Herrnhaag
Der Herrnhaag ist eine Siedlung in der Gemarkung des Büdinger Stadtteils Lorbach im hessischen Wetteraukreis. Sie liegt zwischen den Stadtteilen Lorbach, Diebach und Vonhausen.
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Herrnhaag wurde im Jahre 1738 durch den Grafen von Zinzendorf gegründet, der hier mit der Herrnhuter Brüdergemeine, einer lutherisch-pietistischen Glaubensgemeinschaft, Zuflucht fand. Nach der Verbannung aus Sachsen 1736 fanden die Glaubensflüchtlinge zunächst Unterschlupf auf der Ronneburg. Als der Platz dort nach zwei Jahren zu knapp wurde, zogen die Brüder auf Einladung des Grafen Ernst Casimir zu Ysenburg und Büdingen in Büdingen auf den in Sichtweite befindlichen Herrnhaag.
Die Konzeption der Gebäude und der Siedlung folgten dem Plan, das „Leben“ einer Lebens- und Dienstgemeinschaft zu verwirklichen, indem Standesunterschiede weitestgehend aufgehoben waren. Die Menschen lebten und arbeiteten gemäß ihrer Lebenssituation, z. B. ledig oder verwitwet, in sogenannten Chorhäusern zusammen. Daneben gab es aber auch Familienhäuser.[1] Dabei war der 1738 entstandene quadratische, kreuzförmige geteilte Siedlungsgrundriss wegen der Schutzfunktion des Kreuzes religiös motiviert.[2]
Als Graf Gustav Friedrich von Ysenburg und Büdingen in Büdingen, der Sohn und Nachfolger von Graf Ernst Casimir, von den Glaubensbrüdern einen Untertaneneid forderte, um die wirtschaftlich und missionarisch erfolgreiche Gemeinde an die Grafschaft Büdingen zu binden, verweigerten sich alle Mitglieder der Brüdergemeine. Der Graf verfügte daraufhin in einem Emigrationsedikt vom 12. Februar 1750 die Auflösung und die Ausweisung innerhalb einer Frist von drei Jahren. Die damals 18 Häuser und rund 1000 Menschen umfassende Gemeinschaft wurde deshalb schon 1753 wieder aufgelöst.
Der Herrnhaag war Ausbildungs- und Ausgangsort für weitere Missionen der Brüdergemeine in verschiedenen Teilen Afrikas, Grönlands und Nordamerikas. Nach der politisch erzwungenen Aufgabe des Herrnhaags zerstreuten sich die Bewohner in die Welt und gründeten unter anderem Missionen in Nord-, Mittel- und Südamerika, in Europa sowie im Norden Indiens.
Seitdem diente die Siedlung unter anderem als
- Sommersitz der Grafen zu Ysenburg-Büdingen-Büdingen
- Lager der Truppen Napoléons
- Quartier des Reichsarbeitsdienstes – Das geschlossene Lager wurde im Spätherbst 1932 im „Grafenhaus“ für den freiwilligen Arbeitsdienst eingerichtet. Etwa 150 Personen im Alter von 18 bis 25 Jahren hielten sich dort unter militärischer Disziplin auf. Die Arbeitspflichtigen wurden beim Straßenbau in Diebach am Haag, Hain-Gründau und Mittelgründau eingesetzt.[3]
- Gefangenenlager während der Zeit des Nationalsozialismus
Heutige Nutzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Verein der Freunde des Herrnhaag
- die Sozietät Herrnhaag (eine ökumenische Lebensgemeinschaft der Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine))
- die Jugendwerkstatt Herrnhaag (Mitglied des Diakonischen Werkes Hessen-Nassau)
Im Barocksaal des Grafenhauses des Herrnhaags finden regelmäßig Konzerte und kulturelle Veranstaltungen statt. Das Grafenhaus als Ganzes ist Veranstaltungsort für Freizeiten/Rüstzeiten. Im ehemaligen sogenannten „Schwesternhaus“ lebt die Sozietät Herrnhaag ein offenes Haus für Gäste.
Evangelische Kirche
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Unweit der Siedlung liegt die evangelische Kirche Herrnhaag mit dem Friedhof. Die spätklassizistische Saalkirche wurde 1834 erbaut und in den 1950er Jahren umfassend renoviert.
Persönlichkeiten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Abraham Dürninger (1706–1773), „Rechnungsführer“ in Herrnhaag, später Gründer des Herrnhuter Handelshauses Abraham Dürninger & Co. GmbH
- Abraham Roentgen (1711–1793), deutscher Ebenist und Kabinettmacher, Gründer der Roentgen-Möbelmanufaktur in Neuwied
- Ludolf Ernst Schlicht (1714–1769), evangelischer Geistlicher und Kirchenlieddichter, Pfarrer von Herrnhaag
- David Roentgen (1743–1807), deutscher Ebenist und Kabinettmacher, Fabrikant erlesener Möbel in Neuwied
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hans-Walter Erbe: Herrnhaag. Eine religiöse Kommunität im 18. Jahrhundert. Wittig, Hamburg 1988, ISBN 3-8048-4350-6.
- Klaus-Peter Decker: ‚Gemeine des Lammes’ oder ‚Staat im Staate’? Der Herrnhaag als politisches Modell und sein Ende 1747–1750. In: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, ISSN 0341-9126, 52, 2001, S. 25–51.
- Ulrike Carstensen: Herrnhaag – eine barocke Planstadt. Die Baugeschichte Herrnhaags von 1738 bis 1753. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine, 51/52 2003, S. 9–20.
- Claus Bernet: The Heavenly Jerusalem as a Central Belief in Radical Pietism in the Eighteenth Century: Ronsdorf and Herrnhaag. In: The Covenant Quarterly, 63, 4, 2005, S. 3–19.
- Matthias Graf: Herrnhuter in Hessen. Der Herrnhaag in der Grafschaft Büdingen. Lang, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-631-54560-6.
- Claus Bernet: Die Stadt Gottes in der Wetterau. Die Geschichte Herrnhaags als ein utopischer Siedlungsversuch im Umfeld des radikalen Pietismus. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine, 59/60, 2007, S. 135–172.
- Siegfried R. C. T. Enders: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Abteilung: Baudenkmale in Hessen. Wetteraukreis I. Hrsg. vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen. Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1982, ISBN 3-528-06231-2, S. 171f.
- Gustav(?) Simon: Die Herrenhuter im Isenburgischen. Ein in der Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst zu Gießen gehaltener Vortrag. In: Archiv für Hessische Geschichte und Alterthumskunde. Herausgegeben aus den Schriften des Historischen Vereins für das Großherzogthum Hessen von Ludwig Baur, Neunter Band, Darmstadt 1859 S. 31 ff.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Website zu Herrnhaag
- Sozietät Herrnhaag
- „Herrnhaag, Wetteraukreis“. Historisches Ortslexikon für Hessen. In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Georg Wagner: Die Herrnhuter auf Herrnhaag in der Wetterau in Mitteilungsblatt der Heimatstelle Main-Kinzig, Jahrgang 4, 1979 (Heft 2)
- ↑ Andreas Kalesse: Nowawes – eine friderizianische Kolonie auf einem religiös motivierten Grundriss, in: Mitteilungen der Studiengemeinschaft Sanssouci e. V. 11 (2006) S. 61–70, 62, (online).
- ↑ Wilhelm Köhler in: Büdinger Allgemeiner Anzeiger vom 16. März 1933
Koordinaten: 50° 16′ N, 9° 5′ O