fotografien sind in unregelmäßigen Abständen über das Buch verteilt und bleiben im Textteil fast ausschließlich unkommentiert.23 Ein zweites wichtiges Werk, Rudolf
Kassners 1932 ebenfalls im Delphin-Verlag erschienene Physiognomik24
ist mit einem ähnlichen Abbildungsteil ausgestattet. Hier existieren
zwar – im hinteren Teil des Buches – einzelne Bezugnahmen auf die
18. Ebenda, S. 10.
19. Neundorfer erwähnt – neben Einstein – die gleichzeitige Verwendung
von Originaldrucken (Holzschnitten, Lithografien) und Fotografien in Kunst-Zeitschriften, etwa im Sturm, Ganymed und Kunstblatt, die das Buch zu einem »imaginären Museum« im Sinne Malraux’ machen. Vgl. ebenda, S. 13f.
20. Ebenda, S. 17.
21. Ebenda, S. 16.
22. Max Picard: Das Menschengesicht, München 1929.
23. In späteren Auflagen verändert Picard die Auswahl seiner Abbildungen
erheblich. Auch dies geschieht ohne jeglichen Kommentar – ein weiteres Indiz für
die Ablösung der Abbildungen von einem kommentierenden Text.
24. Rudolf Kassner: Physiognomik, München 1932. Im Folgenden abgekürzt
als PH.
198
Kunst des Ver-Gleichens
Abbildungen. Doch findet sich auch hier eine – v.a. sprachliche – Inszenierung der Text-Bild-Komposition (s.u.), die eine Isolation des Bildes vom Text betreibt. Die fotografischen Abbildungen wirken in beiden Werken dem Text enthoben; sie führen ein Eigenleben, das befremdlich anmutet und eine Re-Auratisierung der Gesichts-Bilder bewirkt. Dass diese merkwürdige Enthobenheit des Bildes aus dem Präsentationszusammenhang des Buches sich in der Physiognomik in
ähnlicher Weise wiederfindet wie in der Kunstkritik, ist kein Zufall.
Auch die Physiognomik befasst sich mit auratischen Objekten: Gesichter – ob dem Kunstwerk entnommen oder nicht – werden ja ebenfalls
»aus einem hic et nunc« ins Bild transportiert.25
Vorbildcharakter für die Bildpraktiken der literarischen Physiognomik kommt einem dritten Werk zu, das ebenfalls einen mit dem
Textteil merkwürdig unverbundenen Abbildungsteil bietet. Ernst Benkards Das ewige Antlitz26 von 1927 weist mehrere Textteile auf, die
jedoch alle in Distanz gegenüber der Sammlung fotografisch abgebildeter Totenmasken verharren. Der einleitende historische Abriss beschreibt lediglich die Verwendungszusammenhänge der Totenmasken.
Auf den umfangreichen Abbildungsteil in der Mitte des Buches, der
den Fotografien der 81 Totenmasken (und zehn Lebendmasken bzw.
Büsten) lediglich Name, Geburts- und Todesjahr beigibt, folgt ein Anmerkungsteil zu den einzelnen Tafeln. Doch auch dieser enthält jeweils nur einen kurzen biografischen Abriss und eine oft recht ausführliche Beschreibung der Umstände, unter denen die Totenmasken
angefertigt wurden.
Die Hervorhebung der Einmaligkeit der Masken-Fertigung und der
Vergänglichkeit der Gesichter lässt diese als jenseits der Abbildbarkeit
liegende, einzigartige und sterbliche Phänomene erscheinen. Die
Re-Auratisierung verläuft also auch hier über den Text. Insofern dieser
25. Dass das von der veränderten Text-Bild-Konstellation ausgelöste
Schreiben in Einsteins Kunstkritik andere Formen annimmt als in der literarischen
Physiognomik Kassners oder Picards, lässt sich u.a. auch auf die Verschiedenheit
dieser Objekte zurückführen (bzw. die Objektwahl auf unterschiedliche ästhetische Parteinahmen). Hier die »Übersetzung« der fragmentierenden Techniken der
künstlerischen Avantgarden in Einsteins aphoristisch-apodiktische Schreibweise,
dort das Ringen um Gestalt und Einheit (durch Einbildungskraft oder eine religiös
inspirierte kulturpessimistische Geschichtsphilosophie) in der Beschäftigung mit
dem »Gesicht«. Die Nähe von Physiognomik und Kunstkritik belegt auch die Beschäftigung Kassners und vor allem Picards mit der Kunst; Letzterer begann seine
literarische Karriere mit kunstkritischen Schriften.
26. Ernst Benkard: Das ewige Antlitz. Eine Sammlung von Totenmasken, Berlin 1927.
199
Karsten Lichau
das Bildmaterial jedoch nicht kommentierend zu beherrschen vorgibt,
sondern implizit auf die Unmöglichkeit verweist, Bilder sprachlich zu
fassen, treten die fotografischen Bilder aus dem Schatten des Textes.
Dass damit ein ähnliches Programm inszeniert wird wie in der Re-Auratisierung der kunstkritischen Publikationen, belegt auch das von
einem Künstler – dem Bildhauer Georg Kolbe – verfasste Geleitwort
über »Das Abnehmen von Totenmasken«.27
V. Die »Diaphanie des Wortkörpers« bei Rudolf Kassner
Die Kluft zwischen Abbildung und Text findet sich auch bei Rudolf
Kassner. Ihm gilt – und er distanziert sich dabei explizit von Lavater –
nur das »lebendige Gesicht« als Gegenstand einer möglichen Physiognomik: »Mein physiognomisches Sehen hatte sich bisher vornehmlich
an die Gesichter von lebenden, atmenden Menschen geheftet, denen
ich begegnet war oder die ich kannte, an lebendige Gesichter und lebendiges Fleisch.« (PH, S. 5) Dieses Sehen von »lebendigem Fleisch«
ist für Kassner Bewegung. Und indem er Bewegung zum Ausgangspunkt von Physiognomik macht, wird Kassners physiognomisches
Bemühen vorrangig ein Bemühen um Sprache, nicht um (fotografische) Abbilder: Er bedauert,
»daß man den lebendigen Menschen nicht mit sich herumführen kann, um an ihm
das, was in den Zügen seines Gesichtes zu sehen wäre, vor Wißbegierigen zu
demonstrieren, daß dieser also darum so, wie er ist: bewegt und allen Einflüssen
einer unaufhörlich auf ihn einwirkenden Umwelt unterworfen, nur zu mir ganz
deutlich die Sprache zu reden vermöchte, die ich zu vermitteln unternehme. Die
Photographie hilft nicht; zum mindesten ist die Hilfe von dort für den, der zu
sehen weiß und sehen will, eine geringe.« (PH, S. 5)
Die Bewegtheit des lebendigen Gesichts überträgt Kassner auf »das
Gesicht der Sprache oder das des Wortes« (PH, S. 87). Er wendet sich
gegen die aristotelische Physiognomik und Sprachauffassung, nach der
die Sprache das bezeichnete Ding imitiere. Dagegen setzt er den Begriff der »Diaphanie des Wortkörpers«. Seine in diesem Zusammenhang angeführten Beispiele für das »Wortgesicht« lassen sich als Hinweise auf die der Textoberfläche eigene Textur und Dynamik lesen,
deren Betonung Moritz Baßler als Kennzeichen der literarischen Mo-
27. Georg Kolbe: »Geleitwort von Georg Kolbe. Das Abnehmen von Totenmasken«, in: Benkard: Das ewige Antlitz (wie Anm. 26), S. XLI-XLIII.
200
Kunst des Ver-Gleichens
derne beschrieben hat.28 So schreibt Kassner etwa: »Zar ist aus Caesar
geworden und doch ist Zar Zar und Caesar Caesar. Wieviel mehr
Schwung oder das, was auf englisch sway heißt, in Caesar neben Zar,
das in sich zusammengezogen erscheint […]. Umgekehrt sind schlecht
und schlicht dasselbe Wort, doch jedes hat ein anderes Gesicht.« (PH,
S. 85, Hervorhebungen im Original) Kassner zieht eine Grenze zwischen den bewegten Gesichts- und Wortkörpern einerseits und dem
unbewegten Medium der Fotografie andererseits. Diese Verflechtung
von Sprachbewegung und Gesicht bei gleichzeitiger Absage an fotografische Sichtbarkeiten spiegelt auch sein berühmtes »Paradox jeder
Physiognomik [wieder], daß der Mensch nur so sei, wie er aussehe,
weil er nicht so aussieht, wie er ist«.29
Umso erstaunlicher ist es, dass Kassner das eigentlich inadäquate
Bildmedium der Fotografie dennoch in seiner Physiognomik verwendet.
Die von ihm gelieferte Begründung jedenfalls mag kaum zu überzeugen angesichts der eben dargestellten Privilegierung von Sprache und
lebendigem, bewegtem Menschen: »Um aber diesmal die Beweise denen, die solche von mir verlangen und sie bisher in der Eindringlichkeit meiner Sprache nicht zu finden verstanden haben, nicht schuldig
zu bleiben« (PH, S. 5f.), werde er diesmal Bilder beilegen. Der Tonfall,
in dem er auf die Eindringlichkeit seiner Sprache hinweist, unterläuft
seine eigene Aussage. Er erinnert damit auffallend an Lavaters pädagogische Hierarchie von Unverständigem und eingeweihtem »Kenner«,
der das Medium »durchschaut«, weil er ihm unterworfen ist.
Der Eigenwert der literarischen Oberfläche und Textur nötigt zu einem Schreiben, das Umweg ist. Physiognomik und Literatur sind dem
Beharren der Körper- und Textoberflächen gegenüber dem durchschauenden Blick ausgesetzt: »Wenn beim Menschen alles stimmte, so würde
es keine Physiognomik geben oder diese sich in keiner Weise von der
Morphologie oder Anatomie oder Physiologie unterscheiden.« (PH, S.
81) Weil aber nicht alles stimmt und »der Mensch […] erst auf einem
Umweg so aussieht, wie er ist« (PH, S. 81), bleibt dem literarischen Text
der direkte Zugriff auf Menschenkörper und Bilder verwehrt.
Wo bei Lavater der textgeleitete Blick zum Detail führte, das dem
Blick in Fixiertheit dargeboten wird, das abbildbar und als Fragment
beobachtbar ist, geht es bei Kassner ums Ganze, um die Gestalt, die in
Bewegung und nicht fixier- oder abbildbar ist; der Umweg, der dem
physiognomischen Blick hier angewiesen wird, führt über die Einbil28. Vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der
Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994.
29. Rudolf Kassner: Zahl und Gesicht. Nebst einer Einleitung: Der Umriß einer universalen Physiognomik, Frankfurt am Main 1979 [1919 (1)], S. 16.
201
Karsten Lichau
dungskraft. Die »Diaphanie des Wortgesichts« verdankt sich der Einbildungskraft, dem Vermögen, »Bildlichkeiten« durch Projektion zu
entwerfen: »Einbildungskraft heißt, daß zum Gesicht der Seher dazugehört.« (PH, S. 116)
Das Verhältnis von Text und Bild in der literarischen Physiognomik
der Weimarer Zeit ist also nicht mehr durch die deiktische Geste vom
Text zum Bild (Lavaters »sieh … !«) bestimmt. Im Verhältnis zwischen
dem Text und den merkwürdig unkommentierten und in einer eigenartigen Schwebe bleibenden Abbildungen manifestiert sich eine mediale
Kluft. Bilder besitzen – trotz oder gerade wegen der geringen Beweiskraft, die ihnen zugestanden wird – einen Eigenwert und bieten so die
»Möglichkeit zu einer immer neu sich gestaltenden Verschriftlichung, die aus dem
mit ihr sich erst ereignenden Konstrukt von Bildlichkeit den stets labilen, weil
alogischen Duktus einer Ästhetisierung gewinnt, welche Bildlichkeit ausblendet
und überschreibt, um in dieser Überschreibung Bildlichkeit neu, da medial verschoben, zu konturieren«.30
Resümee
Kehren wir noch einmal zu Bynums Kategorie des Wechsels zurück, so
lässt sich ihre Unterscheidung von metamorphotischer und hybrider
Verwandlung auf die Blickwechsel zwischen Text und Bild übertragen.
Bei Lavater wird der Blick in einer ständig wiederholten deiktischen
Geste vom Text zum Bild geführt. Die Strategien der Inszenierung von
Text und Bild konstruieren dabei eine bruchlose Sphäre der Vergleichbarkeit, indem sie Elemente der Bildlichkeit (Ekphrasis, Vorstellungsbilder) in den Text und textuelle Praktiken (Bildung von Serien, Differenzierung) in die Abbilder einführen: ein metamorphotisches Konzept
der Mischung und der Übergänge, in dem es keine radikale NichtIdentität gibt – eine »world of flux and transformation, encountered
through story«.31
In der literarischen Physiognomik der Weimarer Zeit dagegen
stehen die Bilder dem Text als eigenständige Sphäre gegenüber, NichtIdentität und Paradoxalität werden – auch performativ – hervorgehoben: ein hybrides Konzept medialer Arrangements. Text- und Bildteil
machen das Buch zu einem »double being […]. It is inherently two. Its
contraries are simultaneous, hence dialogic.«32
30. Neundorfer: »Kritik an Anschauung« (wie Anm. 16), S. 18.
31. Bynum: Metamorphosis and Identity (wie Anm. 2), S. 30.
32. Ebenda, S. 30.
202
Lichtmetaphysik und Fotografie
Lichtmetaphysik und Fotografie.
Zu einem Essay von Georges Didi-Huberman
Wiebke-Marie Stock
Das »und« des Titels bringt zusammen, was zwar im Moment des
Lichts eine gewisse Verwandtschaft zu erkennen gibt, ansonsten aber
so entfernt zu sein scheint, dass man darin eher ein surrealistisches
Spiel als eine ernsthafte philosophische Fragestellung vermutet. »Der
Erfinder des Wortes ›photographieren‹«1 ist der Titel eines Essays
des französischen Philosophen und Kunsthistorikers Georges DidiHuberman2, in dem Lichtmetaphysik und Fotografie jedoch auf eine
Weise aufeinandertreffen, dass philosophischer Reflexion darin ein
Licht aufgehen kann. Wie in vielen anderen seiner Texte bewegt sich
Didi-Huberman auch in diesem Text im Feld zwischen Literatur und
Wissenschaft.3
1. Georges Didi-Huberman: »Celui qui inventa le verbe ›photographier‹«,
in: Ders.: Phasmes. Essais sur l’apparition, Paris 1998, S. 49-56. Deutsche Übersetzung: »Der Erfinder des Wortes ›photographieren‹«, in: Ders.: Phasmes, übers.
v. Christoph Hollender, Köln 2001, S. 55-63. Erste deutsche Übersetzung: »Jener, der das Verb ›fotografieren‹ erfand«, in: Hubertus von Amelunxen (Hg.):
Theorie der Photographie IV. 1980-1995, München 2000, S. 398-405.
2. Georges Didi-Huberman lehrt in Paris an der École des Hautes Études
en Sciences Sociales (EHESS). In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat er
durch zahlreiche Publikationen der Kunstgeschichte und Philosophie neue Perspektiven eröffnet, vor allem was Fragen der Bildtheorie und des Blicks angeht.
3. Der hier publizierte Vortrag stützt sich auf die weitergehende Untersuchung von Wiebke-Marie Stock: Geschichte des Blicks. Zu Texten von Georges
Didi-Huberman, Berlin 2004, insbesondere auf Kap. I (S. 16-41) zu dem hier
behandelten Text von Didi-Huberman und auf Kap. IV (S. 87-105) zur Methode.
203
Wiebke-Marie Stock
Mystische Fotografie
»Der Erfinder des Wortes ›photographieren‹ lebte in einer unerträglichen Hitze
an einem Berghang des Sinai. […] Er begnügte sich damit, nur zu sein – in dem
unmenschlichen Lichte zu sein. […] Vielleicht stellte er sich vor, daß er mit der
glühenden Luft auch die Substanz dessen einsog, was er murmelte. Vielleicht
stellte er sich vor, daß er das Licht des Ortes aß«4
– mit diesen Worten beginnt Didi-Huberman seinen Text. Die
Hauptperson wird vorgestellt als ein Einsiedler und Asket am Berg Sinai. Um sich zu inspirieren, flicht er Zweige, murmelt immer wieder
einen Satz, atmet er bewusst. Er kämpft gegen ablenkende Gedanken
und strebt nach dem Licht. Nur wenig ist über ihn bekannt, sein Name
– Philotheos Sinaita –, der Ort, an dem er lebte, sehr vage nur die Zeit,
in der er gelebt hat: zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert.5 Er gehört einer mystisch-asketischen Strömung an, dem Hesychasmus, der
im östlichen Mönchtum über Jahrhunderte weit verbreitet war. Sicher
weiß man von ihm nur, dass er eine kleine Schrift verfasst hat, die
vierzig Kapitel über die Nüchternheit, die einen kleinen Teil in der großen Sammlung der Philokalie ausmachen, einer Textsammlung des
ausgehenden 18. Jahrhunderts.6
In diesen vierzig Kapiteln über die Nüchternheit taucht an einer Stelle das Wort φωτεινογραφεσθαι (phôteinographeisthai) auf (Abb. 1). In
deutscher Übersetzung heißt es an dieser Stelle:
4. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 55.
5. Vgl. A. Solignac: »Philothée«, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique
et mystique. Doctrine et histoire, 17 Bde., Paris 1937-1995, Bd. XII/1, S. 13861389, hier S. 1386; vgl. schon die sehr kurze Biografie des Philotheos in der
Philokalie, die zwar seinen Namen und Ort kennt, aber kein Datum, Philotheos ho
Sinaitês: Philokalia tôn hierôn nêptikôn, Bd. 2, Athen 1958, S. 273; The Philokalia, hrsg. von G.E. Palmer u.a., Bd. 3, London 1984, S. 15.
6. Philotheos: »Neptika Kephalaia«, in: Ders.: Philokalia (wie Anm. 5),
S. 272-286; Ders.: »Forty Texts on Watchfulness«, in: Ders.: The Philokalia, hrsg.
von G.E. Palmer u.a., Bd. 3, London 1984, S. 15-31; Ders.: »Quarante chapitres
sur la Sobriété«, in: Ders.: Petite Philocalie de la prière du cœur, übers. und
eingeleitet von J. Gouillard (1953), Paris 1979 (Auschnitte); Ders.: »Vierzig
Kapitel über die Nüchternheit«, in: Ders.: Kleine Philokalie zum Gebet des Herzens, hrsg. von J. Gouillard, übers. aus dem Französischen von J. Schwarzenbach, Zürich 1957, S. 114-122 (Ausschnitte).
204
Lichtmetaphysik und Fotografie
»Bewahren wir zu jeder Stunde und in jedem Augenblick eifersüchtig unser Herz
vor den Gedanken, die den Spiegel der Seele verfinstern. Denn die Seele ist von
Natur aus bestimmt, die Züge und den lichterfüllten Eindruck (phôteinographeisthai) Jesu Christi zu empfangen.«7
Abbildung 1: Philotheos ho Sinaitês: Neptika Kephalaia
Über diesen Erfinder der »mystischen Photographie«, von dem fast
nichts bekannt ist, schreibt Didi-Huberman eine Geschichte, die
Geschichte der Erfindung dieses Wortes.
Erleuchtung
Die Taufe und die mystische Erfahrung im Licht hebt Didi-Huberman
in seinem Text als die zentralen Momente in Philotheos’ Leben hervor.
Die Taufe ist Anfangspunkt eines Lebensweges, der auf Nachahmung
Christi, auf Verähnlichung mit Christus ausgerichtet ist. Sie ist Erleuchtung – was sich auch darin widerspiegelt, dass neben der üblichen Bezeichnung τ β πτισµα (to baptisma) auch die Bezeichnung
φωτισµς (phôtismos) – Erleuchtung oder im Lateinischen illuminatio –
verbreitet war. Die Taufe im Wasser ist somit die erste Erleuchtung, die
erste Offenbarung, die vorgibt, wonach der streben muss, der vollkommene Erleuchtung sucht.
7. Kleine Philokalie (wie Anm. 6), X, § 23. Vgl. die Übersetzung von J.
Lemaître: »Contemplation chez les orientaux chrétiens«, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique (wie Anm. 5), S. 1872-1885, hier S. 1854: »Gardons
de toute notre attention à toute heure notre cœur des pensées qui ternissent le
miroir psychique dans lequel a coutume de s’empreindre et de se photographier
(φωτεινογραφεσθαι) Jésus-Christ, sagesse et puissance de Dieu.« Im griechischen Original heißt es: »τηρσωµεν κ λογισµν χλυο#ντων τ ψυχικν
$σοπτρον, ν %
& δ( τυποσθαι κα) φωτεινογραφεσθαι *Ιησος Χριστς
π.φυκεν«, Philokalia (wie Anm. 5), S. 282.
205
Wiebke-Marie Stock
»[I]n der ockerfarbenen Wüste am Hang des Horeb vollendete er unablässig das
reinigende Taufbad durch ein Bad im Feuer, wiederholte er die Atemlosigkeit
während des einstigen Untertauchens im kalten Wasser durch die glühenden
Exzesse seines Atems.«8
Die Erleuchtung oder Offenbarung, die Philotheos in seiner Taufe
erfährt, ist die Offenbarung dessen, was er »in seinem innersten Wesen sei. […] to kat’eikona, das heißt: nach dem Bilde sein.«9
Der Mensch ist – so der Schöpfungsbericht (Genesis 1, 27) – nach
dem Bilde Gottes geschaffen, »ad imaginem Dei«, was hier, ganz
anders als üblich, nicht als praktisch-ethische Nachfolge verstanden
wird, sondern, so könnte man sagen, als praktisch-ästhetische.
Philotheos ist, schreibt Didi-Huberman, »von dem Wunsch geleitet, sich selbst in ein Bild zu verwandeln«, in »ein durchscheinendes
Bild«.10 »Stellte sich vor, ein Bild zu werden, indem er sich dem Licht
aussetzte. Der einzige Weg, so dachte er, um zu sehen und selbst
gesehen zu werden von dem, was er ›Gott‹ nannte.«11 Und um dies
zu erreichen setzt er sich dem Licht aus, dem gleißenden Sonnenlicht,
in dem er lebt. Ein Bild entsteht durch Licht – dies ist die hier implizierte Voraussetzung. Zum einen stellt das einen Vorgriff auf das
»photographieren« dar, das schließlich ein Einschreiben mit Licht ist.
Zum anderen hat das Licht hier aber noch eine weitere, tiefere Bedeutung: Gott ist Licht. Bild Gottes zu werden, heißt dann, sich dem Licht
Gottes anzunähern. Die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist hier sehr wörtlich verstanden. Zwischen dem sinnlichen
Licht und dem wahren Licht besteht eine Verbindung; sich dem Licht
der Sonne auszusetzen, bedeutet dann schon eine erste Annäherung
an Gott.
Siegel des Lichtes (φωτεινογραφε σθαι)
»Er spürte seinen Körper und das Innere seines Körpers, als wäre es ein Tropfen
blutroten Wachses, in den sich ein Siegel eindrückte. Dort in mir, dachte er,
schreibt Gott durch das Licht sich ein, phôteinographeistai, ›photographiert‹ sich.
Und es ist dort, dachte er zugleich, daß ich ihn sehe. […] In diesem Moment
schien ihm unter der Gewalt des Lichtes Rauch aus seinem Körper auszuströmen,
weil er von diesem Licht ›photographiert‹ war, das Siegel des Lichts sich in
8. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 57.
9. Ebenda.
10. Ebenda, S. 58.
11. Ebenda, S. 57.
206
Lichtmetaphysik und Fotografie
seinem Inneren eingedrückt hatte, und er selbst das Licht wurde, das er von
Angesicht zu Angesicht geschaut hatte.«12
In der schon zitierten Textpassage aus den Texten des Philotheos ist
davon die Rede, dass die Seele »von Natur aus bestimmt« sei, »die
Züge und den lichterfüllten Eindruck Jesu Christi zu empfangen«.13
In der französischen Übersetzung ist von »s’empreindre et de se
photographier« die Rede.14 Im griechischen Original wird dort von
»τυποσθαι« (typousthai) gesprochen. »τυπω« (typoô) heißt »bilden,
gestalten, formen«, das Passiv »einen Eindruck empfangen«, das Medium somit »sich einprägen«. Das zugehörige Substantiv »τ#πος«
(typos) bedeutet »Abdruck, Bildwerk, Gepräge, Umriss, Vorbild«. Die
Vorstellung eines Siegels, das sich in Siegellack einprägt, liegt nahe.
Prägt sich das Siegel im Inneren eines Menschen ein, so ist es zwar
kein Siegellack, aber rot, blutrot ist dieses Innere, blutrot (auf französisch sanglant) wie der Siegellack. Ein bleibendes Zeichen im Inneren,
dauerhaft wie ein Siegel; wer dies erfährt, ist bezeichnet, geprägt mit
dem Zeichen Gottes.
Das Wort φωτεινογραφεσθαι (phôteinographeisthai) ist gebildet
aus den beiden Bestandteilen φς (phôs, Licht), bzw. φωτεινς (phôteinos, licht, hell) und γραφεσθαι (grapheisthai, sich einschreiben), es
ist grammatikalisch ein Medium15 und bedeutet demnach wörtlich
»sich einschreiben mit Licht« oder »sich lichtvoll einschreiben«.
Wie in diesem Zitat deutlich wird, gehören Gotteserkenntnis und
Verähnlichung an Gott zusammen; das Licht sehen und Licht werden
sind eins. »All das folgt einem sehr alten Glauben, der lehrt, daß nur
das Gleichartige ein Gleichartiges wirklich sieht, wirklich liebt und
erkennt.«16
Die Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche hat eine lange
Tradition und spielt insbesondere im neuplatonischen Milieu eine
12. Ebenda, S. 60. Vgl. Ders.: Celui (wie Anm. 1), S. 54: »Il ressentait son
corps et l’intérieur de son corps semblables à une flaque sanglante que vient
frapper un sceau.«
13. Kleine Philokalie (wie Anm. 6), X, § 23.
14. Lemaître: Contemplation (wie Anm. 7), S. 1854.
15. Das Griechische kennt neben Aktiv und Passiv noch das Genus Verbi
»Medium«, das eine unmittelbare Beteiligung des Subjekts zum Ausdruck bringt.
Im Deutschen ist es häufig reflexiv zu übersetzen.
16. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 61.
207
Wiebke-Marie Stock
zentrale Rolle.17 Die bekannteste Formulierung – vielen vielleicht
durch Goethe bekannt – steht bei Plotin:
»Man muß nämlich das Sehende dem Gesehenen verwandt und ähnlich machen,
wenn man sich auf die Schau richtet; kein Auge könnte je die Sonne sehen, wäre
es nicht sonnenhaft; so sieht auch keine Seele das Schöne, welche nicht schön
geworden ist. Es werde also einer zuerst ganz gottähnlich und ganz schön, wer
Gott und das Schöne schauen will.«18
Folgt man diesem alten Glauben, so kann nur der das Licht sehen, der
dem Licht gleichartig ist. In schönster Erzählkunst spricht der Erzähler
der Geschichte vom »Erfinder« hier den Leser direkt an:
»Du weißt das Licht nicht zu sehen, weil du selbst nicht aus Licht bist. Aber
wenn eines Tages das Licht dich im Innersten trifft, dich ›photographiert‹, so
daß du es sehen kannst, dann wisse, daß du selbst das Element und der Gegenstand deines Blicks geworden bist, wisse, daß du das Licht geworden bist, in das
du schaust.«19
17. Zum Prinzip des Gleichen in der Vorsokratik bei Parmenides, Empedokles, Anaxagoras u.a. vgl. C.W. Müller: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden 1965. Auch bei Aristoteles findet sich diese Idee,
vgl. Nikomachische Ethik, griechisch-deutsch, übers. von O. Gigon, neu hrsg. von
R. Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001, 1139 a 10.
18. Plotin: »Das Schöne«, in: Plotins Schriften, griechisch-deutsch, übers.
von Richard Harder, Bd. I, Hamburg, 1956, I, 6, (1), 9, 29-34. Dieses Zitat von
Plotin ist insbesondere durch Goethe bekannt: »Hierbei erinnern wir uns der
alten ionischen Schule, welche mit so großer Bedeutsamkeit immer wiederholte,
nur von Gleichem werde Gleiches erkannt, wie auch der Worte eines alten Mystikers, die wir in deutschen Reimen folgendermaßen ausdrücken möchten:
Wär nicht das Auge sonnenhaft,/Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,/Wie könnt uns Göttliches entzücken?«,
in: Johann Wolfgang von Goethe: »Entwurf einer Farbenlehre«, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. XIII, Hamburg 1955, S. 322-523, hier
S. 324; vgl. Ders.: »Die weltanschaulichen Gedichte«, in: Ebenda, Bd. I, Hamburg
1948, S. 367:
»Wär nicht das Auge sonnenhaft,/Die Sonne könnt’ es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,/Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?«
19. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 61. Vgl. Ders.: Celui (wie
Anm. 1), S. 54: »[A]lors sache que tu es devenu l’élément et l’objet de ta vision,
sache que tu es devenu la lumière que tu contemple.«
208
Lichtmetaphysik und Fotografie
Wer das Licht sehen will, muss dem Licht gleichartig werden.20 Dies
kann er nicht von sich aus, er muss warten, bis sich das Licht ihm
einschreibt (fotografiert) und ihn somit lichtähnlich macht. Die Fotografie durch das Licht transformiert denjenigen, dem sie widerfährt,
sie macht ihn zu Licht. Dann kann er erkennen, was er zugleich selbst
geworden ist. Eins sind Sehen, Gesehen-Werden und das Licht, Medium des Sehens. So wird derjenige, der schaut, zu dem, worin er schaut
und zu dem, was er schaut oder betrachtet (contemple). Didi-Huberman nennt dies eine »Askese des Sehens«:
»Es war die Anrufung einer Askese des Sehens, in der endlich die paradoxe
Äquivalenz von Sehen und Gesehen-Werden, das Verströmen des sehenden
Wesens im Moment des Sehens und die wechselseitige Verkörperung des Lichts
im Auge und des Auges im Licht erwachsen konnten.«21
Das Licht sei uns, schreibt Didi-Huberman, »incandescence et nuée« –
wörtlich »Glühen, Weißglut« und »dichte Wolke«. Das letztere Moment, das die deutsche Übersetzung unterschlägt, ist bedeutsam.
Denn beide Momente – Glühen und Wolke – stellen etwas dar, was
die Sicht unmöglich macht, was blendet und zum Nicht-Sehen führt.
In hesychastischer Tradition wurde hier an die »lichte Wolke« gedacht,
die die Jünger bei der Verklärung sehen (Mathäus 17, 5).22 Sehen wird
hier in seiner größten Steigerung, wenn es Sehen des höchsten Gegenstandes, des Lichtes nämlich, ist, zu Nicht-Sehen, weil das Licht
eine solche Kraft hat, dass es blind macht.
Bilder und Licht
Das Licht, das hier ersehnt wird, ist das »unermeßliche, formlose
Licht«.23 Es ist »Grundvoraussetzung aller Bilder«, und doch zugleich
auch »ihre Negation«.24
20. Vgl. Plotin: Das Schöne (wie Anm. 18), I, 6 [1], 9, 19: »[S]ondern bist
ganz und gar reines, wahres Licht.«
21. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 61.
22. Zur Verbindung von Licht und Wolke vgl. Lemaître: Contemplation (wie
Anm. 7), S. 1851: »[C]ette nuée est elle-même sans forme (/µορφος), ni figure
( σχµατος), luciforme, pleine de la gloire de Dieu; […] La ›nuée‹ vue par Syméon
n’est pas la nuée mosaïque, mais la gloire du Thabor.«
23. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 60. Vgl. Ders.: Celui (wie
Anm. 1), S. 53: »[L]a lumière sans mesure et sans forme.«
24. Ders.: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 61.
209
Wiebke-Marie Stock
Das Licht ist zum einen mit den Bildern in einer Ursprungsbeziehung verknüpft und zum anderen doch ganz jenseits der Bilder. Es ist
der Ursprung, von dem das ganze Seiende abhängt – in neuplatonischer Tradition ist die ganze Welt Abbild des Einen. Insofern gibt es
eine Verbindung zwischen den Bildern und dem, wovon sie Bild sind.
Zum anderen ist dieser Ursprung aber unerreichbar und jenseits, so
dass er allem Seienden entgegengesetzt erscheint.
»Negation« der Bilder ist das Licht, wenn sich in ihm alle Bilder
auflösen, alle Nebel vergehen, um dem Licht Raum zu geben. Zum
anderen ist das Licht selbst auch Bild, es ist »l’image dépeuplée,
l’image nue«25, das »entvölkerte«, das »nackte Bild«. Das hier verwandte Adjektiv »dépeuplé«, entvölkert, leer, ist auffällig. Philotheos
wird von Didi-Huberman nämlich nicht nur als »Bilderjäger«, sondern
auch als »Entvölkerer der Bilder«, ein »dépeupleur d’images«26 vorgestellt.27
Was aber genau tut ein dépeupleur – ein »Entvölkerer« der Bilder?
Zerstört er die Bilder, reinigt, leert er den Geist von den Bildern? Oder
reinigt und entvölkert er die Bilder selbst? Aber wovon? Was wären
»entvölkerte Bilder«? Didi-Hubermans Antwort auf diese Frage ist das
Licht, es ist »l’image dépeuplée«.28 Da die deutsche Übersetzung hier
von einem leeren Bild spricht, geht der Zusammenhang zwischen der
Bilderjagd und der Lichtwerdung verloren. Bilder müssen also entvölkert werden, gereinigt von ihrem Nebel, ihren Fantasien und Träumen, bis sie letztlich nur noch Licht sind. Dies ist möglich »in jenem
25. Ders.: Celui (wie Anm. 1), S. 53.
26. Ebenda. In der deutschen Übersetzung fehlt es; hier steht nur »Zerstörer der Bilder«, Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 60.
27. Das Wort dépeupleur, abgeleitet von dem Adjektiv dépeuplé, ist eine
Neuschöpfung Samuel Becketts nach einer Gedichtzeile Alphonse de Lamartines:
»Un seul être vous manque et tout est dépeuplé.«; vgl. H. Vestner: »Le dépeupleur«, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon Bd. II, München 1990, S. 376f., hier
S. 376. Becketts Prosatext Le dépeupleur beginnt mit dem folgenden Satz: »Séjour où des corps vont cherchant chacun son dépeupleur.« – »Eine Bleibe, wo
Körper immerzu suchen, jeder seinen Entvölkerer (Verwaiser).« Samuel Beckett:
Der Verwaiser/Le dépeupleur/The Lost Ones, Frankfurt am Main 1989, S. 7. »Eine
Bleibe, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen Verwaiser.« Da das deutsche
Entvölkerer dem französischen dépeupleur, das sich von dépeuplé, entvölkert,
ableitet, eher entspricht und im Kontext dieses Textes passender ist, wird hier
Entvölkerer übersetzt.
28. Didi-Huberman: Celui (wie Anm. 1), S. 53.
210
Lichtmetaphysik und Fotografie
Moment ohne Schatten, in dem alle Träume zerschmelzen und verdampfen«.29
Es ist »das ›formlose, gestaltlose‹ (amorphos, aschèmatistos)
Licht«30, gereinigt also von allen Formen und Gestalten, die alle Bilder
kennzeichnen, rein und leer. Eine Hommage an dieses Licht sind die
Zeilen aus Philotheos’ Schrift in der Philokalie, die Didi-Huberman
gegen Ende seines Textes zitiert.
»Es läßt sich mit einem Lichte vergleichen, das plötzlich hell aufleuchtet, sowie
man den dichten, bergenden Vorhang weggezogen hat. […] Wer dieses Licht
gekostet hat, versteht mich. Dieses einmal gekostete Licht foltert von nun an die
Seele in immer stärkerem Maße mit einem eigentlichen Hunger: die Seele ißt,
ohne jemals satt zu werden; je mehr sie ißt, um so größer wird ihr Hunger.
Dieses Licht, das den Geist anzieht wie die Sonne das Auge, dieses Licht, das in
seinem Wesen unerklärlich ist und sich dennoch erklärt, nicht durch Worte,
sondern durch die Erfahrung dessen, der es kostet oder der, besser gesagt, durch
das Licht verwundet wird – dieses Licht auferlegt mir Schweigen …«31
Die mystische Erfahrung im Licht in Worten genau wiederzugeben ist
unmöglich, und so ringt Philotheos um Worte, wo er mit Worten wie
Kosten, Hunger, Folter und Verwundung das anzudeuten versucht,
was er erfahren hat, diese Mischung von Genuss und Schmerz, die er
empfand. Bei dieser mystischen Erfahrung handelt es sich um etwas,
das sich der sprachlichen Darstellung entzieht und das nur andeutungsweise dem verständlich gemacht werden kann, der es selbst erfahren hat, oder, könnte man vielleicht hinzufügen, in geringerem
Maße auch dem, der bereit ist, seine Einbildungskraft spielen zu
lassen.
Letzteres versucht Didi-Huberman, indem er aus dem, was er über
Philotheos weiß, eine Geschichte komponiert, indem er die einzelnen
Elemente, Praktiken und Textpassagen, so zusammenfügt, dass sie ein
Gesamtbild ergeben; er erzählt sein Leben als eine Entwicklung, die
auf das Ereignis der Erleuchtung hin ausgerichtet ist. Wer den mühseligen Weg nicht berücksichtigt, den Philotheos geht, kann die Bedeutung der Erfahrung nicht ermessen. Deshalb genügt ein diskursiver
29. Didi-Huberman: Der Erfinder (wie Anm. 1), S. 60.
30. Ebenda, S. 61. Vgl. Ders.: Celui (wie Anm. 1), S. 54: »[L]a lumière
›sans forme ni figure‹ (amorphos, aschèmatistos).« Zu den beiden griechischen
Ausdrücken vgl. Lemaître: Contemplation (wie Anm. 7), S. 1851: »[C]ette nuée
est elle-même sans forme (/µορφος), ni figure ( σχµατος), luciforme, pleine de
la gloire de Dieu.«
31. Kleine Philokalie (wie Anm. 7), Kap. X, § 24.
211
Wiebke-Marie Stock
Text zur Lichtmetaphysik nicht, es bedarf einer Geschichte, die die
Mühsal dieses langen Strebens zusammen mit dem Ereignis der Erleuchtung erzählt.
Fotografie
Wer die Überschrift Der Erfinder des Wortes »photographieren« liest,
meint zu wissen, um wen es in diesem Text gehen wird, nämlich um
den, der irgendwann im 19. Jahrhundert die neuentwickelte Technik
der Bildherstellung mit einem neuen Wort bezeichnete.32 Dieser
Mensch aber ist nicht gemeint. Schon der erste Satz des Textes versetzt uns nicht in ein Fotolabor, sondern in die Hitze des Sinai. Es gab
dieses Wort schon, schon etwa 1000 Jahre bevor die Technik der Fotografie erfunden wurde. Es gab dieses Wort, aber nicht die Sache, die es
heute bezeichnet. Der Leser ist verunsichert und er bleibt es während
des ganzen Textes, da er immer weiter in die Wüste und das Denken
des Philotheos hineingeführt und zugleich immer wieder daran erinnert wird, dass es um den »Erfinder des Wortes ›photographieren‹«
geht.
Zum Moment der »Erfindung«33 des Wortes »photographieren«
wird in Didi-Hubermans Text die mystische Erfahrung des Philotheos
im Licht. Didi-Huberman wählt für diese Erfahrung, die in Worte
nicht vollends zu fassen ist, einen Ausdruck, der beim Philotheos der
Philokalie selbst keinen sehr prominenten Platz einnimmt. Im
Sprachhorizont des heutigen Lesers hat er aber eine prägnante Stellung. Die gängige, uns vertraute Bedeutung des Wortes »photographieren« scheint mit der mystischen Fotografie dieses Textes nichts zu
tun zu haben. Reproduzierbare Bilder stehen gegen eine »nicht-reproduzierbare« Erfahrung. Philotheos’ Bilderjagd, seine Ablehnung aller
störenden Gedanken und Bilder, seine Konzentration auf das Licht
allein stehen der Bildervielfalt der modernen Fotografie entgegen.
Aber die moderne Bezeichnung macht die mystische Erfahrung
auf seltsame Weise anschaulich: das Einschreiben des Lichtes, das
man sich auf einem Film vorstellen kann, wird übertragen auf die
32. Genauer gesagt müsste es um einen Gelehrten namens Herschel gehen, der in einem Vortrag im Jahre 1839 zuerst das Wort »photography« verwandte für die neu entwickelte Technik, Bilder herzustellen; vgl. »Photography«,
in: The Oxford English Dictionnary, Bd. 7, Oxford 1961, S. 796; vgl. »Photographie«, in: Duden. Das Herkunftswörterbuch, Bd. 7, Mannheim 1989, S. 528.
33. In Anm. 7 von Didi-Hubermans Text ist von der »Erfindung« (in Anführungszeichen!) die Rede.
212
Lichtmetaphysik und Fotografie
Seele des Menschen. Was diese mystische Erfahrung bedeuten könnte,
steht dem Leser plötzlich bildlich vor Augen.
Didi-Huberman öffnet, indem er auf das übliche theologische
Vokabular verzichtet, einen neuen Zugang zur Lichtmystik und -metaphysik, zu einer Denkweise, deren Sinn festzustehen schien. Die
spezifisch christliche Bedeutung des Ortes und des Lichts sind zwar in
Der Erfinder präsent, sie bleiben jedoch unausgesprochen oder werden
nur angedeutet. Auf diese Weise entsteht ein Text, der einem Leser,
der die historischen Hintergründe nicht kennt, einen freien Zugang
eröffnet und zugleich dem, der diese Hintergründe kennt, eine heutige Wahrnehmung dieser Tradition ermöglicht.
Jedoch enthält dieser Text mehr als einen neuen Blick auf eine alte
Tradition. So wie man diesen Text als hermeneutische Annäherung an
die Tradition lesen kann, so kann man ihn auch lesen als einen Beitrag
zur modernen Bildtheorie, genauer: zur Theorie der Fotografie. Der
Text Celui qui inventa le verbe »photographier« ist zuerst 1990 in einer
Zeitschrift für Fotografie erschienen, der Zeitschrift Antigone. Revue
littéraire de photographie, im Jahre 2000 dann in deutscher Übersetzung unter dem Titel Jener, der das Verb »fotografieren« erfand im von
Hubertus von Amelunxen herausgegebenen IV. Band des Sammelwerks Theorie der Photographie. Der Erfinder liefert, wie diese Publikationskontexte zu verstehen geben, Ideen für eine Theorie der Fotografie, er informiert nicht nur über die Herkunft dieses Wortes, sondern
reflektiert, was Fotografie ist, wie sie entsteht, was ihr Ziel sein könnte
und was ihr Verhältnis zum Licht. Sofern die Fotografie nur die Herstellung von reproduzierbaren Bildern mit Hilfe des Lichts ist, tritt ihr
als kritischer Gegenpol die »nicht-reproduzierbare Erfahrung« des
Philotheos gegenüber, der gegen alle Bilder, Fantasien und ablenkenden Gedanken kämpft und der nur nach der Auflösung aller Bilder im
Licht strebt. Dass es aber auch eine andere Fotografie gibt und dass
diese Fotografie Didi-Hubermans Interesse weckt, zeigt sich z.B. in
seinem Artikel »Superstition«.34 Dort wird eine Fotografie betrachtet,
die auf der rechten Seite statt einer dritten Person einen Lichtfleck
zeigt, etwas, »das Licht ist und doch kein Licht. Etwas, das strahlt und
doch nichts erhellt«.35 Dort, wo der Fotograf das Negativ geschwärzt
hat, erscheint in der Fotografie Licht. Statt zu erhellen, zerstört das
Licht die Form, vielleicht das Bild eines Kindes, das der Fotograf hier
auslöschte. In einer solchen Fotografie ist der technische Gebrauch
des Lichtes an eine Grenze getrieben, da das Licht nicht mehr der
34. Georges Didi-Huberman: »›Superstition‹«, in: Ders.: Phasmes (wie
Anm. 1), S. 64-71.
35. Ebenda, S. 67f.
213
Wiebke-Marie Stock
Bildherstellung, sondern der Auflösung des Bildes dient.36 Licht und
Bild geraten in einen Gegensatz, wie ihn in höchster Form der Erfinder des Wortes »photographieren« kennt.
Methode
In diesem einen Wort »photographieren« stoßen Vergangenheit und
Gegenwart aufeinander. Wie bei einer Metapher verursacht das Zusammentreffen zweier verwandter und doch gegensätzlicher Bedeutungen einen Schock. Hier treffen jedoch nicht zwei Worte mit ihren
Bedeutungen aufeinander, sondern ein Wort wird plötzlich zum
Treffpunkt zweier Bereiche. Während der eine, nämlich das technische Medium der Fotografie, dem heutigen Leser vertraut ist, muss die
zweite Bedeutung erst in der Geschichte erarbeitet werden. Vor dem
Hintergrund der vertrauten Bedeutung entwickelt Didi-Huberman
Schritt für Schritt den zweiten Aspekt, nämlich die mystische Erfahrung des Philotheos im Licht. Aus dieser Zusammenstellung zweier
unvereinbarer Bereiche ergibt sich für den Leser ein unerwarteter
Sinn. Die mystische Erfahrung erscheint im Licht dessen, was wir
heute von der Fotografie wissen, und die Vorgehensweise der Fotografie tritt in einen unvermuteten Bezug zu jenem alten Umgang mit
dem Licht.
In seinem Buch Vor einem Bild reflektiert Didi-Huberman diese
Herangehensweise, er spricht von der
»Fruchtbarkeit eines Zusammentreffens, durch die das Sehen der Vergangenheit
mit den Augen der Gegenwart uns helfen würde, eine Schwierigkeit zu überwinden und wörtlich in einen neuen, bis dahin unbemerkten Aspekt der Vergangenheit einzutauchen, […] den der neue Blick, nicht der naive oder unschuldige
Blick, plötzlich enthüllt hätte.«37
36. Dieses Moment der Fotografie scheint hingegen Roland Barthes in Die
helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, kaum zu
interessieren. In Bezug auf das Foto der Königin Victoria verliert er kein Wort
über jenen Lichtschein hinter den Personen (S. 67); auf das Licht geht er nur
ein, sofern eine Verbindung zum Referenten besteht, der es aussandte (S. 90f.).
37. »[L]a fécondité d’une rencontre par laquelle voir le passé avec les
yeux du présent nous aiderait à franchir un cap, et à littéralement plonger dans
un nouvel aspect du passé, jusque-là inaperçu, […] et que le regard neuf, je ne
dis pas naïf ou vierge, d’un coup aurait dévoilé.« Georges Didi-Huberman: Devant
l’image. Question posée aux fins d’une histoire de l’art, Paris 1990, S. 50f. (Übersetzung W.-M.S.); vgl. Ders.: Vor einem Bild, München/Wien 2000, S. 48.
214
Lichtmetaphysik und Fotografie
Manchmal kann erst der spätere Blick etwas hervortreten lassen, was
damals so nicht sichtbar sein konnte. Ein neuer Blick, kein unschuldiger, kann aus seinem besonderen Blickwinkel etwas hervortreten
lassen, was andere Blicke übersehen mussten. So springt das Wort
»photographieren« gerade dem heutigen Leser ins Auge, da er durch
das heutige Verständnis von Fotografie geprägt ist. Gerade dieser neue
Blick erlaubt jedoch eine neue, intensive Sicht auf die alte Lichtmystik.
Wer so klar und eindeutig die Ansicht vertritt, dass gerade ein
»neuer Blick« auf die historischen Gegenstände zu werfen ist, setzt
sich natürlich dem Vorwurf des Anachronismus aus. Mit dieser Frage
befasst sich Didi-Huberman u.a. in Devant le temps. Anachronismen,
die jeder Geschichtsschreibung innewohnen38, meidet er nicht, er
lässt sie vielmehr fruchtbar werden. Dass es sich dabei um ein riskantes Mittel handelt, ist ihm vollkommen bewusst, wenn er den Anachronismus als »wirkliches Pharmakon der Geschichte« bezeichnet, als
etwas, das bisweilen und in richtigen Dosen angewendet Heilmittel,
bisweilen aber auch Gift sein könne.39
Fragt man sich, welches Verständnis von Philosophie, von Erkenntnis und Wahrheit dieser Vorgehensweise zugrunde liegt, so ist
deutlich, dass es sich hier kaum um Aussagenwahrheit handeln kann.
Zusammenhänge, wie Didi-Huberman sie hier vorstellt, sind an vielen
Stellen dem »Risiko des Nicht-Nachweisbaren« ausgesetzt.40 Wenn
aber die Argumentation nicht an allen Stellen abgesichert werden
kann, stellt sich die Frage, wie der Wert einer solchen Untersuchung
zu beurteilen ist. An diesen Punkten könnte es die Evidenz sein, die
zum Wahrheitskriterium wird.
Das lateinische evidentia ist Ciceros »Übersetzung und Nachbildung des griechischen […] ν ργεια«41, die in der Stoa und im Epikureismus eine wichtige Rolle spielte.42 Das griechische enargeia, das
38. Vgl. Georges Didi-Huberman: Devant le temps. Histoire de l’art et anachronisme des images, Paris 2000, S. 13ff., S. 28ff., pass.
39. Ebenda, S. 32: »[O]n cherchera à distinguer dans l’anachronisme –
véritable pharmakon de l’histoire – ce qui est bon et ce qui est mauvais: l’anachronisme-poison contre quoi se protéger et l’anachronisme-remède à prescrire,
moyennant quelques précautions d’usage et quelques limitations de dosage.«
40. Didi-Huberman: Vor einem Bild (wie Anm. 37), S. 28.
41. W. Halbfass, K. Held: »Evidenz«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, begründet von J. Ritter, Darmstadt 1971ff., Bd. II, S. 829-834, hier
S. 829.
42. Vgl. J. Mittelstraß: »Evidenz«, in: Enzyclopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. von J. Mittelstraß, Bd. I, Mannheim/Wien/Zürich 1980,
215
Wiebke-Marie Stock
vorwiegend in Rhetorik und Philosophie verwandt wurde, bedeutet
Klarheit, Deutlichkeit. Konnotationen dieses Ausdrucks wie Glanz,
Schimmer, Silber43 zeigen, dass die enargeia das ist, was einleuchtet.
Die Evidenz leuchtet ein, sie ist »eine Einsicht ohne methodische
Vermittlungen«.44 Ihr Gegensatz ist »der Begriff der diskursiven bzw.
begrifflichen, d.h. der methodisch (durch Beweis, Erklärung etc.) fortschreitenden Erkenntnis«.45 Es handelt sich bei der Evidenz immer
um ein Ereignis, das ein subjektives Moment enthält, einmalig ist und
somit nicht allgemeingültig beweisbar. Zugleich ist es aber auch unwiderlegbar, und dies macht seine Stärke aus. In Devant l’image jedoch
spricht Didi-Huberman von der »évidence obscure«46 des Bildes, zu
der er in seiner Analyse immer wieder zurückkehrt. Eine dunkle Evidenz ist ein Paradox. Übernimmt man diese Konnotation des Begriffs
für das Verständnis von Evidenz in Didi-Hubermans Texten, erhält
man eine Form von Evidenz, die um ihren prekären Charakter weiß.
Am Schluss eines Textes von Didi-Huberman hat man zumeist
den Eindruck, viel mehr zu wissen, und dennoch ist der Gegenstand
ein weitaus größeres Rätsel geworden. »Mindert oder steigert Erkenntnis das Staunen? So kann die Schlüsselfrage für die Unterscheidung zweier epistemologischer Modelle lauten.«47 In der einen Tradition bildet das Staunen ausschließlich den Anfangspunkt der Erkenntnisbemühung, deren Ziel die athaumasia, die Staunenslosigkeit ist.
Neben dieser aristotelisch geprägten Tradition lässt sich jedoch eine
andere, platonische Tradition ausmachen.48 In dieser Tradition ist
nicht die Staunenslosigkeit Ziel des Erkenntnisstrebens, sondern die
»Steigerung des Staunens«.49 Das Staunen ist hier nicht nur Impuls
S. 609f., hier S. 609; Th. Schirren: »enargeia«, in: Wörterbuch der antiken Philosophie, hrsg. von Chr. Horn und Chr. Rapp, München 2001, S. 131f.
43. Vgl. ebenda, S. 131.
44. Mittelstraß: Evidenz (wie Anm. 42), S. 609; vgl. F. Gil: Traité de l’évidence, Grenoble 1993, S. 7.
45. Mittelstraß: Evidenz (wie Anm. 42), S. 609.
46. Didi-Huberman: Devant l’image (wie Anm. 37), S. 9, vgl. S. 26.
47. S. Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse,
Tübingen 1991, S. 22.
48. In der platonischen Tradition stehen auch Plotin und einige mittelalterliche Theologen, während ein anderer Teil der aristotelischen Überwindung
des Staunens zuneigte. Vgl. ebenda, S. 46ff. und S. 58ff.
49. Ebenda, S. 20. Es handelt sich bei Platon um den »Zustand dessen, der
am Gipfel philosophischer Einsicht die Ideen zu schauen vermag«, vgl. ebenda,
S. 20f. Vgl. Platon: Phaidros 250a, in: Ders.: Werke, übers. von Fr. Schleiermacher, Bd. 5, Darmstadt 1990.
216
Lichtmetaphysik und Fotografie
zur Philosophie wie in der aristotelischen Tradition, es wird nicht
durch die Erkenntnis aufgelöst. Das Wissen steigert vielmehr das
Staunen. Mehr zu wissen und noch überraschter und faszinierter vor
dem Gegenstand zu stehen, kennzeichnet diese Erkenntnisform. DidiHuberman wird man wohl dieser platonischen Tradition zuordnen.
Obwohl man in seinen Texte zahlreiche Erkenntnisse gewinnt, so hat
man doch zum Schluss eines seiner Texte nie den Eindruck, man sei
dieses Gegenstandes nun habhaft geworden. Vielmehr erscheint er als
ein noch größeres Rätsel, und das Staunen ist größer als zuvor.
217
Menschen-Bilder
Menschen-Bilder.
Zum Vergleich einer Spezies mit sich selbst 1
Jörn Ahrens
I.
Die humanwissenschaftliche Debatte um die modernen Biowissenschaften war in den letzten Jahren maßgeblich geprägt durch eine
ebenso konträre wie diffuse Diskussion um so genannte Embryonen –
so genannte Embryonen, weil sie sich vom landläufigen Verständnis
des Embryos genuin unterscheiden. Im Allgemeinen wird mit dem
Embryo die noch junge Leibesfrucht im Uterus der Schwangeren assoziiert, die sich später zum Fetus entwickelt, der bereits humane Züge
aufweist. Bezogen auf biowissenschaftliche, vor allem auch bioethische
Fragestellungen sind mit dem Begriff »Embryo« jedoch mehrzellige
Gebilde im Stadium zwischen Befruchtung und der Einnistung in den
Uterus gemeint. Bei ihnen setzt sowohl die breit diskutierte Stammzellforschung an als auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) oder
Klonierungsszenarien. Das im Juni 2002 verabschiedete Stammzellgesetz (StZG) wiederum erklärt, anknüpfend an diese Definitionspraxis,
in § 1 zu seinem Zweck, »die Menschenwürde und das Recht auf Leben
zu achten und zu schützen«.2 Mit der hier verhandelten Menschen-
1. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre Unterstützung meiner Arbeit.
2. Das StZG stellt eine Ergänzung des im Dezember 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetzes dar (ESchG). Dort wird der auch im StZG wirksame
Rechtsbegriff des Embryos erstmalig zugrunde gelegt (§ 8 Abs. 1): »Als Embryo
im Sinne des Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo
entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen
weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln ver-
219
Jörn Ahrens
würde ist keine andere als die des Embryos gemeint. Als Embryo im
Sinne des Gesetzes gilt »jede menschliche totipotente Zelle, die sich
bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu
teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«.3 (Abb. 1)
Der solchermaßen unter Grundrechtsschutz stehende »Embryo« darf
als in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen gelten. Aus medizinischer Sicht allerdings handelt es sich in diesem Stadium noch gar
nicht um Embryonen. Der »Embryo« bezeichnet also eine begrifflich
wie als Phänomen unscharfe, sogar diffuse Entität. Um eine eindeutigere Bezeichnung des Gegenstandes zu erreichen und außerdem Abstand von der jeweils normativen Dimension des Begriffs »Embryo« zu
gewinnen, möchte ich im Folgenden stattdessen den Begriff frühembryonale Lebensform verwenden.
Abbildung 1: Frühembryonale Lebensform (Mehrzeller)
mag.« Allerdings ist das ESchG mittlerweile gewissermaßen technisch veraltet;
auf Problemlagen wie die Stammzellforschung greift es gar nicht zu, auf solche
wie die Präimplantationsdiagnostik nur bedingt. Das macht entweder seine beständige Modifikation nötig oder erfordert die Verabschiedung von Ergänzungsgesetzen wie dem StZG, das seinerzeit deshalb auch ausdrücklich als Übergangsgesetz deklariert wurde. Bzgl. des Embryos heißt es dort, als ein solcher gelte
»bereits jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu
entwickeln vermag.« § 3 Abs. 4.
3. StZG: § 3, Abs. 4.
220
Menschen-Bilder
Schon mit der Wahl dieses Terminus sollte deutlich werden, dass ein
zentrales Problem der in diesem Aufsatz analysierten Debatte in der
Verknüpfung von Begriffen und Entitäten liegt, die nicht notwendig
deckungsgleich sind. Zwischen dem menschlichen Embryo im frühembryonalen Stadium und dem kulturanthropologisch identifizierbaren Menschen eine klare Konstante herzustellen und diese in ethischer
und politischer Absicht als Argument einzusetzen, mag zunächst unmittelbar einleuchtend erscheinen, ist aber sowohl anthropologisch als
auch historisch keineswegs selbstverständlich. Der folgende Aufsatz
handelt von den kulturellen Verfahren des Analogisierens und Identifizierens in Hinblick auf die anthropologische Zuordnung frühembryonaler Lebensformen, wobei sein Interesse sich primär auf die verbleibenden Lücken und Differenzen in den in Anschlag gebrachten Definitionen des Menschen richtet. Bei der Analogisierung von »Mensch«
und frühembryonaler Lebensform handelt es sich, so gesehen, um
einen Vergleich von »Äpfeln und Birnen«.
Die Aufnahme frühembryonaler Lebensformen in den Kontext des
Grundrechtsschutzes versteht sich nicht von selbst. Erst der gemeinsame Zugriff von Legislative, Jurisprudenz und Ethik etikettiert jene
Entitäten aus dem Zwischenreich von Mensch und Nicht-Mensch als
»Embryonen«; mit dem Effekt, dass sie sich signifikant verwandeln.
Aus lebendigen Dingen, die sich im Prozess einer kontinuierlichen
Entwicklung erst zum menschlichen Embryo und Fetus, dann zum
Menschen befinden, werden Personen, ausgestattet mit den Insignien
von Rechtsschutz und menschlicher Würde. Ein solches Verwandlungsgeschehen verweist auf zweierlei: zunächst auf die äußerst arbiträre Liminalität des Menschen, obwohl eine solche offenbar zur Definition des Menschen gehört; sodann darauf, dass das ethische Argument einer unzulässigen Auflösung der Grenzen des Menschen (oder
des Menschlichen) mindestens problematisch ist. Dieses Verwandlungsgeschehen möchte ich nachfolgend illustrieren. Dabei stütze ich
mich vorrangig auf die Plenardebatte des Deutschen Bundestages vom
31. Mai 2001, gehalten anlässlich der Einsetzung der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin. Ergänzend werde ich auf
später entstandene Unterlagen der Kommission sowie auf die juristische Diskussion zum Thema zurückgreifen.
In einem der ersten Redebeiträge der Bundestagsdebatte heißt es:
»Der Embryo ist menschliches Leben und nichts anderes. Es gilt, dieses menschliche Leben zu schützen und seine menschliche Würde zu
wahren.«4 Die Rednerin eröffnet eine begriffliche Assoziationskette,
4. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/173, Stenographischer Bericht, 173. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001, Maria Böhmer (CDU/
221
Jörn Ahrens
an deren Beginn der Embryo steht, der als »menschliches Leben«
angeschrieben wird, welches wiederum Würde, also ethische Dignität,
genieße. Auffällig an dieser Aufreihung ist die Leerstelle im Zentrum.
Denn vom »Menschen« ist nicht die Rede, lediglich vom »menschlichen Leben«. Offen bleibt, ob hier eine Differenz in Anschlag gebracht
werden muss, oder ob man von einer analogen Bedeutung ausgehen
kann. Sofern letzteres nicht oder nicht ohne weiteres möglich ist,
kommt man in die Verlegenheit, bloße Formen »menschlichen Lebens« am »Menschen« messen zu müssen. Die Biochemikerin Christine Nüsslein-Volhard hebt diesen Unterschied deshalb energisch
hervor. Sie insistiert darauf, dass erst mit der Einnistung in den Uterus
»das Programm zur Menschwerdung vollständig« sei. Erst mit der
Geburt werde aus dem werdenden Mensch ein realer Mensch im Sinne
eines »selbständigen Organismus, der atmet und nun einen eigenen
unabhängigen Stoffwechsel hat. […] Dann ist der Mensch ein Mensch.
Und da sind sich wirklich alle einig.«5 Auch das Grundgesetz spricht
vom Menschen, der Würde besitzt, nicht vom menschlichen Leben.
Innerhalb der Diskussion um die Legitimität der Biowissenschaften ist
der Begriff der menschlichen Würde von zentraler Bedeutung, weil er
durch Art. 1(1) Grundgesetz Verfassungsrang erlangt und Rechtskraft
entfaltet hat. Menschliche Würde meint daher nicht nur ein ethisches
Prinzip, das philosophiegeschichtlich und kulturell diese oder jene
guten Gründe für sich geltend machen kann; es handelt sich vielmehr
um ein ethisches apriori im Verfassungsrang.
Menschliche Würde darf als der leitende Topos der deutschen
Verfassung schlechthin gelten. In seiner wegweisenden Untersuchung
zum Grundrechtssatz von der Menschenwürde hat der Staatsrechtler
Günter Dürig hervorgehoben,
»der sittliche Anspruch auf Achtung der Menschenwürde [sei] gegenüber politischen und rechtlichen Eingriffen des Staates als eigenständig anerkannt, gleichzeitig aber auch im bisherigen individual- und sozialethischen Bereich verrechtlicht worden«.6
Die Menschenwürde stelle »einen absoluten, d.h. gegen alle möglichen
Angreifer gerichteten Achtungsanspruch« dar. In welchem Ausmaß
CSU), http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/pp/2001/index.htm (17.
10.04).
5. Christine Nüsslein-Volhard: Wann ist der Mensch ein Mensch? Embryologie und Genetik im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2003, S. 24.
6. Günter Dürig: »Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde«, in: Abhandlungen des öffentlichen Rechts 81 (1956), 2, S. 117-156, hier S. 118.
222
Menschen-Bilder
der menschliche Embryo in den Schutzbereich des Artikels einbezogen
werden muss, bleibt trotz der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Menschenwürde komme »schon dem ungeborenen
menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der
Geburt oder bei ausgebildeter Personalität«, weiterhin umstritten.7
Weil diese Aussage dezidiert im Kontext der Abtreibungsdiskussion
getroffen wurde, ist unklar, ob ihre Reichweite sich auch auf die in den
Biowissenschaften verhandelten frühembryonalen Lebensformen erstreckt.
Im Kontext der Bioethik wird der Begriff Menschenwürde häufig
im Sinne eines Metaindikators zur Feststellung rechten und unrechten
Handelns genutzt. Dabei fällt vor allem die extreme Unbestimmtheit
des Begriffs auf. Zwar ist dessen Verwendung ideengeschichtlich
immer an Kant orientiert8, doch bleibt der Adressat dieser Würde,
der Mensch, mehr oder weniger im Dunkeln. Was ist der Mensch?
Wann beginnt und wann endet er? Diese Fragen müsste beantworten
können, wer den Begriff der menschlichen Würde ins Zentrum politischer und kultureller Unterhandlungen rückt.9 Als Verfassungskern
erhält Würde somit einen transzendenten Charakter. Diese verfassungsrechtliche Erhabenheit des Begriffes ersetzt tendenziell seine
Aussagekraft. Daraus resultiert eine rekursive Besetzung der Menschenwürde, deren diskursive Autorität sich aus der Einsenkung des
Begriffs in den ersten Artikel der Verfassung speist, während der Verfassungsartikel selbst scheinbar durchaus eine distinkte Würde des
Menschen zu adressieren scheint.
Die Autorität des Terminus, da man von einem Konzept nur eingeschränkt sprechen kann, leitet sich aus der Kraft der Rechtsetzung ab,
die das Gesetz als Grundgesetz in diesem Falle ganz praktisch besitzt.
»Das Gesetz«, schreibt Jacques Derrida, »ist nämlich in dem Maße
transzendent, in dem der Mensch selbst es unter Gewaltanwendung
7. BVerfGE 88, 203, II (251).
8. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd.
VII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1993, S. 158; Ders.: Die
Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Wilhelm Weischedel,
Frankfurt am Main 1993, S. 569: »Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i.
als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben;
[…] d.i. er besitzt eine Würde [einen absoluten inneren Wert].«
9. Vgl. Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 1998; sowie u.a. die Beiträge in Christian
Geyer (Hg.): Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt am Main 2001.
223
Jörn Ahrens
begründen muß, und zwar als kommendes.«10 Von hier aus läßt sich
auf verschiedene Bedingungen des Gesetzes schließen. Die Ausrichtung des Gesetzes ist zukünftig; es stellt sich in jeder Situation seiner
Herausforderung und Anwendung neu her. Das bedeutet auch, dass es
einer Metamorphose unterliegt, indem es permanent durch Aushandlung und Auslegung neu gesetzt wird. Genauso kann das Gesetz einen
Rest von Gewaltsamkeit nicht ablegen, insbesondere weil es sich über
Abgrenzungskriterien konstituiert. Diese Kriterien sind nicht selten
solche von Leben und Tod, wie etwa die Wortwahl in der Debatte um
die Nutzung embryonaler Stammzellen erneut zeigt. Das Problem der
Menschenwürde als Institut des Rechts besteht darin, dass sie zwar auf
eine Gesamtheit der »Menschen« ausgeht, innerhalb deren es letztlich
völlig egal ist, ob diese schon Menschen oder noch Personen sind oder
nicht mehr bzw. noch nicht, dass eine Definition dieser Gesamtheit der
»Menschen« aber nirgends vorliegt (wofür gute Gründe anzuführen
möglich ist). Insofern erhält die Betonung des »menschlichen Lebens«
gegenüber dem »Menschen« erneut Gewicht, die im oben zitierten
Debattenbeitrag durch die Vermeidung der Rede vom »Menschen« in
Bezug auf embryonale Frühstadien erreicht wird.
In diesem Zusammenhang kann es aufschlussreich sein, dass die
Vorsitzende der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen
Medizin anlässlich der Debatte zu deren Einsetzung nachdrücklich auf
einer negativen Definition des Begriffs »Menschenwürde« beharrt.
Vollkommen konform mit dem BVerfG führt sie aus:
»Die Menschenwürde ist ein Begriff, der sich nicht benutzen läßt wie eine binomische Formel in der Mathematik. Dies hat das Verfassungsgericht in ständiger
Rechtsprechung immer wieder festgestellt. Jede Form von Verdichtung zur Ideologie hat es zurückgewiesen und hat es abgelehnt, die Menschenwürde positiv zu
beurteilen und zu definieren. Menschenwürde ist immer nur erklärbar und feststellbar anhand der Verletzungen, bei denen es um Schwache, um Geschädigte,
um Ohnmächtige geht, die von der Verletzung der Menschenwürde besonders
gefährdet werden.«11
Damit knüpft sie gewissermaßen an Derridas Satz über das Gesetz an
und bekräftigt noch, dass es sich bei der Perspektive auf einen zentralen rechtlichen Topos, wie den der Menschenwürde, um eine Art von
Negativer Theologie handelt. Die Dignität, auch die Reichweite und
10. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«,
Frankfurt am Main 1991, S. 78f.
11. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/173 (wie Anm. 4), Margot
von Renesse (SPD).
224
Menschen-Bilder
Wirksamkeit von Menschenwürde, leitet sich demnach aus deren Abwesenheit als essentieller Entität ab. Wenn sie sich immer nur – und
immer neu – herstellt aus den Erfahrungen der Schwachen und Geschädigten, ist es im Umkehrschluss zwingend notwendig, deren
Verhältnis zur Menschenwürde zu klären. Zunächst muss entschieden
werden, ob jene überhaupt ein Anrecht auf die Dimension der Menschenwürde hätten, um dann, gemessen an dieser, als Schwache,
Geschädigte gelten zu können. Sofern Menschenwürde ins Spiel gebracht wird, geht es also immer um die Klärung jener Statusfrage, ob
die Adressaten sich der Würde auch würdig erweisen. Sofern die Antwort darauf positiv ausfällt, sind diese Adressaten üblicherweise automatisch als Menschen etikettiert. Hingegen besitzt das bloße Leben,
auch als »menschliches Leben«, gemeinhin keinen Anspruch auf diese
Würde.
Allerdings hat im Kontext von Vergesellschaftungspraktiken bzw.
von politischen Institutionalisierungsleistungen die Differenz von
»Mensch« und »menschlichem Leben« keine sonderlich große Tradition. Deren plötzliche Betonung gehört zu den in den bioethischen
(oder auch biopolitischen) Debatten eingeführten Neuerungen. Die
kulturelle Identifikation und soziale Anerkennung des Menschen
erfolgt in aller Regel auf der Basis einer Bildgebung des Menschen, die
dem geborenen Menschen zwar entspricht, auf diesen aber nicht notwendig beschränkt sein muss.12 Die damit einhergehende Bildgeschichte des menschlichen Embryos als realem Menschen wiederum
geht mindestens bis auf mittelalterliche Darstellungen der Maria Gravida zurück.13 (Abb. 2)
12. Vgl. Wolfgang Schild (Hg.): Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffes, Würzburg 2000; Verena Krieger: »Der Kosmos-Fötus. Neue
Schwangerschaftsästhetik und die Elimination der Frau«, in: Feministische Studien 2/1995, S. 8-24; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.
13. Vgl. Gregor Martin Lechner: Maria Gravida. Zum Schwangerschaftsmotiv
in der bildenden Kunst, München/Zürich 1981; s.a. Karl Sudhoff: Ein Beitrag zur
Geschichte der Anatomie im Mittelalter, Studien zur Geschichte der Medizin, Leipzig 1908.
225
Jörn Ahrens
Abbildung 2: Maria Gravida
Diese Darstellungsform des Fetus/Embryo als fertig ausgebildetem
Menschen tradiert sich weiter in den anatomischen Abbildungen des
16. bis 18. Jahrhunderts und geht schließlich in die von theologischer
Seite nach Kräften unterstützte Präformationslehre ein, wonach alle
Individuen einer Erbfolge der Form nach bereits im Samenkern enthalten sein sollen.14 Festgehalten werden kann zunächst: Die Trennung
zwischen »Mensch« und »menschlichem Leben« ist keineswegs selbstverständlich. Diese Unterscheidung wird heute gerade in bioethischen
Positionen ins Spiel gebracht, um gegen die Nutzung frühembryonaler
Lebensformen in Wissenschaft und Industrie zu argumentieren und
eine Kontinuität des menschlichen Individuums vom Moment der
Zeugung an herauszustellen, um einen unbedingten Lebensschutz
14. Vgl. Joseph Needham: A History of Embryology, Cambridge 1959; Barbara Duden u.a. (Hg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, Göttingen 2002.
226
Menschen-Bilder
sämtlicher menschlichen Lebensformen zu begründen. Dennoch weist
die bloße Benennung dieser Differenz, die der Intention nach keine
sein soll, weit eher auf eine Legitimationslücke der betreffenden bioethischen/biopolitischen Standpunkte hin. Ganz augenscheinlich zehrt
insbesondere das in der Debatte ungemein wichtige Kontinuitätsargument von einer Logik der Präformation, die mit Durchsetzung der
Evolutionstheorie weitgehend als erledigt gelten kann. In diesem Sinne
heißt es beispielsweise in der hier zitierten Bundestagsdebatte:
»Weitgehende Übereinstimmung besteht in Wissenschaft und Politik bisher wohl
darüber, daß menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle
beginnt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelt es sich […] nicht zum Menschen,
sondern von dieser Verschmelzung an entwickelt es sich als Mensch.«15 (Abb. 3)
Abbildung 3: Embryonendarstellung
Zwar paraphrasiert diese Aussage weitgehend den folgenden Satz des
BVerfG aus dem ersten Urteil zur Abtreibung von 1975: »Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu. […] Die von
Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten
genügen, um die Menschenwürde zu begründen.«16 Dennoch kann
es nur im Kontext fortwirkender präformistischer und theologischer
Annahmen als selbstverständlich gelten, dass ein frühembryonaler
Zellverband grundsätzlich als Mensch etikettiert wird.17 Dort gilt
15. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/173 (wie Anm. 4), Friedrich
Merz (CDU/CSU).
16. BVerfGE 39, 1 (41).
17. Zur Diskussion des Kontinuitätsarguments in der Bioethik vgl. insbesondere Christian Illies: »Das so genannte Potentialitätsargument am Beispiel
227
Jörn Ahrens
menschliches Leben immer schon als Mensch, weil es auch immer
schon die Gestalt des Menschen besitzt. Spätestens seit Bekanntwerden der Ontogenese fällt die Identifikation einer Zelle, die einmal zum
Menschen werden kann, als schon selbst ein Mensch seiend schwer.
Deshalb kann »menschliches Leben« nicht ohne weiteres gleichbedeutend sein mit dem »Menschen«.18
Die normative Setzung, die mit der Berufung auf den Topos der
»Menschenwürde« einhergeht, evoziert einen distinkten Zusammenhang zwischen diesem und einem spezifischen Menschenbild, das in
der öffentlichen Debatte offenbar in erster Linie verhandelt wird. Der
Begriff des Menschenbildes ist doppelt konnotiert und berührt sowohl
ein Bild im Sinne einer Abbildung als auch eine normative Dimension
des Menschen. Ein »Menschenbild« bedeutet daher die Ineinssetzung
von Wahrnehmung und Anerkennung, welche wiederum auf Praktiken der Rechtsetzung ausgreifen. Die anhaltende biopolitische Debatte
ist deshalb auch als Bilderstreit um den Status frühembryonaler Lebensformen zu verstehen (vgl. Abb. 1). Wenn es gelänge, jene Lebensformen in den Kontext des Menschlichen zu integrieren, dann wäre der
Weg frei, um ihnen auch solche Institute wie »Menschenwürde« zu
übertragen.19
II.
Was vordergründig als Supplement erscheint, die erfolgreiche Durchsetzung einer Abbildung der frühembryonalen Lebensform als Repräsentation und Identifikation des Menschen, kann von einiger Bedeutung für das Funktionieren der Debatte und für ein Verständnis ihres
des therapeutischen Klonens«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 2/
2003, S. 233-256.
18. Weitere Bezugsfelder für die Verbindung von »menschlichem Leben«
und einem »Menschen« als Träger von Würde finden sich im Rassismus, der negativ eine Trennung zwischen »menschlichem Leben« und »Menschen« vornimmt,
wohingegen das bioethische Kontinuitätsargument beides zu einem Junktim verzahnen möchte, sowie in der Verschaltung von Mensch und Maschine in der
Science Fiction – etwa in Ridley Scotts Blade Runner, USA 1982.
19. Vgl. u.a. Josef Isensee: »Der grundrechtliche Status des Embryos«, in:
Otfried Höffe u.a.: Gentechnik und Menschenwürde. An den Grenzen von Ethik und
Recht, Köln 2002, S. 37-77; Ute Sacksofsky: Der verfassungsrechtliche Status des
Embryos in vitro. Gutachten für die Enquetekommission des Deutschen Bundestages
»Recht und Ethik der modernen Medizin«, September 2001, http://www.bundes
tag.de/parlament/kommissionen/archiv/medi/medi_gut_sac.pdf (10.07.03).
228
Menschen-Bilder
kulturhistorischen Hintergrundes sein. Sofern »die Kunst, die techne,
das Bild, die Repräsentation, die Konvention usw. als Supplement der
Natur«20 auftreten – hier als Supplement der menschlichen Natur –,
treten sie auch an Stelle dieser Natur. Auf diese Weise kann ein
scheinbar randständiges Phänomen, wie die bildliche Repräsentation
des Menschen, von zentraler Bedeutung für dessen kulturelle Kontextualisierung sein, etwa als Setzung kulturanthropologischer Standards.
Die Einschreibung der molekularen Bildwelt in den Begriff des Menschen erfolgt von diesem Randgeschehen der Bildgebung her. Diejenige Entität, deren Bild als »Mensch« identifiziert wird, ist selbst
»Mensch« geworden, inklusive des entsprechenden ethischen Status.
»Man kann ein Tier quälen, man kann es leiden lassen; niemals wird
man jedoch im eigentlichen Sinne behaupten, daß es sich um ein
Subjekt handelt, dem man Schaden zugefügt hat […].«21 Andernfalls
wird die menschliche Zelle, wenn nicht als Tier, so zumindest als
nicht-menschlich etikettiert, und für das nicht-menschliche Lebewesen
gilt hinsichtlich der Zufügung von Schaden oder möglicher Instrumentalisierungen dasselbe wie für das Tier.
Wird nun der Terminus »Menschenwürde« in Anschlag gebracht,
um die Würde der frühembryonalen Lebensform zu schützen, so wird
das gängige Menschenbild, das eine Verbindung zwischen einem identifizierbaren Abbild mit einer zugehörigen normativen Dimension
impliziert, umcodiert. Das bedeutet auch eine Veränderung innerhalb
der Koordinaten von Abbild und Würde. Folgt die Möglichkeit der
»Menschenwürde« bislang deren Bezug auf ein bestimmtes Bild vom
Menschen, so entscheidet nunmehr die Zuschreibung von »Menschenwürde« an eine Lebensform über deren Einbeziehung in eine
Variation (Population) von »Menschenbildern«.22 Dem Problem dieser Ausfransung von Menschenbildern in der Spätmoderne trägt die
Enquete-Kommission in ihrem Schlussbericht Rechnung, indem sie
darauf hinweist, »das Verständnis des Menschseins und des guten
Lebens [seien] vielfältig« und die Politik zu einem kommunikativen
Umgang mit diesem Sachverhalt auffordert.23 Hingegen hat die seinerzeitige Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin (SPD),
20. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 250.
21. Derrida: Gesetzeskraft (wie Anm. 12), S. 37.
22. Zum Kontext des »Menschenbilds« vgl. Achim Barsch, Peter M. Hejl
(Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914), Frankfurt am Main 2000.
23. Vgl. Schlußbericht der Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin«. Bundestagsdrucksache 14/9020, 14.05.02, http://dip.bundestag.
de/btd/14/090/1409020.pdf (26.03.04), S. 179.
229
Jörn Ahrens
auf einer strikteren Definitionsleistung von Politik und Jurisprudenz
insistiert und ausgeführt, es liege »in der Logik der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts, daß die Verschmelzung von Samenzelle und Ei, nicht etwa erst die Nidation, der maßgebliche Zeitpunkt«
für den Beginn menschlichen Lebens sei.24 Jedoch löst sie mit dieser
Aussage nicht die dilemmatische Situation auf, dass »menschliches
Leben« mit dem »Menschen« keineswegs gleichbedeutend sein muss.
Was heißt es daher, darüber zu befinden, was und wer ein Mensch
ist und mit welchen Rechten ein solcher jeweils versehen sein sollte?
Worüber wird verhandelt, wenn die Rede von embryonalen Stammzellen ist oder generell von menschlichen Embryonen? Das deutsche
Embryonenschutzgesetz (EschG) schlägt eine auf den ersten Blick klare
Definition vor: »Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die
befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt
der Kernverschmelzung an.«25 Im Gegensatz dazu definiert das medizinische Wörterbuch, der Pschyrembel, den Embryo als die »Frucht in
der Gebärmutter während der Zeit der Organentwicklung (Organogenese), also der ersten zwei Schwangerschaftsmonate«.26 Die Embryonalentwicklung umfasst also nur einen sehr kurzen Zeitraum, der nach
zwei Seiten begrenzt ist. Ihren Abschluss findet sie mit der vollendeten
Organentwicklung; fortan wird der nasciturus »Fetus« genannt.27 Die
Embryonalphase beginnt aber nicht schon mit der Kernverschmelzung,
sondern erst mit der Einnistung des Keimes in die Gebärmutter. Insofern ist es für Medizin und Biologie kein Problem, von einem präembryonalen Stadium auszugehen, in dem »menschliches Leben« sich
vom »Menschen« klar unterscheiden ließe.28 Unter Berücksichtigung
24. Vgl. Kurz- und Wortprotokoll der 17. Sitzung der Enquete-Kommission
»Recht und Ethik der modernen Medizin«, 07. Mai 2001, Deutscher Bundestag:
Protokoll 14/17 (Gespräch mit der Bundesministerin der Justiz, Herta DäublerGmelin, zu Rechtsfragen in Zusammenhang mit Präimplantationsdiagnostik und
Gentests sowie zur Sterbehilfe/Sterbebegleitung).
25. Vgl. ESchG § 8 (1).
26. Klinisches Wörterbuch Pschyrembel, Art. »Embryo«, Berlin/New York
1999; dort heißt es auch zur Etymologie des Begriffs, dieser bedeute, ausgehend
von gr. émbryon, »ungeborene Leibesfrucht«.
27. Ebenda, Art. »Fetus«: »Bez. für die Frucht im Mutterleib nach Abschluß der Organogenese (Wachstum u. Differenzierung der Zellen der dreiblättrigen Keimscheibe zu embryonalen Organanlagen in den ersten 12 Lebenswochen), d.h. im Anschluß an die Embryonalperiode bis zum Ende der Schwangerschaft.«
28. Das entspräche ziemlich genau der britischen Rechtslage. In Großbritannien ist seit 1990 der Human Fertilisation and Embryology Act in Kraft. Danach
230
Menschen-Bilder
der gravierenden Differenz zwischen der medizinischen Verwendung
des Begriffes »Embryo« und seiner rechtlichen Handhabung, stellt sich
die Frage, weshalb es zu einer derart ausgreifenden legislativen Definition des »Embryo« kommt, die eine begrenzte Phase innerhalb der
Organentwicklung auf die gesamte Genese des menschlichen Individuums ausdehnt. Die frühembryonale Lebensform, die ESchG und
StZG als »Embryo« adressieren, stellt offenbar eine Chiffre des Menschen dar. Im »Embryo« identifiziert sich der Mensch mit sich selbst.
Nicht so sehr die Sorge um das Schicksal dieses Embryo-Individuums
lässt sich als Movens von Recht und Bioethik ausmachen. Der Embryo
selbst ist außerhalb der reinen Rechtssphäre nicht schon selbst identifiziert. Vielmehr kennzeichnet er einen anthropologischen Nicht-Ort
oder eine Passage des Menschen im Vollzug der Menschwerdung. Als
menschliche Lebensform, deren Status als Mensch ungeklärt bleibt,
resultiert die Sorge für den Embryo erst an zweiter Stelle aus der Sorge
um den Embryo, sondern definiert sich maßgeblich aus einer Identifikationsleistung des Menschen.
Der invasive Zugriff auf den menschlichen Embryo ist dann nur
noch marginal oder bereits gar nicht mehr unterschieden vom Zugriff
auf den Menschen. Im Mittelpunkt der Debatte steht nicht der ungeborene und wehrlose Embryo, sondern der Mensch als geborener und als
autonomes Subjekt.29 Diese Identifikationsproblematik schlägt sich
auch in der Debatte des Deutschen Bundestags zur Einsetzung der
Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin nieder:
»Durch die Entwicklung der Biotechnologie sind Grundwerte und
Grundrechte berührt, die unser Selbstverständnis angehen, also die Art
und Weise, wie wir uns selber als Individuen und als Gesellschaft
ethisch verorten.«30 Auffällig ist hier der primäre Bezug auf die bereits in Gesellschaft befindlichen Individuen, während die lebensbedrohten, noch nicht (oder nur mittelbar) in Gesellschaft befindlichen
Embryonen lediglich als Indikatoren für die Art dieses Selbstverständnisses dienen. Nicht die »Embryonen« werden tatsächlich als Menkönnen Embryonen zu Forschungszwecken hergestellt und bis zum 14. Tag ihrer
Entwicklung genutzt werden. Laut dem Human Reproductive Cloning Act von 2001
ist es verboten, solche Embryonen Frauen zu Reproduktionszwecken einzupflanzen; vgl. Mary Warnock: A Question of Life. The Warnock Report on Human Fertilisation and Embryology, Oxford/New York 1985.
29. Vgl. z.B. Gernot Böhme: »Über die Natur des Menschen«, in: Günter
Seubold (Hg.): Die Zukunft des Menschen. Philosophische Ausblicke, Bonn 1999,
S. 41-57, hier S. 45.
30. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/173 (wie Anm. 4), Rezzo
Schlauch (Bündnis 90/Die Grünen).
231
Jörn Ahrens
schen anerkannt, sondern weil sie menschliches Leben verkörpern,
scheint im Umgang mit ihnen das Selbstverständnis des Menschlichen
auf. Weniger als um identifizierende Anerkennung handelt es sich
dann um einen Akt der Abstraktion und Selbstreflektion der Gattung
»Mensch«.
Eine solche Äußerung steht aber selbst schon im Kontext der
Bedeutungsleistung jener Chiffre vom (Bild des) menschlichen Embryo(s). Dieses Bild repräsentiert offenbar mehr als nur die Gestalt des
menschlichen Embryos. Die Mehrdimensionalität solcher Bilder liegt
auf der Hand, und die eigentlich interessante Frage ist, welche ihrer
Repräsentationsmöglichkeiten aufgegriffen und argumentativ besetzt
werden. Maurice Merleau-Ponty hat von den »Chiffren des Sichtbaren«
gesprochen, die sich dem Rezipienten von Dingen in der Wirklichkeit
einprägen.31 Sichtbarkeit beruht auf visuellen wie kulturellen Voraussetzungen, und was gesehen wird, verwandelt sich in Bedeutung, aber
gerade diese Voraussetzungen des Sichtbaren stehen aufgrund der
Ritualisierung kultureller Selbstverständlichkeiten und der damit verbundenen Strukturierung von Wirklichkeitsroutinen im Allgemeinen
nicht zur Disposition.32
Ist die alltägliche, als unmittelbar verstandene Wahrnehmung der
Wirklichkeit so gesehen schon relativ voraussetzungsvoll, so verkompliziert sich der Vorgang noch einmal bei solchen Dingen wie der
frühembryonalen Lebensform, deren Wahrnehmung ausschließlich
über ein eindeutig medial konnotiertes Bild erfolgt. Im Falle des so genannten »Embryos« bedeutet das Bild also bereits selbst das Ding,
dessen Repräsentation es sein soll. Etwas nie Gesehenes wird zum
zentralen Moment eines gesellschaftlichen Konflikts um die Kriterien
von Wahrnehmung und Erkennen, sowohl im manifesten als auch
(noch viel mehr) im normativen Sinn. Die Gleichsetzung frühembryonaler Lebensformen mit dem Menschen erfolgt unter der Voraussetzung, dass der »Embryo« sozial nicht existiert, sondern nur organisch,
und erst seine Identifikation mit dem Menschen ihn auch sozial adressiert. In diesem Fall würde der »Embryo« in erster Linie eine Bedeutungschiffre darstellen, die vom Achtzeller weitgehend abstrahiert.
Insofern wäre die Rede von einem »imaginären Gewebe des Wirklichen« (Merleau-Ponty) mehr als angebracht. Wenn jedoch in erster
31. Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 20.
32. Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 1986; Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main/New York 1988; Jörn Ahrens: »Der Ruf aus der Wildnis. Zivilisation und Ritual«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 12 (2003), H. 1-2, S. 54-66.
232
Menschen-Bilder
Linie ein Imaginäres verhandelt wird, das viel eher auf die Selbstverortung »als Individuen und als Gesellschaft« abzielt, als auf eine mögliche eigene Dignität des Embryo, stellt sich auch die Frage, ob sich eine
bioethische/biopolitische Diskussion, die primär um genau eine solche
Dignität kreist, überhaupt sinnvoll führen lässt.33 Die modernen Biowissenschaften haben lebendige Einheiten aus der frühembryonalen
Entwicklung des Menschen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen
Interesses gerückt. Deren Inklusion oder Exklusion aus der menschlichen Gemeinschaft macht eine neuerliche Definition dessen erforderlich, was unter den Begriff des Menschen gefasst und als Mensch identifiziert werden soll. Nach dem Selbstverständnis der Enquete-Kommission dient ihre Arbeit ganz in diesem Sinne als Beitrag zur »Sinnstiftung« in modernen Gesellschaften.34 Im Zuge dessen verändert
sich sowohl die Repräsentation des Menschen, als sich auch das Medium dieser Repräsentation erweitert.
Zur Diskussion stehen die Attribute des Menschen, während das
bloße Leben für sich noch nicht gegen die Wirkmächtigkeit anderer
Rechtsgüter gefeit ist. Bedeutsam wird also die Differenz zwischen
biologischem und sozialem Menschen. Auch wenn beide menschliche
Wesen sind, verwirklicht sich der »Mensch« offenbar erst mittels der
Anerkennung als Lebewesen innerhalb eines sozialen, symbolischen
und nicht allein natürlichen Kontextes. In diesem Sinne bleibt es von
zentraler Bedeutung, den Menschen in einer Weise zu begrenzen, die
nicht den Ereignispunkten von Anfang und Ende des Lebens folgt,
sondern sich an symbolischen Bedeutungszuschreibungen festmacht.35
Um sich als mit menschlicher Würde ausgestatteter Mensch zu erweisen, bedarf es zunächst des basalen Rechts auf ein Menschenrecht. Das
»Recht, Rechte zu haben« (Hannah Arendt), steht somit am Beginn
einer menschlichen Existenz innerhalb von Kultur und Gesellschaft.
Insofern es nicht möglich ist, sich das »Recht, Rechte zu haben«, selbst
zuzusprechen, bleibt es gebunden an einen passiven Akt der Anerkenntnis von Außen her. Aus diesem Grund hat Giorgio Agamben die
Proklamation der Menschenrechte als Inkubationsphase einer moder33. Vgl. Jörn Ahrens: »Wo bleibt der Mensch? Das Lebensschutzargument
in der biotechnologischen Debatte«, in: Sigrid Graumann, Katrin Grüber (Hg.):
Ethik und Kultur, Jahrbuch des IMEW Berlin, Münster 2004, S. 39-58.
34. Vgl. Schlußbericht der Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin« (wie Anm. 23), S. 23.
35. Dieses Prinzip einer als Kulturpraxis verstandenen Liminalität des
Menschen wurde insbesondere von der Ethnologie wiederholt hervorgehoben,
vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt am Main/New York 1999;
Claude Lévi-Strauss: Der Blick aus der Ferne, Frankfurt am Main 1993, S. 53-69.
233
Jörn Ahrens
nen Biopolitik identifiziert, die nichts anderes intendiere, als auf das
Leben der Individuen unmittelbar zuzugreifen.36 Allerdings ist die
rechtswissenschaftliche Diskussion zu diesem Komplex ungleich differenzierter, als Agamben suggeriert. Schon der Rechtswissenschaftler
Hans Carl Nipperdey hat in aller Deutlichkeit klargestellt: »Die Würde
hat jeder, der Menschenantlitz trägt. Daher handelt es sich um ein
allgemeines Menschenrecht. Es gilt für Deutsche, Ausländer, Staatenlose.«37 Genauso hat Ernst-Wolfgang Böckenförde das »emanzipatorische Potential« der Menschenrechte betont, die einen »neuen Begriff
der Freiheit des Menschen« hervorgebracht hätten.38 Als Akt der
Anerkenntnis von Außen her, ist jenes »Recht, Rechte zu haben«, das
als Voraussetzung für eine Geltung der Menschenrechte bezeichnet
werden kann, auch auf die frühembryonalen Lebensformen anwendbar, wie im ESchG und im StGZ bereits geschehen. Offen bleibt, inwiefern die Rede vom »Menschenantlitz« auf die dort angezielten
Entitäten übertragbar ist. Das unterstreicht noch einmal, dass nicht die
Möglichkeit der Zuschreibung von Rechten an nicht-menschliche
Entitäten an sich kontrovers ist; umstritten sind in diesem Fall vielmehr Reichweite, Bedeutung und Definition des Begriffes »Mensch«.
III.
Nicht ein reales Abbild steht somit im Vordergrund der Debatte, sondern die Repräsentation eines spezifisch konnotierten Begriffs, dessen
Bedeutung ausgeweitet, zumindest aber transformiert wird. Entscheidend ist die Differenz zwischen einer Zugehörigkeit frühembryonaler
Lebensformen zur Spezies Mensch und deren eindeutiger Adressierung als »Menschen« im sozialen und kulturellen Raum. Dieses Problem einer Bezeichnung und Definition der Lebewesen und Dinge ist
keineswegs neu. Im sokratischen Universum ist es noch das Privileg
des Gesetzgebers, die Benennungen der Dinge nach deren Urbildern
zu fertigen: »Also auch benennen muß man so, und vermittelst dessen, wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Din36. Vgl. Giorgio Agamben: »Jenseits der Menschenrechte«, in: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001.
37. Hans Carl Nipperdey: »Die Würde des Menschen«, in: Franz L. Neumann, Hans Carl Nipperdey, Ulrich Scheuner (Hg.): Die Grundrechte. Handbuch
der Theorie und Praxis der Grundrechte, Berlin 1954, S. 3.
38. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Vom Wandel des Menschenbildes
im Recht«, in: Gerda Henkel Stiftung (Hg.): Das Bild des Menschen in den Wissenschaften, Münster 2002, S. 193-224, hier S. 203ff.
234
Menschen-Bilder
ge ist, nicht aber so wie wir etwa jedes Mal möchten.«39 Die Benennung ist demnach gleichgesetzt mit einem Akt der Rechtsetzung als
autoritative Definition von Wirklichkeit. Platon scheute das Chaos der
willkürlichen, subjektiven Benennungen, und nur die Gewalt des
Rechts schien eine Gewähr gegen die drohende Anarchie des Weltdeutens zu bieten. Ebenso, wenngleich ohne die Fixierung auf essenzielle
Urbilder, bezeichnet Derrida »das Vorgehen, das das Recht stiftet«, als
eine »performative und also deutende Gewalt«.40
Genauso ist der Term »Mensch« eine distinkte Benennung, und
auffällig ist, dass der Mensch sich Sokrates zufolge insbesondere durch
die Fähigkeit des reflektierten Beobachtens auszeichnet: »Daher wird
unter allen Tieren der Mensch allein Mensch genannt, weil er zusammenschaut, was er gesehen hat.«41 Die Vernunftmächtigkeit des
Menschen, die ihn von den Tieren abhebt, steht also in direktem Zusammenhang mit einer Praxis der Repräsentation, Abstraktion und
Sichtbarkeit. Das scheint bemerkenswert, denn offenkundig liegt bereits in der Benennung des »Menschen« eine doppelte Form der Repräsentation vor, insofern dieser die für eine Repräsentationspraxis
notwendige kulturelle Kompetenz besitzen und diese im gleichen Augenblick auch auf sich selbst anwenden muss. Dann verwirklicht sich
in einer solchen Repräsentationspraxis auch das Bild des Menschen
von sich selbst, worin er sich seiner (kultur-)anthropologischen Essenz
versichert. Und natürlich bleibt diese Wahrnehmung auch der Produktion eines Imaginären geschuldet. Kein Mensch betrachtet ein Bild
vom Menschen wie ein Ding, sondern als Repräsentation seiner Spezies und somit auch seiner selbst. Dieses Bild korrespondiert auf das
engste mit dem, was Merleau-Ponty die »Quasi-Gegenwart« und das
»ganze Problem des Imaginären« nennt42 – zwischen Wahrnehmung
und Einbildungskraft zu changieren und erst in dieser Ambivalenz
Realität zu gewinnen. Sofern sich daran ein Identifikationsverhalten
heftet, muss dieses in nicht unerheblichem Maße auch ein durch die
Imagination hindurch gegangenes, normativ legitimiertes sein. Denn
eine ungehemmte, ungeregelte Benennungspraxis kann kulturell wie
sozial zu einem ernsthaften Problem werden. »Also auch bennenen
muß man so, und vermittelst dessen, wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Dinge ist, nicht aber so wie wir etwa
jedesmal möchten.«43 Nur scheinbar fixiert Platon mit dieser Einlas39. Platon: »Kratylos«, in Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3, neu hrsg. von Ursula Wolf, übers. von Friedrich Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 1994, 387d.
40. Derrida: Gesetzeskraft (wie Anm. 12), S. 28.
41. Platon: Kratylos (wie Anm. 39), 399c.
42. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist (wie Anm. 31), S. 18.
235
Jörn Ahrens
sung eine mögliche Essenz der benannten Dinge; denn er folgert sogleich: »Ein Werkzeug ist also auch das Wort.«44 Damit hat er den
arbiträren Charakter des Benennens im Blick. Jenseits der Notwendigkeit einer über Repräsentationspraktiken hergestellten Realität durch
Benennung steht für Platon freilich außer Zweifel, dass diese Realität
auch unverbrüchlich gültig sein sollte.
Wenn heute das vorrangige soziale Problem im Umgang mit den
Biowissenschaften darin besteht, frühembryonale Entitäten in die
menschliche Gemeinschaft zu integrieren, wäre die Alternative dazu
ihr Ausschluss aus dieser. Es spielt dabei keine Rolle, wie frühembryonale Lebewesen dann genau tituliert wären; wichtig wäre nur, sie nicht
als »Menschen« zu etikettieren. »Was den unbestimmten, keineswegs
eindeutigen Namen des Tiers erhält (das bloß Lebendige), ist kein
Subjekt des Gesetzes oder des Rechts.«45 Um ein solches »Subjekt des
Rechts« herzustellen und zu identifizieren, bedarf es u.a. einer spezifischen Darstellungsform des Menschlichen, die den Begriff »Mensch«
mit dessen geläufigem Bild in Deckung bringt.46 Problematisch daran
ist, dass der Begriff »Mensch« nicht nur im Alltagsgebrauch von Kultur
weitgehend einer bestimmten Form entspricht. Auch das BVerfG hat
auf die Liminalität der Kategorie »Mensch« abgestellt und etwa »Zombies« audrücklich daraus ausgeschlossen: »Das Tatbestandsmerkmal
›Mensch‹ ist schon deshalb hinreichend bestimmt, weil damit unmissverständlich an den biologischen Begriff des Menschen angeknüpft
wird.«47 Gemeint ist ganz offensichtlich die Form des geborenen bzw.
geburtsbereiten Menschen, die über eine endliche Variationsbreite
verfügt. Inwiefern der »Embryo« nach ESchG und StZG mit der Definition des BVerfG zu korrespondieren in der Lage ist, bleibt offen. Will
man daher frühembryonale Lebensformen bereits als distinkte »Menschen« anerkennen, als »Subjekte des Rechts«, wäre es notwendig, die
Form des »Embryos« mit dem Begriff des »Menschen« zu identifizieren, die Repräsentationsformen des Menschen also auszuweiten. Die
Schwierigkeit besteht dann hauptsächlich darin, dass es kulturell zwar
durchaus denkbar wäre, eine grundsätzliche Pluralität des »Menschen«
43. Platon: Kratylos (wie Anm. 39), 387d.
44. Ebenda.
45. Derrida: Gesetzeskraft (wie Anm. 12), S. 37f.
46. Vgl. Giorgio Agamben: »Lebens-Form«, in: Ders.: Mittel ohne Zweck
(wie Anm. 36); Gesa Lindemann: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen
Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München 2001.
47. BVerfGE 87, 13 (225); zum spezifischen Verhältnis von Rechtsetzung
und Bildlichkeit vgl. Costas Douzinas, Lynda Need (Hg.): Law and the Image. The
Authority of Art and the Aesthetics of Law, Chicago/London 1999.
236
Menschen-Bilder
anzunehmen, Legislative und Judikative bislang aber in besonderem
Maße bestrebt sind, eine homogene Definition des »Menschen« aufrechtzuerhalten, selbst wenn dies zu Lasten der Kohärenz des Begriffes
wie auch des Gegenstandes geht.
Die Legislative, die in ihrer Praxis der Rechtsetzung auf eindeutige
Definitionen ausgeht, ist zu einem permanenten Vergleich zweier
Entitäten genötigt (»Mensch« und »Embryo«), die zwar biologisch das
gleiche meinen, kulturell aber nicht dasselbe sind. Über ein Bewusstsein für die Arbitrarität des Menschen verfügt die Legislative jedoch
kaum. Auch dort, wo ihr an der Integration von Hybridwesen in die
menschliche Gemeinschaft gelegen ist, sieht sie ihre Aufgabe vielmehr
in der Bewahrung einer eindeutigen Essenz des Menschlichen. Dafür
steht etwa folgende Äußerung:
»Erstmals zeichnet es sich ab, daß der Mensch in die Entwicklung des Menschen
selbst eingreifen […] kann. Es stellt sich die Frage: Inwieweit ist der Mensch
noch Geschöpf? Inwieweit wird er zum Produkt? Diese Frage geht tief in das
Innerste des Menschseins.«48
Die Vorstellung von einem arbiträren Menschenbild findet hier offensichtlich keinen Platz. Vielmehr steht die Vorstellung des Geschöpftseins auch für eine Form der Wahrhaftigkeit der Existenz ein.49 Solche Sätze sind aber immer durch eine deutliche Begründungshypothek
belastet. Verändert hat sich der »Mensch« schon immer, auch einschneidend, und »jede Veränderung in der Vorstellung vom Menschen
[gibt] eine Veränderung des Menschen selbst wieder«.50 Bezieht man
die Identifikation des »Menschen« strikt auf ein Bild, dessen Unveränderbarkeit zugleich die Basis einer anthropologischen Essenz ausmacht, verliert man zwangsläufig auch jene fortwährende Transformation des Menschlichen aus dem Blick. Die kulturelle Identifikation des
»Menschen« unterliegt ihrerseits vielfältigen Metamorphosen und
Mutationen. In den Debatten um die Biowissenschaften aber wird
oftmals nur eine Bildessenz des »Menschen« gesucht, deren Haltbarkeit zumindest fraglich ist.
48. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/173 (wie Anm. 4), Maria
Böhmer (CDU/CSU).
49. Vgl. dazu beispielsweise das Wort der Deutschen Bischofskonferenz zu
Fragen der Gentechnik und Biomedizin: Der Mensch: sein eigener Schöpfer?, Augsburg, 07. März 2001.
50. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist (wie Anm. 31), S. 116.
237
Olive und Urkilo
Olive und Urkilo.
Im Zeitalter des Vergleichens
Daniel Tyradellis
Man denkt ja immer nur an seine Zukunft
Und wenn es kracht
Schaut die Zukunft nur zurück und sacht
Ich hab doch gar nichts gemacht
Bin doch abstrakt
Die Sterne, 1997
I. These
Äpfel mit Birnen zu vergleichen, gehört zu den elementaren Lektionen
jedes Grundschülers, nämlich dann, wenn auf dem Lehrplan steht, ein
Verständnis von Zahlen zu entwickeln.1 Derselben Frage auf der
wissenschaftlichen Spur schreibt Edmund Husserl 1887 in seiner
Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl: »Gewiß, ein Apfel und
ein Apfel sind zwei Äpfel, weil jeder ein Apfel ist. Warum aber sind sie
überhaupt zwei? Nicht weil der eine Vorstellungsinhalt dem anderen
als Apfel oder in irgendeiner anderen bestimmten Hinsicht gleich ist,
sondern weil ein jeder Eins oder Etwas ist. Zwei Äpfel, zwei Menschen,
ein Apfel und ein Mensch usw. sind sämtlich zwei, weil sie konkrete
Inbegriffe [d.i. die Zahlen, D.T.] repräsentieren, welche durch das
Zählungsverfahren gerade unter die abstrakte Mengenform: Eins und
Eins fallen und unter keine andere.«2
1. Vgl. z.B. Jean Piaget, Alina Szeminska: Die Entwicklung des Zahlbegriffes beim Kinde, Stuttgart 21994.
2. Edmund Husserl: Philosophie der Arithmetik, in: Husserliana (Hua) XII,
hrsg. von Lothar Eley, The Hague 1970, S. 145.
239
Daniel Tyradellis
Die Frage nach der Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Gegenständen ist auch die nach der Abstraktion und des damit verbundenen
Begriffs beziehungsweise derjenigen Abstraktion, die der Begriff ist.
An anderer Stelle schreibt Husserl: »[F]ür die Bildung konkreter Inbegriffe gibt es in Beziehung auf die zu befassenden Einzelinhalte keinerlei Schranken. Jedes Vorstellungsobjekt, ob physisch oder psychisch,
abstrakt oder konkret, ob durch Empfindung oder Phantasie gegeben,
kann zusammen mit einem jeden und beliebig vielen anderen zu
einem Inbegriffe vereinigt und demgemäß auch gezählt werden, z.B.
[…]: ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien usw.«3
Welche Vereinigung, und das heißt, welcher aufhebende Vergleich
legitim ist und welcher nicht, hängt jenseits moralischer Erwägungen
einzig und allein vom Kontext und den damit verbundenen Hierarchien ab. Das heißt, es handelt sich um eine Abstraktion zweiter Ebene, deren Rechtmäßigkeit je und je erst auszuweisen ist. Auf dieser
Ebene vermählen sich Sein und Sollen, und hier ist das meist nur sehr
implizit vorhandene Wozu des Ganzen zu Hause. Es geht dabei, kurz
gesagt, um die Frage, von welcher Warte aus was womit verglichen
wird.
Die Warte, das ist eine Anhöhe, ein Gipfel oder Ähnliches. Das
lateinische Wort dafür lautet specula, und dieses ist gemeint, wenn
Hegel vom spekulativen Denken spricht. Nur von erhöhter Position aus
ist es möglich, Kontexte zu überblicken und Abstraktionsebenen zu
legitimieren. Solche Abstraktionsbildung ist die Aufgabe jeder Wissenschaft, bevor sie in einem zweiten Schritt daran geht, sie stückweise
und bis zur Sättigung auszudifferenzieren. Der dritte Akt besteht dann
meist in der mühsamen Auflösung der Abstraktionen zugunsten neuer
Begriffsebenen.
Was ist die Warte der Kulturwissenschaften? Etwa Olive und Urkilo – kann man daraus einen kulturwissenschaftlichen Vergleich machen? Von der momentanen Warte der Argumentation aus wäre es
noch zu früh, darüber zu urteilen. Was fehlt, ist der Kontext, in dem
der Vergleich statt hat. Allein von den Begriffen (und nicht ihrer Ebene) ausgehend, lässt sich wenig über die Legitimität eines Vergleichs
aussagen.
Die Olive, das lässt sich immerhin gefahrlos festhalten, ist ein
Gegenstand der Natur, je nach Reifegrad grün oder schwarz. Das Urkilogramm dagegen ist durch und durch künstlich, aus Platin, ein Kulturprodukt. Oliven gibt es massenhaft, das Urkilogramm nur einmal.
Oliven sind Nahrungsmittel, das Kilogramm kann allenfalls dazu dienen, selbige zu wiegen.
3. Ebenda, S. 16.
240
Olive und Urkilo
Solche Unterscheidungen, d.h. die Differenzierung von Natur und
Kultur, von Quantität, Qualität und Finalität sind Setzungen, die dem
Vergleich vorausgehen, d.h., ihn überhaupt erst ermöglichen. In der
Philosophie heißen Setzungen, auf die zurückgegriffen werden muss,
um sinnvoll zu reden, Kategorien. Nur von diesen her lässt sich bestimmen, was legitime und illegitime Vergleiche wären. Solange man
keinen »category mistake« (Gilbert Ryle) begeht, sind Vergleiche statthaft. Aber woher weiß man, welche Kategorien es gibt? Bevor ich wieder auf Olive und Urkilogramm zurückkomme, möchte ich ein wenig
dieser Frage nachspüren.
Aristoteles führte den Begriff kategoría ein, um die grundlegenden
Formen, wie wir über die Dinge sprechen, zu ermitteln. Er identifizierte zehn Kategorien (wobei die erste, die Substanz, einen Sonderstatus
hat) ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Kant kritisierte dieses Verfahren und warf Aristoteles vor, dass dieser die Kategorien nur »rhapsodistisch […] auf gut Glück« (KrV A 81/B 106) aufgezählt habe und
setzte dem ein anderes Begründungsmuster, nämlich entlang der Urteilsformen, entgegen. Kategorien heißen für Kant »diejenigen Grundbegriffe, die bei jeder Gegenstandserkenntnis in Anspruch genommen
werden müssen, insofern als alle Vorstellungsverknüpfungen im Urteil
nach den Einheiten jener Grundbegriffe geschehen«.4 So weit, so
klar, jedenfalls scheinbar.
Den entscheidenden Bruch im philosophischen Denken der Kategorien stellt Hegels Philosophie dar. Er warf der Tradition von Aristoteles bis Kant die »Inconsequenz« vor, sich der Urteilsformen als Leitfaden zu bedienen, indem sie aus den Grundstrukturen dessen, wie wir
uns urteilend auf Objekte beziehen, die Kategorien zu gewinnen versuchen, so als habe die Wirklichkeit die gleichen Kategorisierungen wie
unsere Urteilsformen. Doch »das Urteil ist Hegel zufolge für die Darstellung des Wahren prinzipiell unangemessen«.5 Die Dinge gehen
nie in der Logik des Urteilens auf, weil Kategorie und Wirklichkeit
niemals in Deckung zu bringen sind. Urteil, daran sei erinnert, ist
nach Hegel die »ursprüngliche Teilung«6, das Ur-Teilen, d.h. diejenige
Differenzierung, die überhaupt erst eine Erkenntnis ermöglicht. Qualitative Erkenntnis ist insofern nichts anderes als das Sehen von Differenzen, wo andere keine sehen. Wenn etwa Japaner zum ersten Mal
4. Chong-Fuk Lau: Hegels Urteilskritik. Systematische Untersuchungen zum
Grundproblem der spekulativen Logik, München 2004, S. 272.
5. Ebenda, S. 275.
6. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I (Werke
8), hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986,
S. 316 (§ 166).
241
Daniel Tyradellis
nach Europa reisen, kommt es immer wieder zum erstaunten Ausruf:
»Die sehen hier ja alle gleich aus!« Und vice versa. Das Beispiel legt es
nahe: Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass vor der Ur-Teilung eine Einheit bestünde, die es zu rekonstruieren gelte. Das Ur-Teilen ist ursprünglich.
Die notwendige Unzulänglichkeit der Urteilsform, d.h. der Widerspruch zwischen Urteil und beurteiltem Ding, ist der Motor der dialektischen Bewegung. Die Aufdeckung und Wiederauflösung latenter
Widersprüche im Begriff sind die Grundoperationen, die die Bewegung des Begriffs vorantreiben und damit die Geschichte der Philosophie und des Denkens. Für Hegel sind Kategorien zwangsläufig nur
willkürliche Abstraktionen des alltäglichen Denkens. Das aber, was die
Abstraktion selbst ist, ist der Begriff. Dieser ist das unausweichliche
Medium jedes Vergleichs. Er und nichts anderes muss Gegenstand
jeder Frage nach der Legitimität des Vergleichens sein. Er durchkreuzt
jede Kategorie. »Das eigentliche Urteilen über einen Gegenstand ist das
Vergleichen seiner Natur oder wahren Allgemeinheit mit seiner Einzelheit oder mit der Beschaffenheit seines Daseins, das Vergleichen dessen, was er ist, mit dem, was er sein soll.«7 Letzteres ist entscheidend: Der vorausgesetzte Begriff (als Fassung des Allgemeinen) ist
immer mehr als der Einzelfall, da er ein Sollen, d.h. die Gesamtheit des
Seins in sich trägt. Die geschichtliche Selbstbewusstwerdung des
Sollens im Begriff erfolgt über die Widersprüchlichkeiten des Vergleichens.
Eben diese Einsicht in die notwendige Differenz betont Martin
Heidegger in seiner seinsgeschichtlichen Würdigung Hegels in Identität und Differenz von 1957: »Hegel erwähnt einmal zur Kennzeichnung
der Allgemeinheit des Allgemeinen folgenden Fall: Jemand möchte in
einem Geschäft Obst kaufen. Er verlangt Obst. Man reicht ihm Äpfel,
Birnen, reicht ihm Pfirsiche, Kirschen, Trauben. Aber der Käufer weist
das Dargereichte zurück. Er möchte um jeden Preis Obst haben. Nun
ist aber doch das Dargebotene jedes Mal Obst und dennoch stellt sich
heraus: Obst gibt es nicht zu kaufen.«8
Für Hegel ist die Sache des Denkens das Sein hinsichtlich der
Gedachtheit des Seienden im absoluten Denken. Für Heidegger ist die
Sache des Denkens das Selbe (das Sein), aber das hinsichtlich seiner
Differenz zum Seienden, die Differenz als Differenz. Er kommentiert
diese Stelle: »Unendlich unmöglicher bleibt es, ›das Sein‹ als das All7. G.W.F. Hegel: »Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse«
(1808ff.), in: Ders.: Nürnberger und Heidelberger Schriften, Werke 4, Frankfurt am
Main 1986, § 168.
8. Martin Heidegger: Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 58.
242
Olive und Urkilo
gemeine zum jeweilig Seienden vorzustellen. Es gibt Sein nur je und je
in dieser und jener geschicklichen Prägung: physis, logos, en, idea, energeia, Substanzialität, Objektivität, Subjektivität, Wille, Wille zur Macht,
Wille zum Willen. Aber dies Geschickliche gibt es nicht aufgereiht wie
Äpfel, Birnen, Pfirsiche, aufgereiht auf dem Ladentisch des historischen Vorstellens.«9
Aus diesem Grund ist das, was darüber entscheidet, was legitime
und was illegitime Vergleiche sind, nicht in unsere Hand gelegt. Es
gehört zu den Evidenzen der Gegenwart, dass es weder vorgängige
Kategorien sind noch die Unhintergehbarkeit des Mediums Sprache,
die als selbstreferentielle Begriffslogik über die Rechtmäßigkeit von
Vergleichen zu urteilen in der Lage wären. Wir stehen in einem historischen Geschick, das uns Kulturwissenschaftler zwingt, tagtäglich
Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Für dieses Geschick wird man nur
ansatzweise Gründe angeben können. Im Folgenden seien hierzu einige Mutmaßungen angestellt.
II. Antithese
Noch einmal: Abstraktion besteht darin, das Unvergleichbare zu vergleichen, indem die unterschiedlichen Elemente unter eine Einheit
subsumiert werden. Eben dies ist der ewige Rhythmus der Wissenschaften: Begriffe zu bilden, die sukzessive präzisiert werden müssen,
um dann im nächsten Schritt wieder dekonstruiert zu werden.
Jede Wissenschaft hat ihren Gegenstand, und einen nicht unerheblichen Teil ihrer Zeit verwendet sie darauf, diesen Gegenstand zu definieren und vor den Imperialismen anderer Wissenschaften abzugrenzen. Dies gilt insbesondere für die verwendeten Begriffe, sind sie es
doch, an deren Bedeutungsspektrum sich die Kategorisierungen definieren. »Jeder Begriff verweist auf ein Problem, auf Probleme, ohne
die er keinen Sinn hätte und die selber nur nach Maßgabe ihrer Lösung herausgestellt oder begriffen werden können.«10 Was also ist das
Problem der kulturwissenschaftlichen Begriffsebene samt den von ihr
selbst gestellten Inhalten und ihrer institutionsgeschichtlichen Rolle?
Meine Vermutung wäre, dass es sich dabei um ein dreifaches Symptom handelt:
9. Ebenda. Die gemeinte Stelle bei Hegel: Enzyklopädie (wie Anm. 6),
S. 59 (§ 13). Von Äpfeln freilich ist dort nichts zu lesen.
10. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main
1996, S. 22.
243
Daniel Tyradellis
1. Seit Erfindung technischer Medien gibt es immer mehr Abstraktionsleistungen, die nicht auf die Arbeit des Begriffs zurückzuführen,
sondern genuine Leistungen eben dieser Medien sind. So definiert
etwa die Empfindlichkeit eines Messgeräts oder das Auflösungsvermögen von Bild- und Tonrekordern, was als kleinste Einheit registrierund speicherbar und damit wissenschaftlich zugänglich ist. Ausgehend
von mathematischen und praktisch-technischen Überlegungen werden
hierfür eigene Notationen mit genuinen Abstrakta gebildet. Die Differenzierungskapazität des sprachlichen Begriffs wird dabei anderen
Kausalitäten und Evidenzen unterworfen.11 Dies erzwingt ein Unterlaufen der sprachlich begründeten Kategorien, die die Vergleichsmöglichkeiten festlegen. Damit wird prinzipiell alles mit allem vergleichbar.
2. Die Geisteswissenschaften stehen vor einer Situation, die
Jacques Derrida mit der clôture der Metaphysik und mit einer damit
verbundenen »Erschöpfung« der Wissensgeschichte beschrieben hat.12
Babylonische Türme sind keine Warten, und intellektuelle Wolkenkratzer wie beispielsweise Zizeks Kritik an Agambens Auseinandersetzung mit Heideggers Deutung der Infragestellung Meister Eckharts
von Plotins Aristotelesinterpretation sind nicht beliebig in die Höhe zu
bauen. Immer deutlicher wird, dass die Möglichkeit der Vervielfältigung der zu behandelnden Themen endlich ist, und solange das
Pfingstwunder ausbleibt, sind die verschiedenen Wissenschaften auf
Einspeisungen angewiesen, die überlieferte Fakultätsgrenzen überspringen und damit neue Forschungsfelder und -inhalte eröffnen. Da
eine solche Aufweichung der Grenzen aber immer nur um den Preis
der Gefährdung der Eigenidentität erfolgen kann, führt dies zu einer
Lücke, die die Kulturwissenschaften auszufüllen beauftragt sind. Das
mag
3. davon beeinflusst sein, dass die geisteswissenschaftlichen Fakultäten unter dem Druck ökonomischer Phantasmen gezwungen sind,
sich zu verändern. Kulturwissenschaften suggerieren in ihrer unklaren
Selbstdefinition einen größeren praktischen Nutzen und dienen zum
Vorwand, andere Bereiche, die über klarere Kategorien und damit
Richtmaße für legitime und illegitime Vergleiche verfügen, wegzu11. Auch dieses Vermögen bleibt begrenzt. Alles, was unterhalb des technisch-symbolischen Aufzeichnungsvermögens liegt, kann in seiner individuellen
Vielfalt nicht berücksichtigt werden, sondern wird unumkehrbar eindeutig in die
darüber liegende Differenz aufgehoben. Aufhebung heißt hier: Reduktion auf die
Opposition von Existenz/Nichtexistenz. Darum bleibt jedes Wissen Magd der
Medien.
12. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 14 und
S. 20.
244
Olive und Urkilo
streichen. Das Fehlen solcher Kategorien definiert die Kulturwissenschaften. Ihr unerbittliches Gesetz lautet daher: Alles kann und soll mit
allem verglichen werden.
Der genialste Schachzug in diesem Prozess scheint mir im Begriff
des Mediums zu liegen. Dieser terminus technicus ist der Vergleichsbegriff par excellence: Medien gibt es überall. Eine ähnliche Funktion
haben Begriffe wie »Diskurs«, »Dispositiv«, »epistemisches Ding«.
Aber keiner verschaltet reale Technologie und geistigen Begriff so
schön wie das Wort Medium. Zumal es jede Substanzontologie unterläuft, da das Medium die Relation benennt, die vor jeder Substanz
dasjenige ist, was sie in ein Verhältnis setzt – das ist sein Hegelianismus. Das Medium legitimiert den Vergleich zwischen allem und ersetzt jede Kategorie. Denn praktisch alles kann in den Status des Mediums erhoben werden. Selbstredend ist auch die Olive und ist auch das
Urkilogramm ein Medium.
III. Prothese
Olive und Urkilogramm mögen beispielhaft sein für ein grundsätzliches Problem: die Stiftung und der Erhalt von Gemeinschaft. Die Olive
repräsentiert in diesem Vergleich die jüdische, das Urkilogramm die
moderne, säkulare Welt. Ein solcher Vergleich steht an der Schwelle
zum Illegitimen. Kann man jüdisch und modern/säkular einander
gegenüber stellen, als wären es Gegensätze oder zumindest, als wären
sie so verschieden, dass ein Vergleich möglich wäre? Das Judentum
kann tatsächlich als eines der wenigen historischen Gebilde angesehen
werden, das sich der völligen Vergleichbarkeit von allem mit allem
entzieht. Der Vergleich steht immer in der Gefahr, eine Relation herzustellen, die das zu Vergleichende so weit aneinander annähert, dass
das Spezifische verloren geht.
Nach der zweiten Zerstörung des Tempels und der damit verbundenen Zerstreuung der Juden entstand das Problem der steten Erneuerung der dislozierten Gemeinschaft. Hier kommt der Begriff des Mediums ins Spiel. Diese Situation führte dazu, dass die strengen Rituale
(das Judentum ist eine Gesetzesreligion; das macht die Unvergleichbarkeit mit dem Christentum aus) der Priester im Tempel auf die heimische Küche übertragen wurden. Im Talmud wurden die kanonisierten Speisegesetze niedergeschrieben, so etwa das Gebot, nach jeder
Speise das Dankgebet zu sprechen oder am Pessachfest die vorgeschriebenen Speisen zu sich zu nehmen. Doch wie viel muss man
essen, damit es als hinreichende Speise gilt? Um dies zu definieren,
wurde es nötig, für die verschiedenen aus der Tora abgeleiteten Speise245
Daniel Tyradellis
gesetze eine Maßeinheit zu definieren, die jedem gläubigen Juden die
sichere Einhaltung bestimmter Mengen erlaubte.
In historischer Ermangelung internationaler Normausschüsse
entschied man sich dazu, allgemein verbreitete Nahrungsmittel, die
jeder kannte, als Richtschnur zu verwenden. Und so wurde die Olive
(kesajit) zu einer transzendentalen Maßeinheit des Judentums: Alles,
was kleiner ist als eine Olive, ist ein bedeutungsloser Happen, und
man muss das Dankgebet nicht sprechen. An Pessach muss man entsprechend mindestens ein olivengroßes Stück von jeder der vorgeschriebenen Speisen essen, um nicht in Konflikt mit den religiösen
Gesetzen zu treten.
Natürlich führte dies zu Diskussionen darüber, wie groß denn eine
Olive nun eigentlich sei, und heute kann man in den USA Bücher
kaufen, in denen ein Stück Gurke, Popcorn oder Toastbrot abgebildet
sind, die genau der Größe einer Olive entsprechen, damit man als
lernender Jude ein Gefühl für die alles entscheidende Größe bekommt.
Auch wenn dies seltsam erscheinen mag: »In einer zerstreuten Gemeinschaft, deren Zentrum in der Schrift und der verbindlichen Auslegung ihrer Zeichen durch religiöse Autoritäten liegt, ist eine genaue
Definition der Normen und Gesetze unabdingbar, um den Zusammenhalt zu gewährleisten.«13
Damit dürfte klar sein, worin die Vergleichbarkeit von Olive und
Urkilogramm besteht: Beide sind verbindliche Maßeinheiten, geschaffen, um Einheit zu stiften. Das Kilogramm wurde nach der Französischen Revolution eingeführt. Die Experten bezogen sich nicht mehr
auf das Gotteswort, sondern machten etwas »Natürliches«, nämlich
den Globus zum Richtmaß: Der 40.000.000ste Teil des Erdmeridians
wurde als neue Einheit festgelegt. Das damit geschöpfte »Meter« bildete die Basis für die Berechnung des neuen Gewichts namens Kilogramm. Ab 1. Januar 1872 wurde dieses Gewichtssystem per gesetzlichen Beschluss auch in Deutschland eingeführt und ersetzte die vielen
regionalen Quentchen, Loth und Pfunde. Um den Vergleich noch weiter zu treiben: Auch hier sind die Diskussionen über das Gewicht eines
Kilogramms nicht abgerissen, stellte sich doch heraus, dass das Urkilogramm seit seiner Einführung 0,00005 Gramm an Gewicht verloren
hat. Die Wissenschaftler suchen deshalb nach einer neuen Definition
des Maßes, die für die Ewigkeit halten soll.
Was bringt ein solcher, hier nur angedeuteter Vergleich? Zum
einen ein Bewusstsein dafür, dass jeder Vergleich auf eine transzen13. Eva Kudraß: »Die Küche. Das Gewicht der Zeichen«, in: Daniel Tyradellis, Michal S. Friedlander (Hg.): 10+5=Gott. Die Macht der Zeichen, Köln 2004,
S. 202.
246
Olive und Urkilo
dentale Größe zurückgreifen muss, sei es im Falle des Judentums das
(vermutliche) Wort Gottes, sei es im Fall der Einigung Deutschlands
der (vermutliche) Umfang der Erde, seien es im Falle des Seins die
(vermutlichen) Kategorien des Seienden.
Vor allem aber macht der Vergleich von Olive und Urkilo deutlich,
dass seltsame Riten weniger seltsam werden, wenn man sie mit Riten,
die als solche nicht auffallen, vergleicht. Sie mögen Verständnis für das
Andere wecken, und Letzteres scheint eines der wenigen Prinzipien zu
sein, die allgemeine Anerkennung in den Kulturwissenschaften und in
den westlichen Geisteswissenschaften überhaupt genießen. In den
Kulturwissenschaften gibt es ansonsten, von solchen eher moralisch zu
verstehenden Schranken abgesehen, keine illegitimen Vergleiche. Dies
ist möglicherweise ein Seinsgeschick.
Unter der Kapitelüberschrift »Von den ersten und letzten Dingen«
in Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches findet sich folgende Gegenwartsdiagnose: »Es ist das Zeitalter der Vergleichung. Das ist sein
Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die
Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die
abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiß, als über die
Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.«14
Wo es keine Spekulation, also kein Überblicken mehr gibt, das das,
was ist, mit dem, was sein soll, zu vergleichen in der Lage wäre, bleibt
nur das Weitermachen, das heißt, das enervierende Gesetz der Kulturwissenschaften zu prozedieren: Es gibt keine illegitimen Vergleiche.
Specula, das heißt laut Stowasser auch die »schwache Hoffnung«.
14. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Bd. 2, hrsg. von Giorgio
Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 44f.
247
Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren
Jörn Ahrens, Dr. phil., Kulturwissenschaftler, Feodor Lynen Stipendiat
der Alexander von Humboldt-Stiftung und Visiting Scholar am Center
for Comparative Media Studies des MIT/USA; Arbeitsschwerpunkte:
Genealogie der Moderne, Historische Anthropologie, Fragen der Biowissenschaften, der Arbeit, des Todes, der Gewalt, des Films und des
Mythos; letzte Veröffentlichungen: Ödipus. Politik des Schicksals, Bielefeld 2004; »Mensch oder Embryo? Die gesellschaftliche Unbestimmtheit frühembryonaler Lebensformen«, in: Handlung Kultur Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften 1/2005; »Freedom
and Sovereignty. A Fatal Relationship Outlined with Jean-Luc Nancy
and Marquis de Sade«, in: Law & Critique. Journal for Critical and Postmodernist Legal Studies 2/2005. Kontakt: ahrensj@mit.edu
Elisabeth Bronfen, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich. Spezialgebiete: Anglo-Amerikanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, gender studies, Psychoanalyse,
Film und Kulturwissenschaften. Veröffentlichungen (Auswahl): Nur
über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (in einer überarbeiteten
Neuauflage bei Königshausen und Neumann 2004); Das Verknotete
Subjekt. Hysterie in der Moderne (1998); Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood (1999); Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film (2004). Momentane Forschungsgebiete sind eine Kulturgeschichte der Nacht, eine Studie zu Pop Art
und Hollywood-Kino, eine Einführung in Stanley Cavell sowie eine
Studie über Kriegskino. Kontakt: bronfen@es.unizh.ch
Silke Förschler, M.A., Kunsthistorikerin, zurzeit Stipendiatin des Graduiertenkollegs Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (18.-21.Jahrhundert) an der Universität Trier mit dem Dissertationsprojekt Haremsdarstellungen. Medienhistorische Untersuchungen
zu geschlechtlicher und kultureller Differenz im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literatur
und Theaterwissenschaft in Tübingen, Zürich und Berlin. Herausge249
Autorinnen und Autoren
berschaft mit Susanne von Falkenhausen, Ingeborg Reichle und Bettina Uppenkamp: Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code, Marburg
2004, sowie mit dem Graduiertenkolleg Identität und Differenz: Ethnizität und Geschlecht. (Post)koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst
und Medien, Köln 2005. Kontakt: sfoerschler@gmx.de
Steffen Greschonig, Dr. phil., Literatur- und Kulturwissenschaftler,
Studium der deutschen Literatur, der Sprach- und Politikwissenschaft
in Konstanz und Aix-en-Provence, Promotion im Rahmen des Regensburger DFG-Graduiertenkollegs Kulturen der Lüge. Publikationen (Auswahl): Utopie – Literarische Matrix der Lüge. Eine Diskursanalyse fiktionalen und nicht-fiktionalen Möglich- und Machbarkeitsdenkens, Frankfurt
am Main 2005; Herausgeberschaft zusammen mit Christine S. Sing:
Ideologien zwischen Lüge und Wahrheitsanspruch, Wiesbaden 2004;
»Divination Lost. Blickauslöschung von Geschöpf und Schöpfer in
E.T.A. Hoffmanns ›Sandmann‹ und Ridley Scotts ›Blade Runner‹«, in:
Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 3/2005. Kontakt: greschonig@yahoo.de.
Julia B. Köhne, Dr., M.A., hat Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und dort
zum Thema Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken
militärpsychiatrischen Wissens (1914-1920) promoviert. Seit April 2005
ist sie Assistentin am Institut für Zeitgeschichte an der Universität
Wien (Schwerpunkt visuelle Zeit- und Kulturgeschichte). Einen Forschungsschwerpunkt bilden kulturwissenschaftliche, gender- und medientheoretische Fragen in Spiel- und Dokumentarfilmen sowie in wissenschaftlichen Filmen. Zusammen mit Arno Meteling und Ralph
Kuschke hat sie Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin
2005 herausgegeben. Kontakt: Julia.Koehne@univie.ac.at
Karsten Lichau, Dipl.-Päd., Studium der Erziehungswissenschaft in Tübingen, Berlin und Paris, Mitglied des Graduiertenkollegs Körper-Inszenierungen der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Gesicht und
Maskerade, Historische Anthropologie des Körpers, Phänomene »kultureller Resonanz«. Veröffentlichungen: Die offene Maske. Zur Inszenierung des Körpers durch »häßliche Gesichter«, Berlin 2000; »SurFaces InterFaces« in: Birgitta Qvarsell, Christoph Wulf (Hg.): Culture and Education, Münster 2003. Kontakt: lichau@gmx.net
Helga Lutz, Dr., Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in Heidelberg und Berlin. 1999 Promotion mit einer
Arbeit zu den Texten und Zeichnungen von Unica Zürn an der HU
250
Autorinnen und Autoren
Berlin. 2000 bis 2002 Forschungsaufenthalt an der University of California, Berkeley. 2002 bis 2004 Postdoktorandin am Graduiertenkolleg Codierung von Gewalt im medialen Wandel der HU Berlin. Derzeit
wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs Mediale Historiographien der Universitäten Weimar, Erfurt und Jena sowie Lehrbeauftragte der Universität Erfurt. Publikationen im Kontext von Psychoanalyse und zeitgenössischer Kunst und Literatur. Das gegenwärtige
Forschungsprojekt behandelt die Frage nach den Möglichkeiten einer
Mediatisierung von Angst und Unheimlichkeit. Kontakt: Helga.Lutz
@uni-erfurt.de
Jan-Friedrich Mißfelder, M.A., Studium der Geschichte, Musikwissenschaft und Politikwissenschaft in Göttingen, Berlin und Leicester (GB);
zwischen 2001 und 2004 assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs
Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der HU Berlin; seit Mai
2004 Assistent am Historischen Seminar der Universität Zürich. Arbeiten zur politischen Ideengeschichte, der Kultur- und Religionsgeschichte Deutschlands und Frankreichs in der Frühen Neuzeit sowie
der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Jüngste Veröffentlichungen: Herausgeberschaft zusammen mit Ute Lotz-Heumann
und Matthias Pohlig: Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit,
Gütersloh 2006; »Die Gegenkraft und ihre Geschichte. Carl Schmitt,
Reinhart Koselleck und der Bürgerkrieg«, in: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte (2006); »Die Körnung der Platte. Über das Hören
historischer Opernaufnahmen«, in: Ästhetik und Kommunikation 122
(2004). Kontakt: missfelder@gmx.de
Iulia-Karin Patrut, Dr., M.A., studierte Germanistik und Angewandte
Kulturwissenschaften u.a. in Bukarest und Lüneburg, danach Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität Lüneburg; derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt C 5 Fremde im eigenen Land.
Zur Semantisierung der ›Zigeuner‹ vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
des SFB 600 Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Promotion im Rahmen des
Graduiertenkollegs Identität und Differenz an der Universität Trier mit
der Arbeit Schwarze Schwester – Teufelsjunge. Ethnizität und Geschlecht
bei Paul Celan und Herta Müller. Forschungsschwerpunkte: Fremdheitsdarstellungen in der Literatur, Interkulturalität, postkoloniale
Theorie, gender theory, Literatur der Bukowina und des Banats; Kontakt: patrut@uni-trier.de
251
Autorinnen und Autoren
Markus Rautzenberg, M.A., studierte Germanistik, Philosophie und
Theaterwissenschaften in Berlin und promoviert zurzeit am Fachbereich Philosophie der FU Berlin als Stipendiat des Graduiertenkollegs Körper-Inszenierungen, Thema: Das Reale der Medien. Zu einer Theorie medialer Störungen (Arbeitstitel). Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie, Ästhetik, Semiotik, Spieltheorie, Philosophie des 20. Jahrhunderts,
Ästhetik digitaler Medien. Letzte Veröffentlichungen: »Jenseits medialer Unmittelbarkeit«, in: Grenzen und Schwellenerfahrungen, Sprache
und Literatur Band 95, 36. Jahrgang 2005, 1. Halbjahr und »Vom Rausch(en) des Realen. Zur Geburt des Unheimlichen aus dem Geist des
Mediums in ›Silent Hill 2‹«, in: Britta Neitzel, Matthias Bopp, Rolf F.
Nohr (Hg.): See? I’m real … Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ›Silent Hill‹, Münster 2005. Kontakt: mrautzen
berg@arcor.de
Tilo Renz, M.A., Studium der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Straßburg, Heidelberg und Berlin. Magisterabschluss 2002
an der Berliner Humboldt-Universität mit einer Arbeit zu Gewalthandlungen weiblicher Figuren im Gegenwartskino. Danach Stipendiat im
Graduiertenkolleg Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der HU
Berlin sowie Visiting Scholar am German Department der University
of California, Berkeley. Seit November 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg. Arbeit
an einer Dissertation zu Geschlechterverhältnissen und Körperkonzepten im Nibelungenlied. Letzte Publikationen: »Gewalt weiblicher Figuren als resignifizierendes Sprechen. ›Thelma and Louise‹, ›Baise-moi‹
und Judith Butlers Politik des Performativen«, in: Jochen Fritz, Neil
Stewart (Hg.): Das schlechte Gewissen der Moderne. Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur und Film nach 1968, Köln/Weimar 2006,
sowie »Brünhilds Kraft. Zur Logik des einen Geschlechts im ›Nibelungenlied‹«, in: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006). Kontakt: tilo.z@
gmx.net
Wiebke-Marie Stock, M.A., hat in Heidelberg, Paris und Berlin Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft studiert. Seit Januar
2004 ist sie Mitglied des Graduiertenkollegs Körper-Inszenierungen (FU
Berlin). Sie arbeitet an einer Dissertation zu Dionysius Areopagita.
Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Bildphilosophie, Religionsphilosophie, Spätantike. Publikationen: Geschichte des Blicks. Zu Texten von Georges Didi-Huberman, Berlin 2004. Übersetzungen: François Bœspflug:
Trinität. Dreifaltigkeitsbilder im späten Mittelalter, Paderborn 2001; Georges Didi-Huberman: L’Œil s’ouvre, la lampe s’éteint. Remarque sur
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Autorinnen und Autoren
Bergson et la cinématographie (in Vorbereitung); Ders: Immobile à grands
pas (in Vorbereitung); Jean Wirth: La contestation de l’image de l’An Mille
à la veille de la Réforme (in Vorbereitung). Kontakt: wstock@gmx.de
Alexandra Tacke, M.A., studierte Philosophie, Germanistik und Italianistik in München, Chicago und Berlin. Sie war Stipendiatin des Graduiertenkollegs Codierung von Gewalt im medialen Wandel der Humboldt-Universität und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Lehrstuhl Geschlechterproblematik im literarischen Prozess am Institut für
deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Zurzeit stellt
sie ihre Dissertation Berührende und bewegende (Bild-)Räume: Körperlichkeit und Raumwahrnehmung bei Rebecca Horn fertig. Neben der Literatur der Gegenwart gilt ihr Interesse kulturwissenschaftlichen und
interdisziplinären Fragestellungen wie der Darstellung von Blindheit
und Blendung in Literatur, Film und bildender Kunst sowie der Formierung und Re-formulierung von Künstlermythologien und -topoi im
Bildungs- und Künstlerroman. Weitere Forschungsschwerpunkte sind
die medienübergreifende Untersuchung des Frauen- und Männerbildes sowie die Betrachtung von Buchwerken, d.h. sowohl von Künstlerbüchern als auch von Buchobjekten. Kontakt: alexandra.tacke@rz.huberlin.de
Daniel Tyradellis, Dr., Studium der Philosophie, Wissenschaftstheorie
und Mediengeschichte in Köln, Bochum, Wien und Berlin. 2003 Promotion mit einer Arbeit zu Phänomenologie und Mathematikgeschichte an der HU Berlin. 2000-2002 Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg
Codierung von Gewalt im medialen Wandel, 2004-2006 als Postdoktorand. Zahlreiche Lehraufträge und Publikationen zu Philosophie und
Mediengeschichte. Gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt: Konversion und Konvertierung von Menschen und Daten. Wissenschaftlicher
Leiter kultur- und wissenschaftsgeschichtlicher Ausstellungen, u.a.
10+5=Gott. Die Macht der Zeichen (Jüdisches Museum Berlin, 2004);
zurzeit Kurator der Ausstellung Schmerz im Hamburger Bahnhof/ Medizinhistorischen Museum Berlin. Publikationen u.a.: Konkrete Soziologie (gemeinsam mit Dieter Claessens), Opladen 1997; 10+5=Gott (Herausgeberschaft mit Michal Friedlander), Köln 2004; Untiefen, Würzburg 2006; PSYCHOanalyse (Herausgeberschaft mit C. Kugelmann
und N. Lepp), Berlin 2006. Kontakt: tyradellis@web.de
Horst Wenzel, Prof. Dr., seit 1993 Professor für Ältere deutsche Philologie an der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte:
Höfische Literatur, Verhältnis von Text und Bild sowie Medienge-
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Autorinnen und Autoren
schichte; Gründungsmitglied des Hermann von Helmholtz-Zentrums
für Kulturtechnik der HU Berlin; Gastprofessuren an der University of
California, Berkeley; University of Washington, Seattle; Washington
University, St. Louis; University of Columbus, Ohio. Publikationen
(Auswahl): Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis
im Mittelalter, München 1995; Höfische Repräsentation. Symbolische
Kommunikation und Literatur im Mittelalter, Darmstadt 2005; Herausgeberschaft in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger und Peter Strohschneider: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Text- und Bildzeugnissen, Berlin 2005. Kontakt: horst.wenzel@rz.
hu-berlin.de
254
Abbildungsnachweis
Abbildungsnachweis
Jörn Ahrens: Menschen-Bilder
Abb. 1:
Frühembryonale Lebensform (Mehrzeller), aus: Lennart
Nilsson, Lars Hamberger: Ein Kind entsteht, übersetzt von
Lothar Schneider, München 2003.
Abb. 2:
Maria Gravida, Karlsruhe, Landesbibliothek, Wonnenthaler Graduale, aus: Gregor Martin Lechner: Maria Gravida.
Zum Schwangerschaftsmotiv in der bildenden Kunst, München/Zürich 1981.
Abb. 3:
Lennart Nilsson: Embryonendarstellung, aus: Lennart Nilsson, Lars Hamberger: Ein Kind entsteht, übersetzt von Lothar Schneider, München 2003.
Silke Förschler: Odaliske reproduziert
Abb. 1:
Jean-Auguste-Dominique Ingres, Die große Odaliske, 1814,
Öl auf Leinwand, 91x162 cm, Musée du Louvre, Paris,
aus: Uwe Fleckner: Jean-Auguste-Dominique Ingres. Meister
der französischen Kunst, Köln 2000, S. 8.
Abb. 2:
Ambroise Richebourg, Étude de nu, 1851-1855, Daguerréotype stéréoscopique, 8x17 cm, Bibliothèque nationale de
France, Estampes, Paris, aus: Ausstellungskatalog L’Art
du nu au XIXe siècle, le photographe et son modèle, Paris
1997, S. 27.
Abb. 3:
Auguste Belloc, Nu féminin allongé, 1855-1860, Papier salé
d’après négatif verre au collodion, 15x19,5 cm, Bibliothèque nationale de France, Estampes, Paris, aus: Ausstellungskatalog L’Art du nu au XIXe siècle, S. 58.
Abb. 4:
Louis-Camille d’Olivier, Étude de nu, 1855, Papier salé
d’après négatif verre au collodion, 24,5x31,5 cm, Bibliothèque nationale de France, Estampes, Paris, aus: Ausstellungskatalog L’Art du nu au XIXe siècle, S. 59.
Abb. 5:
Louis-Camille d’Olivier, Étude de nu, 1855, Papier salé
d’après négatif verre au collodion, 24,5x31,5 cm, Biblio255
Abbildungsnachweis
thèque nationale de France, Estampes, Paris, aus: Ausstellungskatalog L’Art du nu au XIXe siècle, S. 59.
Julia B. Köhne: Krieg spielen
Abb. 1:
Filmstill aus Battle of the Somme von 1916, zitiert in The
Trench, BBC Two Bristol, Real-Life-Documentary, Produzent: Dick Colthurst, ausgestrahlt am 20.2. (58,00 min.),
18.3. (58,05 min.), 25.3. (58,30 min.) 2002. Bildrechte:
BBC London.
Abb. 2:
Filmstill aus The Trench, BBC Two Bristol.
Abb. 3:
Filmstill aus The Trench, BBC Two Bristol.
Abb. 4:
Filmstill aus The Trench, BBC Two Bristol.
Karsten Lichau: Kunst des Ver-Gleichens
Abb. 1:
Titelvignette, Kupferstich von Daniel Nikolaus Chodowiecki, aus: Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. I, Hildesheim 2002 [Nachdruck der Ausgabe
Leipzig und Winterthur 1775], Titelblatt.
Abb. 2:
Kupferstich nach Charles Le Brun, aus: Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 60.
Abb. 3:
Textseite »Physiognomische Übungen« und Bildseite
(Profile, Kupferstich), o.N., aus: Johann Kaspar Lavater:
Physiognomische Fragmente, Doppelseite 186f.
Abb. 4:
Textseite »Physiognomische Übungen« und Bildseite
(»Sechs männliche Silhouetten«), o.N., aus: Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Fragmente, Doppelseite 190f.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin.
Wiebke-Marie Stock: Lichtmetaphysik und Fotografie
Abb. 1:
Philotheos ho Sinaitês: »Neptika Kephalaia«, in: Ders.:
Philokalia tôn hierôn nêptikôn, Bd. 2, Athen 1958, S. 272286, hier S. 282, § 23.
256
Abbildungsnachweis
Alexandra Tacke: Aus dem Rahmen (ge-)fallen
Abb. 1:
Vanessa Beecroft: VB 48, Performance im Palazzo Ducale,
Genua, 2001, Digital C-Print, Courtesy Lia Rumma.
Abb. 2:
Vanessa Beecroft: VB 48.
Abb. 3:
Vanessa Beecroft: VB 51, Aus: Presse-CD-ROM zur Ausstellung Vanessa Beecroft in der Kunsthalle Bielefeld (9.
Mai bis 22. August 2004).
Abb. 4:
Vanessa Beecroft: VB 51.
Abb. 5:
Vanessa Beecroft: VB 51, Cover der Broschüre zur Performance im Schloss Vinsebeck.
Horst Wenzel: Initialen in der Manuskriptkultur
Abb. 1:
Icon: Arbeitsfläche Bildschirm, Screenshot 2005.
Abb. 2:
Initiale: Arbeitsfläche Pergament, Norddeutsche Bibel
(um 1255), Kopenhagen, Königliche Bibliothek Ms 4,2o,
fol. 183 v., aus: Christopher de Hamel: A History of Illuminated Manuscripts, London 1994, S. 87.
Abb. 3:
Initialen: Musterbuch, Musterbuch des Stephan Schriber
(Ende des 15. Jahrhunderts), München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 420, fol. 12r., aus: Josef Kirmeier,
Alois Schütz, Evamaria Brockhoff (Hg.): Schreibkunst. Mittelalterliche Buchmalerei aus dem Kloster Seeon, Katalog zur
Ausstellung im Kloster Seeon 28. Juni bis 3. Oktober
1994, Augsburg: Haus der Bayerischen Geschichte 1994,
S. 119.
Abb. 4:
Icons: Desktop, Screenshot 2005.
Abb. 5:
Initialen: Seitengliederung. Heinrich von Mügeln: Valerius-Maximus-Auslegung, Berliner Fragment (um 1470-80),
Staatsbibliothek zu Berlin SBB-PK, Hs. 404, fol. 143r.,
aus: Peter Jörg Becker, Eef Overgaauw (Hg.): Aderlaß und
Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge
NF 48, Mainz 2003, S. 188.
Abb. 6:
I-Initiale: In dem anfang, Deutsche Bibel, Augsburg, Günther Zaimer (1475/76), Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bibel-S. 2o19.
Abb. 7:
D-Initiale: Zeiger, Ezechiel-Kommentar (um 1168-83),
Stonyhurst College, Ms 7., fol. 3 v., aus: de Hamel: A History of Illuminated Manuscripts, S. 105.
257
Abbildungsnachweis
Abb. 9:
Abb. 10:
Abb. 11:
Abb. 12:
Abb. 13:
Abb. 14:
Abb. 15:
Abb. 16:
Abb. 17:
R-Initiale: Resurrexi, Salzburger Missale, Regensburg
(nach 1482), Bayer. Staatsbibliothek München, Clm.
15709, fol. 143r.
S-Initiale: Sanct Augustinus, Christus-Monogramm, Humbertus de Romanis: Erklärung der Augustinerregel (1480),
Straßburg, Magdalenenkloster, Ms. germ. qu. 1877, 2o/
3r., aus: Peter Jörg Becker, Tilo Brandis (Hg.): Glanz alter
Buchkunst. Mittelalterliche Handschriften der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ausstellungskataloge
33, Wiesbaden 1988, S. 202.
Q-Initiale: Quatuor virtutum. Formula vitae honestae
(Martinus Bracarensis), Theologisch-asketische Sammelhandschrift (Mitte 15. Jh.), Staatsbibliothek Berlin, Ms.
theol. lat. qu. 348, 80 v., aus: Becker, Brandis (Hg.): Glanz
alter Buchkunst, S. 257.
Figurenalphabet: Buchstabe A, »Series Nova« aus dem
16. Jahrhundert, Wien, Nationalbibliothek, ms. s.n.
299ff., Nr. 26.
Figurenalphabet: Buchstabe C, »Series Nova«, ms. s.n.
299ff., Nr. 28.
Buchstabe G: Konstruktionszeichnung, aus: Albrecht Dürer: Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit, Faksimile-Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1525,
mit einer Einführung von Matthias Mende, 3. Aufl. Nördlingen 2000, nicht paginiert (K iiiii).
W-Initiale: Wir reiten, aus: Karl Ginzkey: Der von der Vogelweide, Berlin 1912, S. 253.
Digitale Icons: Explorer, Winword, Quick Time, Netscape,
Photoshop, ACDSee Classic, Nero Express, Screenshot
2005.
Icon: Vines-Login, Einweisung in das Programm, Screenshot 2005.
Q-Initiale: Quinque, Einweisung in die Handschrift, Sitticum-Collection (12. Jh.), Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 650, f. 35 v., aus: Natasa Golob: TwelfthCentury Cistercian Manuscripts: The Sitticum Collection,
Ljubljana 1996, S. 151.
^
Abb. 8:
258
Kultur- und Medientheorie
Vittoria Borsò,
Heike Brohm (Hg.)
Transkulturation
Literarische und mediale
Grenzräume im deutschitalienischen Kulturkontakt
Annett Zinsmeister (Hg.)
welt[stadt]raum
mediale inszenierungen
Dezember 2006, ca. 280 Seiten,
kart., ca. 26,80 €,
ISBN: 3-89942-520-0
Jutta Zaremba
New York und Tokio
in der Medienkunst
Urbane Mythen zwischen
Musealisierung und
Mediatisierung
Simone Dietz,
Timo Skrandies (Hg.)
Mediale Markierungen
Studien zur Anatomie
medienkultureller Praktiken
Dezember 2006, ca. 270 Seiten,
kart., ca. 26,80 €,
ISBN: 3-89942-482-4
Susanne Regener
Visuelle Gewalt
Menschenbilder aus
der Psychiatrie des
20. Jahrhunderts
Dezember 2006, ca. 220 Seiten,
kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €,
ISBN: 3-89942-420-4
Peter Rehberg
lachen lesen
Zur Komik der Moderne
bei Kafka
Dezember 2006, ca. 224 Seiten,
kart., ca. 24,80 €,
ISBN: 3-89942-577-4
Nic Leonhardt
Piktoral-Dramaturgie
Visuelle Kultur und Theater im
19. Jahrhundert (1869-1899)
Oktober 2006, ca. 160 Seiten,
kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €,
ISBN: 3-89942-419-0
Oktober 2006, 236 Seiten,
kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €,
ISBN: 3-89942-591-X
Georg Stauth,
Faruk Birtek (Hg.)
›Istanbul‹
Geistige Wanderungen aus der
›Welt in Scherben‹
Oktober 2006, ca. 280 Seiten,
kart., ca. 27,80 €,
ISBN: 3-89942-474-3
Constanze Bausch
Verkörperte Medien
Die soziale Macht televisueller
Inszenierungen
Oktober 2006, ca. 250 Seiten,
kart., ca. 25,80 €,
ISBN: 3-89942-593-6
Bettina Mathes
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Das Geschlecht in den Medien
Oktober 2006, ca. 220 Seiten,
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ISBN: 3-89942-534-0
November 2006, ca. 350 Seiten,
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Hedwig Wagner
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Zum Verhältnis von Gender
und Medium
Oktober 2006, ca. 320 Seiten,
kart., ca. 28,80 €,
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Medienwissenschaftliche
Perspektiven auf ein
TV-Format
Oktober 2006, ca. 320 Seiten,
kart., ca. 29,80 €,
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Migration, Interkulturalität und
Rückkehr in der frankophonen
Literatur
Oktober 2006, ca. 280 Seiten,
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Ursula Link-Heer,
Ursula Hennigfeld,
Fernand Hörner (Hg.)
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Eros und Gesellschaft bei
Proust und Colette
Oktober 2006, 282 Seiten,
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Fernsehpublikum
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Reproduktion eines neuen
Mediums
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Digitale Medienkultur
Wahrnehmung – Konfiguration
– Transformation
Oktober 2006, ca. 250 Seiten,
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September 2006, 234 Seiten,
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Petra Leutner,
Hans-Peter Niebuhr (Hg.)
Bild und Eigensinn
Über Modalitäten der
Anverwandlung von Bildern
Helga Lutz,
Jan-Friedrich Mißfelder,
Tilo Renz (Hg.)
Äpfel und Birnen
Illegitimes Vergleichen in den
Kulturwissenschaften
Oktober 2006, ca. 180 Seiten,
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Medialität im modernen
Horrorfilm
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Jenseits der Sterne
Gemeinschaft und Identität in
Fankulturen.
Zur Konstitution des Star
Trek-Fandoms
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Kultur- und Medientheorie
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der Reiseliteratur des
19. Jahrhunderts
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Juli 2006, 94 Seiten,
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Martin Pfleiderer
Rhythmus
Psychologische, theoretische
und stilanalytische Aspekte
populärer Musik
Michael Treutler
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Zu den Grundlagen eines
›medienökonomischen
Menschen‹
August 2006, 390 Seiten,
kart., 30,80 €,
ISBN: 3-89942-515-4
Juli 2006, 282 Seiten,
kart., 26,80 €,
ISBN: 3-89942-514-6
Antje Krause-Wahl,
Heike Oehlschlägel,
Serjoscha Wiemer (Hg.)
Affekte
Analysen ästhetisch-medialer
Prozesse. Mit einer Einleitung
von Mieke Bal
Petra Gropp
Szenen der Schrift
Medienästhetische Reflexionen
in der literarischen Avantgarde
nach 1945
August 2006, 196 Seiten,
kart., 24,80 €,
ISBN: 3-89942-459-X
Barbara Becker,
Josef Wehner (Hg.)
Kulturindustrie reviewed
Ansätze zur kritischen
Reflexion der Mediengesellschaft
August 2006, 296 Seiten,
kart., 27,80 €,
ISBN: 3-89942-430-1
Juli 2006, 450 Seiten,
kart., 32,80 €,
ISBN: 3-89942-404-2
Ralf Adelmann,
Jan-Otmar Hesse,
Judith Keilbach,
Markus Stauff,
Matthias Thiele (Hg.)
Ökonomien des Medialen
Tausch, Wert und Zirkulation
in den Medien- und
Kulturwissenschaften
Juli 2006, 338 Seiten,
kart., 19,80 €,
ISBN: 3-89942-499-9
Regina Göckede,
Alexandra Karentzos (Hg.)
Der Orient, die Fremde
Positionen zeitgenössischer
Kunst und Literatur
Juli 2006, 214 Seiten,
kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €,
ISBN: 3-89942-487-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter:
www.transcript-verlag.de