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Japan in Berlin

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Textdaten
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Autor: F. D.
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Titel: Japan in Berlin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 568–570
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Japan in Berlin.


Auch außer den französischen Milliarden strömt seit dem großen Kriege und in Folge des weithinschallenden Ruhmes der deutschen Waffen noch so Mancherlei nach der Haupt- und Residenzstadt des neuen Reiches, was wesentlich zur Aenderung ihrer Physiognomie beiträgt und sie als eine beginnende Weltstadt charakterisirt. Dahin ist, und gewiß nicht in letzter Reihe, ein vordem unbekanntes Element der Bevölkerung zu rechnen, welches dem Verkehr auf der Straße und in der Gesellschaft in neuer Weise Farbe und Reiz leiht, – die Söhne einer anderen Sonne, durch den Glanz des deutschen Namens herübergelockt, um hier deutsches Wesen in Sitte, Arbeit und Bildung zu lernen und das Gelernte demnächst in der Heimath zu verwerthen.

Japan, das „Reich des Sonnenaufgangs“, der wunderbare Inselstaat, nach welchem Sage und Dichtkunst den germanischen abenteuerliebenden Sinn seit fast einem Jahrtausend hinzog, ist, nun sieben Häfen des früher verschlossenen Gebiets vor einigen Jahren sich dem europäischen Handel geöffnet haben, in kurzer Zeit ein vielgesuchtes Ziel der deutschen Schifffahrt geworden, von dessen Bedeutung das schnelle Wachsthum der deutschen Niederlassungen an den freigegebenen Plätzen Zeugniß ablegt. Durch die Berichte von Reisenden und Gelehrten sind wir nunmehr über die so lange geheim gehaltenen Verhältnisse der „Zehntausend (nach japanischer Zählung) Inseln“ ziemlich genau orientirt, und mit lebhaftem Interesse vernehmen wir, wie eine erleuchtete Regierung dort die Sache des Fortschritts vertritt, Eisenbahnen baut, Telegraphen anlegt und vor Allem sich die Verbesserung der Schulen angelegen sein läßt. Dagegen wurde anfangs Seitens des japanischen Volkes und seiner Regierung, welche in dem jungen Mikado (Kaiser) gipfelt, Deutschland nicht dieselbe Aufmerksamkeit zugewandt, mit welcher man auf die Dinge in Nordamerika, England und Frankreich blickte. Es trat der Unterschied in der Schätzung dieser Staaten sehr auffällig hervor, als vor drei Jahren der Kaiser, um schneller amerikanische und europäische Cultur nach Japan zu verpflanzen, die wissenschaftliche Ausbildung junger Männer an den Pflanzstätten dieser Cultur selbst beschloß und zu diesem Zweck bestimmte, daß eine Anzahl von Söhnen angesehener Familien in die Hauptstädte der Culturländer gehen sollten, um dort ihre Studien nach der Weise der Fremden zu betreiben. Als solche Städte wurden in Amerika New-York, in Europa London, Paris und Berlin ausersehen, aber während die Ersteren Hunderten von diesen jungen Studenten zum Aufenthalt angewiesen wurden, kamen nach Berlin nur ihrer Zwei. Dieses Verhältniß hat sich nun wesentlich geändert, seitdem die Nachrichten von den gewaltigen Siegen und Erfolgen des letzten Krieges auch in Ostasien die Bewunderung der deutschen Thaten herausforderten. Mehr und mehr Jünglinge wurden nach Deutschland geschickt, zum Theil auch nach Frankfurt und Bremen, hauptsächlich aber nach Berlin, welches jetzt siebenzig lernende und studirende junge Japanesen beherbergt, während deren überhaupt in’s Ausland fünfhundert gegangen sind. In London und New-York verweilen auch einige heranwachsende Damen zum Abschlusse ihrer Erziehung.

Siebenzig junge Männer, deren Herkunft, Sprache und Aeußeres die Aufmerksamkeit sowohl an öffentlichen Orten als in der gebildeten Gesellschaft in Anspruch nimmt, bleiben auch in dem großen, unruhigen Berlin nicht unbeachtet, und das leichtbegreifliche Interesse, welches sie in weiteren Kreisen erwecken, rechtfertigt eine Schilderung der kleinen Colonie.

Man kann die Mitglieder derselben füglich ist zwei Kategorien sondern, wenngleich eine solche Trennung äußerlich nicht erkennbar hervortritt, in Zöglinge der Regierung und in Freiwillige. Ein Theil von ihnen ist nämlich auf Kosten des Kaisers hergesandt und wird vollständig aus kaiserlichen Mitteln unterhalten. Zugleich wurden aber auch von dem Mikado der Adel Japans und speciell die bekanntlich ihrer Fürstenthümer vor Kurzem enthobenen Daimios (eine Art Lehnsfürsten) aufgefordert, in gleicher Weise sich die höhere Cultur Europas und Amerikas zu eigen zu machen, und da sich aus diesen Familien Freiwillige in großer Zahl meldeten, aus vielen zwei bis drei, ja aus einer vier Brüder, so wurden sie den Regierungs-Stipendiaten zugetheilt und mit diesen zusammen entsendet. Sie bestreiten zwar ihre Bedürfnisse selbst, sind aber den Anordnungen der Regierung ganz ebenso wie ihre pecuniär abhängigen Genossen unterworfen. Natürlich giebt es unter den letzteren auch solche, welche von Eltern oder Verwandten Zuschüsse erhalten, und die finanziellen Mittel der Einzelnen sind daher sehr verschieden. – Wie sich die Zahl der Staatspensionäre zu den Freiwilligen verhält, ist nicht zu ermitteln, da von allen Seiten darüber ein Stillschweigen beobachtet wird, welches sie mit der Besorgniß rechtfertigen, daß ein Bekanntgeben der finanziellen Lage des Einzelnen diesen in dem Verkehre nach außen benachtheiligen könnte.

Regierungsbevollmächtigter und Schatzmeister, Chef und Vormund über die ganze Gesellschaft ist Herr Aoki, ein Mann in der zweiten Hälfte der Zwanziger, ebenderselbe, der mit einem Gefährten vor drei Jahren zuerst hierherkam, und jetzt wahrlich keine Sinecure inne hat. Er besorgt für seine siebenzig jungen Leute das Unterkommen, ermittelt ihnen Lehrer, überwacht ihren Wandel und Fleiß, ist Richter bei Streitigkeiten innerhalb der kleinen Gemeinde und Cassirer und Zahlmeister von ihnen Allen, auch von den Freiwilligen, da sämmtliche Gelder, welche aus der fernen Heimath hierher gesendet werden, an ihn gelangen. Begreiflicher Weise wird ihm ein großer Respect bezeigt, den er aber auch durch sein kluges, gerechtes und liebenswürdiges Benehmen verdient. Er selbst ist der deutschen Sprache in Rede und Schrift bereits so mächtig, daß er auf der Universität, bei welcher er in der juristischen Facultät immatriculirt ist, Collegia hören kann.

Das Alter der jungen Herren ist zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren; doch sind neuerdings zwei Knaben von anscheinend zwölf bis fünfzehn Jahren angekommen und noch einige andere dieses Alters werden erwartet. Sie sind ohne Ausnahme zu gebildeten Familien in Pension gegeben, meistens zu zwei und zwei, doch auch einzeln; in sehr wenigen Fällen leben mehr als zwei in einer Familie. Es sind durchgehends kleine und ziemlich schmächtige Gestalten, mit Ausnahme nur von Aoki und einem Anderen, welche unsere Mittelgröße erreichen und breit und kräftig gebaut sind. – Mehr als durch das schlichte und glänzend schwarze Haar, das sie europäisch geschnitten tragen, fallen sie durch die mandelförmig geschlitzten Mongolenaugen und den gelblichen Teint auf. Die Physiognomien sind so verschieden wie möglich. Während einige ganz den italienischen Typus tragen oder an die ansprechende Schönheit der Savoyardenknaben erinnern, zeigen andere, und wohl die Mehrzahl, Gesichtszüge von so fremdem Ausdruck, daß man bei einer Begegnung unwillkürlich der auffallenden Erscheinung nachblickt. Einige dieser Gesichter erwecken selbst durch den hervortretenden Unterkiefer, den breiten Mund und die zolllangen Zähne in europäischen Augen entschiedenen Widerwillen. Kein Wunder daher, wenn der schaulustige und sarkastische Berliner die eigenthümlichen Figuren anfangs mit humoristischen Bemerkungen begleitete; jetzt indessen machen die oft gesehenen Gestalten kein größeres Aufsehen mehr als etwa der Mohr des Prinzen Karl. Der Bartwuchs ist nur bei Wenigen ausgebildet, bei den Uebrigen schwach oder gar nicht vorhanden.

Ihre Tracht ist die europäische. Sie gehen jederzeit vollkommen elegant gekleidet und frisirt und legen augenscheinlich Gewicht darauf, in der Toilette nicht hinter den Eingeborenen des Landes zurückzubleiben. Da sie sich aber in unseren ebenso unschönen als beengenden Kleidern genirt fühlen, vertauschen Viele sie in ihren Stuben gegen die weite, leichte bequeme Tracht ihrer Heimath, ein langes, sehr weites, vorn übereinandergeschlagenes Gewand von weichem Stoffe (Seide oder feiner Wolle), welches einige Aehnlichkeit mit manchen Morgenkleidern unserer Damen hat. Sie lieben es, sich etwas zu putzen, wenn auch nicht in übermäßigem Grade, wechseln gern und häufig die Anzüge und tragen die kleinen Schmucksachen, die bei uns in der Mode sind, als goldene Chemisette- und Manchettenknöpfchen, Uhren mit Ketten und Berloques u. dgl. mit sichtlichem Vergnügen, vermeiden aber ängstlich Alles, was sie als Fremdlinge kennzeichnen könnte, und nehmen es als ein Compliment auf, wenn ihnen gesagt wird, daß die fremde Abkunft ihnen nicht mehr anzusehen sei.

[569] Mit Geldmitteln scheinen sie reichlich ausgerüstet zu sein; denn wenn sie auch über diesen Punkt wie über manchen andern ein vorsichtiges Schweigen beobachten, so zeigt doch, abgesehen von dem Luxus, mit dem sie für ihr Aeußeres sorgen, ihr ganzes Leben, daß ihre Finanzen sich in vortrefflicher Ordnung befinden. So zum Beispiel kaufen sie Einer nach dem Andern goldene Taschenuhren, für welche sie ohne Kette etc. zwischen hundertsiebenzig und dreihundert Thaler zahlen. Nebenbei bemerkt ist das kein übles Geschäft für den Uhrmacher, zu dem sie Alle gleichmäßig gehen. Bei kleinen Reisen, Spazierfahrten und anderen Belustigungen scheint ebenfalls der Geldpunkt nicht in Betracht zu kommen, und gar Alles, was zur Förderung ihrer Studien dienen kann, wie Bücher, Globen, Atlanten, wird ohne Rücksicht auf die Kosten auf das Allerbeste beschafft. Auch der Unterricht kostet viel. Die japanische Regierung verfährt offenbar bei dem ganzen Unternehmen mit anerkennenswerther Liberalität, und zudem sind die Freiwilligen ja die Söhne des höchsten Adels, so daß ihre reichliche Ausstattung und ihr beträchtlicher Wechsel nicht Wunder nehmen können. Selbst einen gemeinschaftlichen Arzt hat Aoki besorgt in dem Geheimen Sanitätsrath Simonsohn, der aber glücklicher Weise nicht durch zu viel Patienten aus dieser Curatel belästigt wird, weil das Klima keinen ungünstigen Einfluß auf die jungen Leute übt, mit der einzigen Ausnahme vielleicht, daß bald nach ihrer Herkunft Einige an den Augen litten.

Den Zweck ihres Aufenthaltes verfolgen sie mit großem Eifer und Ernst. Die äußerlichen Formen, Sitten und Gebräuche lernen sie in den Familien, in deren Mitte sie leben, um so schneller, als sie nicht unvorbereitet ankommen. Ein größerer Theil von ihnen hat schon in der Heimath Europäer gesehen. dazu kommt dann die Seereise über den stillen Ocean nach San Francisco, die Eisenbahnfahrt nach New-York und die weite Reise, meist über London, nach Berlin. In New-York pflegen sie sich längere Zeit, in London eine kürzere aufzuhalten und am ersteren Orte sich mit europäischen Kleidern zu versehen. Mit natürlichem Verstande und scharfer Beobachtungsgabe ausgerüstet, langen sie nach dieser wohlgenützten Reise, die vier bis sechs Monate zu dauern pflegt, bereits mit europäischem Schliffe an ihrem Bestimmungsorte an. Hier bitten sie die Mitglieder der Familie, in welche sie eintreten, um weitere Belehrung und sind für jede Zurechtweisung äußerst dankbar. Bei solchem guten Willen gelingt das Vornehmen denn auch leicht, und schon nach einhalbjährigem Aufenthalte sind sie größtentheils in den Formen vollkommen berolinisirt.

Ihre wissenschaftliche Ausbildung beschränkt sich zunächst auf die Erlernung der deutschen Sprache, was aber unter den gegebenen Verhältnissen einer großen Energie und unausgesetzten Anstrengung bedarf. Denn von der gänzlichen Verschiedenheit des Idioms abgesehen, giebt es erstens in ganz Berlin keinen Menschen, der auch nur die Anfangsgründe der japanischen Sprache, geschweige denn sie so weit kennt, um sich in ihr verständlich zu machen; zweitens giebt es keine deutsch geschriebene Grammatik der japanischen oder japanisch geschriebene Grammatik der deutschen Sprache und ebensowenig ein japanisch-deutsches oder deutsch-japanisches Lexikon. Und nun denke man sich den deutschen Lehrer den Japanesen gegenüber ohne irgend eine Vermittelung! Wahrlich für Beide eine mühevolle Aufgabe! Die einzigen Aushülfen sind englisch-japanische Lexika und Grammatiken; was man davon hat, ist aber so dürftig und unvollständig, daß es nur einen sehr geringen Nutzen bringt. Doch Beharrlichkeit überwindet jedes Hinderniß. Und so gelingt es auch unseren jungen Freunden, durch Ausdauer und Achtsamkeit im Verlaufe von sechs Monaten so weit zu kommen, daß sie deutlich Gesprochenes verstehen und sich selbst verständlich machen können. In Jahresfrist aber sprechen sie das Deutsche ziemlich fließend, verstehen Alles und schreiben schon einen fehlerfreien Brief. Sie wenden den größten Fleiß an ihre Aufgabe. Zeitig des Morgens, im Sommer etwa um sechs Uhr, im Winter eine Stunde später, gehen sie an die Arbeiten, welche sie nur während der Mahlzeiten unterbrechen und oft bis lange nach Mitternacht fortsetzen, so daß schon der Arzt sich dieserhalb zu Ermahnungen veranlaßt gesehen hat. Bei dem Lehrer nimmt übrigens jeder Schüler den Unterricht allein. Ist der Letztere endlich der Sprache so weit mächtig, also etwa nach Verlauf von anderthalb Jahren, so beginnt er sich mit dem erwählten Fachstudium zu beschäftigen, wiederum zuerst auf dem Wege des Privatunterrichts und schließlich durch den Besuch der öffentlichen Unterrichtsanstalten oder der für den betreffenden Lehrgegenstand bestehenden Institute. Alle möglichen Richtungen der Ausbildung sind in’s Auge gefaßt. So studiren auf der Universität als immatriculirte Studenten Einer (Aoki) Jura und Sieben Medicin. Mehrere widmen sich der Pharmakopöie; Andere wollen landwirthschaftliche Lehranstalten besuchen; eine große Anzahl beabsichtigt Militär zu werden. Von den Letzteren befinden sich Zwei in einer sogenannten „Presse“, um demnächst ihre Fähnrichs- und Officierexamina zu machen und für einige Zeit in die deutsche Armee einzutreten. Selbst japanische Officiere von dem Range eines Hauptmanns, die bereits mehrere Feldzüge mitgemacht haben und ehrenvolle Narben tragen, sitzen hier mit dem ABCBuche in der Hand und arbeiten mit eiserner Geduld an den Anfangsgründen der deutschen Sprache. Mit gutem Beispiele geht ihnen ein Prinz von Geblüt voran, ein Onkel des Mikado, Prinz Fuschimi von Japan, der, obwohl in der Heimath ein sehr hoher und reicher Herr, alle Mühen und Anstrengungen seiner Landsleute theilt.

Von dem außerordentlichen Fleiße und der Leistungsfähigkeit der jungen Japanesen ist in diesen Tagen ein recht sprechendes Beispiel hervorgetreten. Ende des Jahres 1869 kam als einer der ersten derselben Sahami Sato hier an, der Sohn des Leibarztes des Mikado, um Medicin zu studiren, mußte aber, wie seine Gefährten, da er kein deutsches Wort konnte, zuerst sich auf das Studium der Sprache legen. In einem Jahre war er nicht allein des Deutschen mächtig, sondern hatte auch das Lateinische sich so weit zu eigen gemacht, daß er die erforderlichen Vorstudien bewältigen konnte und schon im October 1870 immatriculirt wurde. Jetzt hat er ein Tentamen in der Medicin so glänzend bestanden, daß er und ein anderer Student unter den dreizehn Examinaten das Prädicat „gut“ erhielt, eine Leistung, welche in wissenschaftlichen Kreisen als eine höchst merkwürdige betrachtet wird. Wenn man die Schwierigkeiten, welche der junge, hoffnungsvolle Mann zu überwinden gehabt hat, erwägt, so kann man sich allerdings nicht des Staunens über die Energie erwehren, mit welcher er das ihm gestellte Ziel verfolgt.

Neben dem Fleiße und der Pflichttreue besitzen sie noch andere Tugenden, welche ihnen schnell Achtung und Zuneigung erwerben. Vorzugsweise ist dahin ihre Wahrheitsliebe und Gewissenhaftigkeit auch in den kleinsten Dingen zu rechnen und sodann die Höflichkeit, wegen deren die Japanesen von jeher gerühmt worden sind. Und das ist mit vollem Rechte geschehen, denn es streift ihre Höflichkeit nicht im Entferntesten an orientalische Unterwürfigkeit oder occidentalische Kriecherei, sondern ist wirklich eine anmuthige Mischung von dem feingesitteten Entgegenkommen des gebildeten Mannes und der Bescheidenheit eines guten Kindes, Dieser sehr hervorstechende Charakterzug erleichtert ihnen auch wesentlich die Aneignung der Formen deutscher Sitte und Bildung und macht sie schnell zu gern gesehenen Gästen in den Familienkreisen, die sie betreten. Ihre Kindlichkeit ist ganz naiv. Sie bitten sofort, als Kinder behandelt und den Kindern des Hauses in allen Stücken gleichgestellt zu werden. Dem Hausherrn und der Hausfrau ordnen sie sich wie Pflegeeltern unter und sagen bei jeder Gelegenheit: „Sie sind meine Mutter, Sie sind mein Vater.“ Vielleicht illustrirt diese kindliche Höflichkeit der folgende Anfang eines Briefes. Eine Dame, die in’s Bad gereist war, hatte ihrem Pensionär geschrieben, daß sie bei der Lösung ihres Fahrbillets einen Thaler irrthümlich überzahlt habe, worauf Dieser erwiderte:

„Meine liebe Mutter! es thut mir sehr leid, daß Sie einen Thaler verloren haben. Ich habe nicht geglaubt, daß eine so kluge Mutter auch etwas verlieren könne. Aber trösten Sie sich mit dem Sprüchwort: ‚Auch die Affen fallen von den Bäumen‘“ etc.

Für eine Pflicht der Höflichkeit halten es die Japanesen, Alles, was ihnen gezeigt wird, zu loben und die Vorzüge Europas vor Japan anzuerkennen. – Bei den Mahlzeiten sind sie sehr bescheiden und mäßig und mit Allem zufrieden, loben auch die deutsche Kochart höchlichst; aber ab und zu bricht doch die Sehnsucht nach einem japanischen Mahle durch alle Floskeln der Höflichkeit hervor. Dieses entschuldbare Gelüste befriedigen sie, wenn die Pflegemütter keine Einwendungen erheben, an ihren [570] Geburtstagen, zu denen sie so viel Landsleute, als das oder die Zimmer fassen, einladen und mit einem auf japanische Weise höchst eigenhändig bereiteten Diner bewirthen. Die Ingredienzen zu solchem Festmahle werden von ihnen selbst eingekauft und bestehen aus Reis, Fisch, Geflügel, Pilzen, Zwiebeln und japanischer Soya, die hier in den Delicateßläden zu bekommen ist. Ein hier unbekanntes Gewürz, eine Art Seetang, haben sie mitgebracht. Vielleicht sind einige Notizen über ein solches japanisches Essen den verehrten Hausfrauen nicht uninteressant und so mögen sie denn hier folgen. Das Hauptgericht besteht in sechsmal gebrühtem und gewaschenem Reis, ohne Salz, Milch, Zucker oder andere Zuthat, den sie übrigens zu jeder Tageszeit essen und jeder anderen Speise vorziehen. Den Fisch (Lachs, Karpfen oder Aehnliches) braten sie theils an kleinen Spießen halb gar, worauf sie ihn, in Scheiben geschnitten, mit Reis belegen, oder sie essen ihn roh mit Salz und Essig.

Ein anderes Gericht besteht aus Hühnern oder Enten, mit den Knochen in kleine Würfel geschnitten und gekocht; dazu Pilze, gedämpft, und ganze gekochte Zwiebeln mit langen grünen Stengeln, Alles zusammengerührt und mit der japanischen Soya übergossen. Es schmeckt vortrefflich und kann empfohlen werden. Das Dessert besteht aus Reis und Obstkuchen. Alle Schüsseln werden mit Blumen geschmackvoll verziert. Getrunken wird dazu Wasser. Aber sobald die Tafel aufgehoben ist, kommt der Thee, natürlich japanischer, der viel stärker als der chinesische ist, und nun wird der heiße, aufregende und erhitzende Trank selbst im glühenden Sommer in unbegreiflichen Quantitäten genossen, den Nachmittag, den Abend, ja die Nacht hindurch. Zwischenein wird der kalte Reis wieder vorgesetzt. Und daran reihen sich die beiden Nationalgenüsse, die mit Reis und Thee in gleichem Werthe stehen, Tabak in Gestalt von Cigarren oder türkischem Kraute, und die Karten. Kein Fenster wird geöffnet, während in dem Zimmer etwa sechszehn oder zwanzig Personen sich zusammendrängen, rauchen, den kochenden Thee trinken und Karten spielen. Eine nicht japanesisch angelegte Natur hält einen solchen Festabend nicht aus. – Die äußerst zierlichen Karten sind den unseren insofern ähnlich, als es auch verschiedene Farben und Werthe giebt, doch sind sie nicht halb so groß und zeigen statt unserer Herzen etc. sehr geschmackvoll gemalte Blumen, Blumenbouquets und Bäume. – An Wein, Bier oder anderen berauschenden Getränken, außer Thee, finden die Herren keinen Geschmack.

Eine offenbare Schattenseite im Leben und Weben des Japanesen ist der Gesang. Sind die jungen Männer unter sich, etwa in dem „Leipziger Garten“, einem der anständigsten Restaurants der Residenz, dem Kriegsministerium gegenüber, wo sie an jedem letzten Sonnabend des Monats zusammenkommen, so wird natürlich auch gesungen; aber ebenso kann man dies Vergnügen haben, wenn man in einer Privatgesellschaft um den Vortrag eines Nationalgesanges bittet. Wer einen japanischen Gesang zum ersten Male hört, wird anfangs starr vor Erstaunen dasitzen und dann nur mit Mühe ein herzliches Gelächter unterdrücken „So ein Lied, das Stein erweichen, Menschen rasend machen kann,“ ist sonst nirgend zwischen Himmel und Erde zu hören. Daß die Töne durch die Fistel ausgestoßen werden, ist das Einzige, was zur Beschreibung gesagt werden kann, sonst spottet diese Leistung jeder Schilderung. Betäubt fragt man nach der Möglichkeit, wie gebildete Männer, die nun schon zwei bis drei Jahre wirkliche Musik kennen, so etwas Gesang nennen und sogar darin Genuß finden können. Es ist das in der That ein psychologisch-musikalisches Räthsel.

Noch einiges theils Charakteristisches, theils Befremdendes möchte, um diese kleine Zeichnung abzuschließen, der Erwähnung werth sein. Dahin wäre die große Verschwiegenheit, welche unsere jungen Gäste über gewisse Gegenstände beobachten, zu zählen. Es müssen ihnen bestimmte Vorschriften ertheilt sein, nichts über Religion, über ihre persönlichen und finanziellen Verhältnisse in der Heimath und über den Mikado nebst Familie mitzutheilen. Berührt man eines dieser Themata, so wird man sogleich ein Zurückweichen inne, welches mit ihrem sonstigen offenen, vertrauenden Wesen im Widerspruche steht. Sie vermeiden sogar sehr geschickt die Angabe, zu welcher der drei in Japan herrschenden Religionen sie sich bekennen. So erwiderte einer der jüngsten von ihnen, ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, einigen jungen Damen, die ihn lebhaft bestürmten, ihnen sein Glaubensbekenntniß abzulegen, mit freundlichem Lachen: „Ich bin Philosoph und Weiberfeind.“

Auch sollen einige verheirathet sein; dies ist aber ebenso einer der Punkte, über den sie jede Mittheilung ablehnen. – Wie komisch die Begriffe von Höflichkeit bei verschiedenen Völkern bisweilen auseinandergehen, zeigt der folgende Vorfall. Herr I…, der schon fertig deutsch spricht und in dem Hause der Frau v. D. bekannt geworden ist, erhält von dieser eine Einladung zum Diner. Statt seiner aber erscheint ein gänzlich unbekannter Landsmann, der kaum über mehr als einige Dutzend deutscher Worte verfügt, zu seiner Legitimation ein Schreiben I…’s überreichend, worin dieser sich mit irgend einer Abhaltung entschuldigt und dazu bemerkt, sein Freund K… sei mit seiner Vertretung beauftragt. Die Mittheilung dieses artigen Briefchens über Tisch erhöhte die frohe Laune der Gesellschaft nicht wenig.

Und nun noch die Puppen! Was wir in alten Reisebeschreibungen und anderen Büchern von zweifelhaftem wissenschaftlichem Werthe gelesen haben, ist wirklich wahr: die erwachsenen Japanesen, Männer und Frauen, spielen mit Puppen! Auch diese Liebhaberei tritt hier allerdings nicht hervor, wahrscheinlich aus Besorgniß, daß dies kindliche Vergnügen hier nicht werde gewürdigt werden; aber die Thatsache ist richtig. Der oben erwähnte „Philosoph und Weiberfeind“ erhielt erst kürzlich von seiner Freundin in Miako eine Puppe, die ihm die größte Freude macht, und die er, wenn er sich unbeachtet glaubt, auf den Armen oder Knieen wiegt. Auch wurde dem Schreiber dieser Skizze ein japanisches Drama gezeigt, dessen Intrigue in dem Raube einer Puppe, von dem Bösewicht gegen den Helden verübt, besteht. Die erwähnte Puppe aus Miako hat die richtigen Proportionen eines Kindes von etwa sechs Monaten, ist wie die japanischen Kinder in die dort übliche köstliche Seide gekleidet und trägt auf dem Rücken ein Beutelchen mit Moschus, dem häßlichen Lieblingsgeruch aller asiatischen Völker. Formenbildung und Malerei an Kopf, Armen und Beinen beschämen sehr weit, was Europa in diesem Genre producirt, und das kleine Kunstwerk ist das Entzücken der kleinen und großen Mädchen, die es sehen.

Die Erwähnung der „Freundin“ des „Philosophen und Weiberfeindes“ erfordert noch eine Erklärung. In Japan herrscht die eigenthümliche Sitte, daß der junge Mann, bevor er heirathet, ein Mädchen gleichen Alters zu seiner „Freundin“ erwählen kann, mit der er die Vergnügungen der Jugend gemeinschaftlich genießt, während die Sitte einen anderen Verkehr zwischen unverheiratheten Herren und Damen verbietet oder doch erschwert. Mit dieser „Freundin“ liest und arbeitet er, begleitet sie auf Spaziergängen etc., ohne daß ein zärtliches Gefühl oder eine sinnliche Regung sich in das Verhältniß einmischt, welches aufhört, sobald eines von beiden Theilen heirathet. Es ist das zwar eine uns unverständliche Sache, indessen kann man ihre Glaubwürdigkeit den ernsten Versicherungen wahrheitsliebender Männer gegenüber nicht wohl bezweifeln.

Wie lange diese Gäste in der Kaiserstadt verweilen werden, wissen sie selbst nicht, da dies lediglich von dem Entschlusse der japanischen Regierung abhängt; doch sprechen sie von zehn Jahren und gefallen sich an dem neuen Aufenthalte so wohl, daß erst einer von ihnen, der an der Schwindsucht litt, zurückgekehrt ist, um den Tod in der Heimath zu erwarten.

Zum Schluß eine Probe von dem Wohllaut der japanischen Sprache. „Lieber Herr Imai, ich danke Ihnen“ heißt: „Kuíschik Imai Samma, hanna hadda arrigatto.“

F. D.












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