Ich muss dieses Kapitel leider mit einem Geständnis beginnen: Ich habe den Titel geklaut! Und zwa... more Ich muss dieses Kapitel leider mit einem Geständnis beginnen: Ich habe den Titel geklaut! Und zwar von einem kleinen Büchlein des indischen Sozialanthropologen Arjun Appadurai, das unter gleichnamigem Titel -Geographie des Zorns -2009 bei Suhrkamp erschienen ist (Appadurai 2009). Was aber meint Appadurai mit »Geographie des Zorns«? Nun, der englische Originaltitel bringt uns der Sache eventuell näher. Dieser heißt: Fear of small numbers (Appadurai 2006) -die Angst vor kleinen Zahlen: Wer aber hat hier Angst vor kleinen Zahlen und warum? Appadurai thematisiert die potenzielle Aggression einer Mehrheit gegen politische, ethnische Minderheiten. Er beschreibt in seinem Werk, wie der Hindunationalismus in Indien sich immer wieder gegen Minderheiten richte, vor allem gegen Muslime, aber auch gegen Christen, und dabei auch nicht vor Gewalttaten und Massenpogromen zurückschrecke. Und er zeigt auf, wie populistische Politikerinnen diese Ängste immer wieder aufgreifen, um Massen zu mobilisieren. Besonders erfolgreich ist damit zur Zeit die regierende hundinationalistische BJP unter Premierminister Narendra Modi. 2017 erschien bei Suhrkamp ein anderer Band, diesmal mit dem Titel »Zornpolitik« (Jensen 2017). Der Autor Uffa Jensen schreibt dort über den Rechtspopulismus in Deutschland und Europa. Auch hier richte sich der Zorn oft gegen Minderheiten, Flüchtlinge, Menschen, die angeblich anders sind (z.B. Farbige, LGBTQ). Wir haben es, schreibt Jensen, mit »Strategien der Dämonisierung, Verhöhnung und Entwertung« zu tun. Jensen fragt sich, wie dieser Zorn so erfolgreich von rechtspopulistischen Politikerinnen aufgegriffen werden könne. Dabei identifiziert er Beschreibungen dieser Zusammenhänge, die er »kontraproduktiv« findet:
Wissenschaftliche Kritik verschont sich zunehmend selbst. Sie produziert gerne vorschnelle Genera... more Wissenschaftliche Kritik verschont sich zunehmend selbst. Sie produziert gerne vorschnelle Generalisierungen und wohlfeile Bewertungen. Reflexionsverweigerung fördert dabei Konformismus und Halbbildung. Diese Schonstellungen ersparen der Kritik die mühselige Arbeit der Selbstkritik - Zwischentöne, Ambivalenzen und Widersprüche werden ausgeblendet. Benedikt Korf analysiert differenziert die sich daraus entwickelnden Schwierigkeiten. Am Beispiel der kritischen Geographie verdeutlicht er die oftmals hegemoniale Stellung des Begriffs »kritisch« in den Sozial- und Geisteswissenschaften.
Im Sommer 1756 kündigte der junge Dozent Immanuel Kant an der Philosophischen Fakultät der Univer... more Im Sommer 1756 kündigte der junge Dozent Immanuel Kant an der Philosophischen Fakultät der Universität in Königsberg eine Vorlesung unter dem Titel Collegium de geographia physica ("Physische Geographie") an. Bis im Sommer 1796 sollte Kant diese bei den Studierenden populäre Voranstaltung noch mehr als vierzig Mal lesen. Keine andere Vorlesung hielt der schon zu Lebzeiten so berühmte Philosoph Kant so oft wie diese über die "Physicam Geographiam". Im Unterschied zu sämtlichen anderen Vorlesungen ist die "Physische Geographie" nicht als kritischer Kommentar zu einem etablierten Lehrbuch, wie dies zur damaligen Zeit üblich war, sondern als eigenständiges Privatkolleg vorgetragen worden. Es war vermutlich seine erfolgreichste Vorlesung und die erfolgreichste aller akademischen Lehrer der Königsberger Albertus-Universität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 1 Kant hielt seine "Physische Geographie" zu einer Zeit, als die Geographie als Universitätsdisziplin noch nicht an den Hochschulen (in Form von Lehrstühlen) institutionalisiert war. Es ist durchaus bemerkenswert, dass dieser so berühmte Philosoph der Aufklärungszeit seine populärste Lehre zu einem "geerdeten" Thema gehalten hat. Für Kant lag die Aufgabe der Geographie in der "Welterkenntnis [.. .] die man die Propädeutik in der Erkenntnis der Welt nennen kann" (Kant, Physische Geographie, Einleitung, § 2, S. 157). Diese Weltkenntnis diene dazu, so lesen wir in einer Nachschrift der Vorlesung von 1775, "allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie [.. .] für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den
Dieser Beitrag entwickelt eine immanente Kritik an der Arbeit des globalen Entwicklungsapparates,... more Dieser Beitrag entwickelt eine immanente Kritik an der Arbeit des globalen Entwicklungsapparates, die dessen grundlegende Krisenhaftigkeit analytisch im Begriff der "Ironie der Entwicklung" erfasst-als dialektische Widersprüchlichkeit zwischen Moralüberschuss (Absichten) und Scheitern (Handlungsfolgen). Diese Ironie zeigt sich in einer manipulativen Vernunft (Musto), andere auch gegen ihren Willen glücklich zu machen, die in der Form einer Gabenökonomie global institutionalisiert ist. Diese "systemische" Ironie kann unterschiedlich gelesen werden: die externe Kritik einer distanzierenden ironischen Haltung, wie sie der Dekonstruktivismus des post-development pflegt, kann darin nur die "Bösartigkeit" des Entwicklungsapparates erkennen. Eine immanente Kritik "ohne Besserwisserei" (Jaeggi) macht eine empathische ironische Haltung der Kritikerin gegenüber dem Entwicklungsapparat erforderlich und sucht eher eine produktive hermeneutische Spannung zwischen Kritik und moralischem Engagement.
Has development critique run out of steam? While a certain impasse can be noted between postdevel... more Has development critique run out of steam? While a certain impasse can be noted between postdevelopment theorists and development ethnographers, this article suggests to restart the steam engine of development critique by attending to the "irony of development", i.e. ironic predicaments that explain the sustenance of the development industry despite its persistent failures to live up to its aspirations. How one reads this "irony of successful failure" amounts to a question of how to practise critique, what position the critic takes and what ironic stances the critic intones. While post-development operates an external critique, development ethnographers practise an internal one. I propose to transform the latter into an immanent critique, which identifies "moral excess" as the constitutive function of the ironic predicaments inside the global development apparatus.
Ich muss dieses Kapitel leider mit einem Geständnis beginnen: Ich habe den Titel geklaut! Und zwa... more Ich muss dieses Kapitel leider mit einem Geständnis beginnen: Ich habe den Titel geklaut! Und zwar von einem kleinen Büchlein des indischen Sozialanthropologen Arjun Appadurai, das unter gleichnamigem Titel -Geographie des Zorns -2009 bei Suhrkamp erschienen ist (Appadurai 2009). Was aber meint Appadurai mit »Geographie des Zorns«? Nun, der englische Originaltitel bringt uns der Sache eventuell näher. Dieser heißt: Fear of small numbers (Appadurai 2006) -die Angst vor kleinen Zahlen: Wer aber hat hier Angst vor kleinen Zahlen und warum? Appadurai thematisiert die potenzielle Aggression einer Mehrheit gegen politische, ethnische Minderheiten. Er beschreibt in seinem Werk, wie der Hindunationalismus in Indien sich immer wieder gegen Minderheiten richte, vor allem gegen Muslime, aber auch gegen Christen, und dabei auch nicht vor Gewalttaten und Massenpogromen zurückschrecke. Und er zeigt auf, wie populistische Politikerinnen diese Ängste immer wieder aufgreifen, um Massen zu mobilisieren. Besonders erfolgreich ist damit zur Zeit die regierende hundinationalistische BJP unter Premierminister Narendra Modi. 2017 erschien bei Suhrkamp ein anderer Band, diesmal mit dem Titel »Zornpolitik« (Jensen 2017). Der Autor Uffa Jensen schreibt dort über den Rechtspopulismus in Deutschland und Europa. Auch hier richte sich der Zorn oft gegen Minderheiten, Flüchtlinge, Menschen, die angeblich anders sind (z.B. Farbige, LGBTQ). Wir haben es, schreibt Jensen, mit »Strategien der Dämonisierung, Verhöhnung und Entwertung« zu tun. Jensen fragt sich, wie dieser Zorn so erfolgreich von rechtspopulistischen Politikerinnen aufgegriffen werden könne. Dabei identifiziert er Beschreibungen dieser Zusammenhänge, die er »kontraproduktiv« findet:
Wissenschaftliche Kritik verschont sich zunehmend selbst. Sie produziert gerne vorschnelle Genera... more Wissenschaftliche Kritik verschont sich zunehmend selbst. Sie produziert gerne vorschnelle Generalisierungen und wohlfeile Bewertungen. Reflexionsverweigerung fördert dabei Konformismus und Halbbildung. Diese Schonstellungen ersparen der Kritik die mühselige Arbeit der Selbstkritik - Zwischentöne, Ambivalenzen und Widersprüche werden ausgeblendet. Benedikt Korf analysiert differenziert die sich daraus entwickelnden Schwierigkeiten. Am Beispiel der kritischen Geographie verdeutlicht er die oftmals hegemoniale Stellung des Begriffs »kritisch« in den Sozial- und Geisteswissenschaften.
Im Sommer 1756 kündigte der junge Dozent Immanuel Kant an der Philosophischen Fakultät der Univer... more Im Sommer 1756 kündigte der junge Dozent Immanuel Kant an der Philosophischen Fakultät der Universität in Königsberg eine Vorlesung unter dem Titel Collegium de geographia physica ("Physische Geographie") an. Bis im Sommer 1796 sollte Kant diese bei den Studierenden populäre Voranstaltung noch mehr als vierzig Mal lesen. Keine andere Vorlesung hielt der schon zu Lebzeiten so berühmte Philosoph Kant so oft wie diese über die "Physicam Geographiam". Im Unterschied zu sämtlichen anderen Vorlesungen ist die "Physische Geographie" nicht als kritischer Kommentar zu einem etablierten Lehrbuch, wie dies zur damaligen Zeit üblich war, sondern als eigenständiges Privatkolleg vorgetragen worden. Es war vermutlich seine erfolgreichste Vorlesung und die erfolgreichste aller akademischen Lehrer der Königsberger Albertus-Universität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 1 Kant hielt seine "Physische Geographie" zu einer Zeit, als die Geographie als Universitätsdisziplin noch nicht an den Hochschulen (in Form von Lehrstühlen) institutionalisiert war. Es ist durchaus bemerkenswert, dass dieser so berühmte Philosoph der Aufklärungszeit seine populärste Lehre zu einem "geerdeten" Thema gehalten hat. Für Kant lag die Aufgabe der Geographie in der "Welterkenntnis [.. .] die man die Propädeutik in der Erkenntnis der Welt nennen kann" (Kant, Physische Geographie, Einleitung, § 2, S. 157). Diese Weltkenntnis diene dazu, so lesen wir in einer Nachschrift der Vorlesung von 1775, "allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie [.. .] für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den
Dieser Beitrag entwickelt eine immanente Kritik an der Arbeit des globalen Entwicklungsapparates,... more Dieser Beitrag entwickelt eine immanente Kritik an der Arbeit des globalen Entwicklungsapparates, die dessen grundlegende Krisenhaftigkeit analytisch im Begriff der "Ironie der Entwicklung" erfasst-als dialektische Widersprüchlichkeit zwischen Moralüberschuss (Absichten) und Scheitern (Handlungsfolgen). Diese Ironie zeigt sich in einer manipulativen Vernunft (Musto), andere auch gegen ihren Willen glücklich zu machen, die in der Form einer Gabenökonomie global institutionalisiert ist. Diese "systemische" Ironie kann unterschiedlich gelesen werden: die externe Kritik einer distanzierenden ironischen Haltung, wie sie der Dekonstruktivismus des post-development pflegt, kann darin nur die "Bösartigkeit" des Entwicklungsapparates erkennen. Eine immanente Kritik "ohne Besserwisserei" (Jaeggi) macht eine empathische ironische Haltung der Kritikerin gegenüber dem Entwicklungsapparat erforderlich und sucht eher eine produktive hermeneutische Spannung zwischen Kritik und moralischem Engagement.
Has development critique run out of steam? While a certain impasse can be noted between postdevel... more Has development critique run out of steam? While a certain impasse can be noted between postdevelopment theorists and development ethnographers, this article suggests to restart the steam engine of development critique by attending to the "irony of development", i.e. ironic predicaments that explain the sustenance of the development industry despite its persistent failures to live up to its aspirations. How one reads this "irony of successful failure" amounts to a question of how to practise critique, what position the critic takes and what ironic stances the critic intones. While post-development operates an external critique, development ethnographers practise an internal one. I propose to transform the latter into an immanent critique, which identifies "moral excess" as the constitutive function of the ironic predicaments inside the global development apparatus.
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