Content-Length: 168135 | pFad | https://www.academia.edu/101864192/Ismail_Kadares_Dosja_H_und_die_Kom%C3%B6die_des_Epos

(PDF) Ismail Kadares Dosja H. und die Komödie des Epos
Academia.eduAcademia.edu

Ismail Kadares Dosja H. und die Komödie des Epos

2019, Komik der Integration, Grenzpraktiken und Identifikationen des Sozialen

Ismail Kadares 1981 erschienener Roman Dosja H. (Die Akte H.) erzählt die Geschichte von zwei jungen irisch-amerikanischen Wissenschaftlern, die in den 1930ern zu einem Dorf im Norden von Albanien reisen, um dort die philologische Quellen der homerischen Epik (der „H“ des Titels) zu recherchieren. Während ihrer Forschungsarbeiten finden sie ihre Arbeit nicht nur von der Schwierigkeit der Aufgabe und der fremden Kultur vereitelt, sondern auch von den jeweiligen sich durchkreuzenden außer- und inländischen Interessen und einer regelrechten Komödie der Irrungen, die die albanische Regierung (zur Zeit des Romans noch eine monarchische) in ihrer Paranoia um die Wissenschaftler herum aufführt. Der Besuch der fremden Wissenschaftler löst damit eine komische Kette von Ereignisse aus, die die Spannungen zwischen Antike und Moderne, Dorf und Stadt, West und Ost und – nicht zuletzt – zwischen bardischer Schöpfung, donquischottischer Wissenschaft, religiösem Fanatismus und politsicher Intrige bloßlegen, ohne aber je ganz festzustellen wer der eigentliche Lächerliche ist. Unentschieden im Roman bleibt auch die Frage, ob das Epos an sich wesentlich ambig ist, oder ob nur der Versuch, noch im 20. Jahrhundert nach seiner Entstehung zu suchen, lächerlich vergeblich ist. Kadares Roman lässt sich vielerlei lesen, allerdings betrifft er unvermeidlich die Rolle der Epik als der legitimierende Kunstform schlechthin und treibt eine Art subversive Spiel damit. (Dass die Slawisten Milman Parry und Albert Bates Lord, auf deren ethno-literaturwissenschaftlichen Forschungen im heutigen Bosnien-Herzegowina der Roman lose basiert ist, eben nicht auf der selben Weise gescheitert sind, muss in der Analyse des Romans auch mitberücksichtigt werden.) Wenn die epische Dichtung zugleich eine Art Integrations- und Durchsetzungsmittel ist – nicht von Individuen in der Gesellschaft, sondern von Ländern auf der internationalen Bühne – , dann zieht Kadares Komik genau diese Möglichkeit der Integration und Durchsetzungskraft in Zweifel. Dementsprechend wird auch die Gattungsfrage in Betracht gezogen: spricht Georg Lukács von einer „epischen Totalität“ und der grundlegenden Gespaltenheit des Romans, so legt Kadares spielerischer Umgang mit der Ursprungsgeschichte des Epos die Frage nahe, was passiert, wenn die den Roman kennzeichnende Ironie sich in die wesentlich ironiefreie Welt der Heldendichtung einmischt. Die These dieses Artikels ist, dass gerade aus diesem Gattungszusammenstoß eine besondere Art von Komödie entsteht, die Komödie der Ironie des Nationalepos und insofern auch jedes Nationalstaates, der sich auf einen monologischen und einmaligen Ursprung berufen würde. Zugleich aber lässt sich vermuten, dass Kadare eben diese Komödie als die richtige Integrationsmöglichkeit vorschlägt, die eben aus keinem uralten Ursprung stammt, sondern gerade aus der Albernheit der Gegenwart.

Leseprobe Özkan Ezli / Deniz Göktürk / Uwe Wirth (Hgg.) Unter Mitarbeit von Jennifer Neumann und Carolin Haupt Komik der Integration Grenzpraktiken und Identifikationen des Sozialen AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2019 Abbildung auf dem Umschlag: Konferenzplakat der Tagung Komik der Integration, Konstanz 2013 von Eddy Decembrino Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Aisthesis Verlag Bielefeld 2019 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Druck: Majuskel Medienproduktion gmbh, Wetzlar Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8498-1315-4 www.aisthesis.de Inhalt Vorwort .............................................................................................................. 7 Dynamiken der Desintegration Uwe Wirth Komik der Integration, Komik der Nicht-Integration ....................... 19 Deniz Göktürk Reisen nach Jerusalem. Mit Dr. Freud im Eisenbahnabteil ................ 43 Helga Kotthoff Ethno-Comedy zwischen Inklusion und Exklusion. Komische Hypertypen und ihre kommunikativen Praktiken ............ 65 Anna Louban Komik der Authentizität. Gemeinsames Lachen im Kontext der deutschen Ausländerbehörde ............................................................ 103 Corinna Assmann Goodness Gracious Me! Komik als Spiel mit Differenzen und Ähnlichkeiten in der British Asian Comedy ....................................................................... 125 Kipp-Figuren Waar und The Yes Men (Deniz Göktürk übers.) Gold in den Beinen. Refugreenergy/Flüchtgrünergie ........................ 147 Rainer Dachselt Döner-TV. Ausschnitt aus einer fiktiven Rundfunkratssitzung ........ 151 Muhsin Omurca Integration schafft Arbeitsplätze .............................................................. 157 Bernd Stiegler Türken, Schwule und Klingonen. Versuch über intergalaktische Kommunikation ................................... 165 Friedrich W. Block „Tupi, or not tupi that is the question“. Notiz zur Anthropophagie 179 Erzählen jenseits der Integration Thomas Weitin „Sonst macht er dich zur Türkin“. Die Komik der Integration in C. F. Meyers Novelle Der Schuss von der Kanzel ......................................................................... 189 Aleida Assmann Große Erwartungen und Rückschläge im Gelobten Land. Komik der Integration in Mary Antins Einwanderungsroman The Promised Land ..................................................................................... 209 Erica Weitzman Ismail Kadares Dosja H. und die Komödie des Epos ........................... 229 Marija Sruk Grenzüberschreitendes Lachen. Komik als alternative Integration des Holocaust in die deutsche Erinnerungslandschaft ................................................... 253 Annika Orich „Wir wollen nicht ins Comedy-KZ“. Serdar Somuncu, Oliver Polak, Ethno-Komik und deutsche Zugehörigkeits- und Erinnerungskultur ...................... 273 Autoren .............................................................................................................. 299 Komik der Integration: Grenzpraktiken der Gemeinschaft Der Band Komik der Integration will all jene Grenzpraktiken in den Blick nehmen, die Widersprüche bei sozialen und kulturellen Zugehörigkeitsverhandlungen in Szene setzen. Dabei geht es vor allem darum, zu klären, wie Praktiken und Konzepte der Integration komisch in Frage gestellt werden. Dies geschieht zum Beispiel in der 2011 online gestellten „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“,1 die mittlerweile fast 35 Millionen mal abgerufen wurde: Auf die Straßenumfrage, wer der deutsche Bundeskanzler sei, gibt ein Passant mit markant ausgestelltem Migrationshintergrund die Antwort: „Das ist der Angelo; Angelo Merte“. Das ist jedoch erst der Auftakt für eine Kaskade an schier unglaublichen Wissenslücken. Was vielen, die dieses Video abriefen, offenbar ein willkommener Anlass für empörte Kommentare über integrationsunwillige Ausländer war, entpuppte sich als Satire des Comedian Tedros Teclebrhan alias Teddy, der damit ein Schlaglicht auf die stillschweigenden Erwartungen derer warf, die Integration in erster Linie als Einüben von geteiltem Wissen und geteilten Werten auffassen. Der Band will einen Beitrag zur Erkundung der kulturellen Grundlagen von Integration leisten, indem er das Komische als Grenzphänomen sozialer und kultureller Übereinkünfte in den Mittelpunkt rückt. Zugleich soll eine Brücke zu jener avancierten theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Komischen geschlagen werden, wie sie mit dem Band „Poetik und Hermeneutik“, Das Komische, begründet wurde.2 So kann man im Anschluss an Hans Robert Jauß3 fragen, inwiefern das Umschlagen eines distanzierenden Lachens-Über in ein solidarisierendes Lachen-Mit als Momentum komischer Integration zu werten ist, nämlich als „lachendes Einverständnis“, in dem zugleich ein Perspektivenwechsel vollzogen wird. Das Spiel von Lachen-Über und Lachen-Mit offenbart jedoch noch in anderen Hinsichten Bezüge zum Thema kulturelle Grundlagen von Integration, 1 TeddyComedy: „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“, [http://www.YouTube.com/watch?v=vcAN-Efb57I] (letzter Zugriff: 21.05.2018). 2 Vgl. hierzu auch: Wirth: Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. 3 Jauß: „Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden“, S. 109. Vorwort indem es die Frage aufwirft: Worüber wird gelacht? Über fremde Sitten und Gewohnheiten, aber auch über ‚fremdartiges‘ Verhalten. Das heißt: Das Lachen-Über ist das Resultat eines Vergleichs, der Ähnlichkeit oder Differenz (häufig gefasst als kulturelle Differenz) am Anderen feststellt. Die Komik der Integration tritt hier – Stichwort „Angelo Merte“ – als komische Desintegration zu Tage. Im Rekurs auf Sigmund Freuds Witztheorie werden derartige im Lachen adressierte kulturelle Differenzen als affekt- und aggressionsgeladene Aufwandsdifferenz des Lachenden konzeptionalisierbar: „Solche Aufwanddifferenzen entstehen zwischen dem Fremden und dem Eigenen, dem Gewohnten und dem Veränderten, dem Erwarteten und dem Eingetroffenen“.4 Zu klären bleibt, inwiefern Freuds Konzept der Aufwandsdifferenz ein Modell nicht nur von innerpsychischer Ökonomie, sondern auch von transkulturellen Beziehungen in multiethnischen, vielsprachigen und multikonfessionellen Zusammenhängen liefert. Dies mündet in eine zweite Frage: Mit wem wird gelacht? Das Freudsche Witzkonzept ist ein Modell der verlachten Dritten, und diese Dritten sind immer die Anderen (bei Freud die Frauen oder die sich assimiliert gebärdenden Ostjuden). Mit Blick auf die Frage nach den kulturellen Grundlagen von Integration muss daher auch geklärt werden, unter welchen Bedingungen es zu einem Lachen-Mit dem Anderen kommt – unter welchen Bedingungen der oder die Andere ins lachende Publikum integriert wird. Die Komik der Integration eröffnet hier die Möglichkeit eines Integriert-Werdens in die Gesellschaft der Lachenden – unter der Voraussetzung, dass es zu wechselnden Lach-Allianzen kommt, die ein Spiel von Integration und Desintegration in Gang setzen. Nach Helmuth Plessner sind Lachen und Weinen Grenzreaktionen in der Krise, die als Reaktionen auf die Ambivalenz der menschlichen Existenz zu verstehen sind: „Gemeinsam ist Lachen und Weinen, daß sie Antworten auf eine Grenzlage sind“.5 Zugleich bringen derartige existentielle Grenzlagen nicht nur die individuellen Grenzen, sondern auch die Grenzen der Gesellschaft zum Vorschein – insbesondere die stillschweigend vorausgesetzten gesellschaftlichen Normalerwartungen. Dabei führt die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Anerkennung durch eine Gemeinschaft gemäß der in ihr geltenden Konventionen und Normalerwartungen einerseits und den Abweichungen von diesen Normerwartungen in unserer kontingenten 4 Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 217f. 5 Vgl. Plessner: „Lachen und Weinen“, S. 378. 8 Vorwort leiblichen Wirklichkeit andererseits notwendigerweise zu Konflikten. In dieser Diskrepanz liegt für Plessner das Risiko des ‚Gesichtsverlusts‘, sprich: „das Risiko der Lächerlichkeit“ und der „Umkippung ins Komische“,6 vor der kein Ernst sicher ist. Die Unvereinbarkeit von Ambition und Wirklichkeit, von Geist und Körper, die sich etwa in Unbeholfenheit und Automatismen äußert, „hat etwas Lächerliches an sich“ und lässt letztlich jeden als „Karikatur seiner selbst“ erscheinen.7 In diesen Momenten lächerlicher Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild werden die Grenzen der Gemeinschaft als Komik der Grenzverletzung erfahrbar – und in diesem Sinne auch als Komik der Integration respektive der Nicht-Integrierbarkeit. Darüber hinausgehend ist nach den komischen Rahmenbrüchen zu fragen, die im Zuge von Integrationsprozessen die Rahmenbedingungen von Gemeinschaften und Gesellschaften offenbar werden lassen – dies betrifft insbesondere jene transkulturellen Kipp-Figuren, bei denen sich die im Komischen zusammengeschlossenen Positionen in einer Weise wechselseitig negieren, sodass eine Position die andere kippen lässt.8 Dabei gilt es zum einen zu klären, inwiefern die witzige Indienstnahme dieses „Umkippens“,9 aber auch dessen Nachvollzug durch Produzenten und Rezipienten komischen Verhaltens eine instabile Situation erzeugt, die sowohl die Möglichkeit der Integration als auch der Desintegration eröffnet; zum anderen, unter welchen Bedingungen die Komik der Integration zu einer Instabilität kultureller Verhältnisse führt, die womöglich sogar das Konzept Integration kippen lässt. Historisch ließe sich das Phänomen transkultureller Kipp-Figuren weit zurückverfolgen, etwa anhand der Schwänke von klassischen Schelmen aus Ost und West, wie beispielsweise Nasreddin Hodscha, einer transnationalen Kristallisationsgestalt, die in der Türkei, aber auch im Iran und den arabischen Ländern jeweils gerne als Nationalheld in Anspruch genommen wird,10 oder Till Eulenspiegel, einer medialen Kultfigur der frühen Neuzeit.11 In hierarchisch strukturierten höfischen Gesellschaften wirkten Spott 6 7 8 9 10 11 Plessner: „Der Kampf ums wahre Gesicht. Das Risiko der Lächerlichkeit“, S. 70. Ebd. Iser: „Das Komische: ein Kipp-Phänomen“, S. 399. Preisendanz: Über den Witz, S. 21. Vgl. Marzolph: Nasreddin Hodscha. 666 wahre Geschichten. Vgl. Coxon: „Hehe! Überlegungen zum erzählten Lachen in ‚Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel‘“. 9 Vorwort und Satire ausgrenzend – wie der Pranger –, doch auch in modernen, ‚aufgeklärten‘ Gesellschaften hat das Lachen-Über den oder die anderen Ausgrenzungsfunktion. So behauptet Umberto Eco, das Komische erscheine immer auch als ein Rahmenbruch, der von jemandem begangen wird, den wir als „Barbaren“ abtun können:12 als jemanden, der sich außerhalb der Grenzen unserer Gemeinschaft befindet. Der karikierenden Darstellung von kulturellen Stereotypen, die die Grenzen der Gemeinschaft thematisch werden lassen, gilt im Folgenden unsere besondere Aufmerksamkeit, und zwar auch ihren aggressiven Untertönen. Dabei gehen wir von der Arbeitshypothese aus, dass man in den letzten 20 Jahren die Verbreitung eines besonderen Typus von transcultural comedy beobachten kann, die implizit ablaufende Zugehörigkeitsverhandlungen und Grenzpraktiken explizit macht und damit die doppelte Dynamik von Integration und Desintegration performativ zur Schau stellt. Mit der Vorführung der türkischdeutschen Migrationsgeschichte als Familienkomödie in Almanya. Willkommen in Deutschland – bei den Berliner Filmfestspielen 2011 unter Applaus des Bundespräsidenten – ist die Komödie auf die Integration gekommen. Dabei gab es schon früher Modelle des transethnischen Humors, der zugeschriebene Identitätsmuster im Rollenspiel verflüssigt – von Ernst Lubitschs Meyer aus Berlin (1919) und Die Austernprinzessin (1919) über die anarchistische Komödien der Marx Brothers in der frühen Tonfilmzeit bis hin zu Verkleidungen von Schelmen wie Hussi Kutlucan in Ich Chef Du Turnschuh (1998) sowie den cyberaktivistischen Interventionen von Kanak TV oder Kaya Yanars Fernsehshow Was guckst du?!. Der Band Komik der Integration befasst sich mit den Sparten Literatur, Karikatur, Film, Rundfunk, Fernsehen, Kabarett und Performance-Kunst, auch um ein Gespräch zwischen Theoretikern aus den Literatur-, Kulturund Sozialwissenschaften einerseits und Praktikern der Komik wie Autoren, Kuratoren und Künstlern andererseits zu initiieren. Ein Fokus liegt auf der Inszenierung und Performanz zugeschriebener und angenommener Identitäten, die in Debatten um Migration und Integration in der Regel stillschweigend vorausgesetzt werden.13 Die fünf Beiträge im ersten Teil dieses Bandes „Dynamiken der Desintegration“ (U. Wirth, D. Göktürk, H. Kotthoff, A. Louban, C. Assmann) widmen sich grundsätzlichen Fragen der sozialen Dynamik von Komik als 12 Eco: „Frames of comic freedom“, S. 2. 13 Vgl. Göktürk et al.: Transit Deutschland. 10 Vorwort Grenzpraktik und situieren zugleich theoretische Modelle in jeweils praxologischen, kulturellen und medialen Zusammenhängen. Im Mittelteil „KippFiguren“ finden sich fünf ‚widerspenstige‘ Interventionen: eine Aktion der Yes Men, die utilitaristische Fixierungen in der europäischen Flüchtlingsdebatte bloßstellen (übers. D. Göktürk), eine Glosse aus der Rundfunkpraxis (R. Dachselt), ein Kabarett-Auftritt eines Karikaturisten (M. Omurca), eine Filmlektüre zu einer Science-Fiction-Komödie (B. Stiegler) und eine „Notiz zur Anthropophagie“ (F. Block). Der letzte Teil „Erzählen jenseits der Integration“ präsentiert fünf Fallanalysen zu Gemeinschaftverhandlungen in Erzählungen – vom Realismus C. F. Meyers mit orientalistischen Anklängen in Anlehnung an die Odyssee und Wilhelm Tell (Th. Weitin) über die autobiographische Assimilationserzählung Mary Antins (A. Assmann) und einen Roman, der albanisches Nationalbewusstsein im Rekurs auf homerische Epik herstellt (E. Weitzman), bis hin zu komischen Kontrapunkten in der Holocaust-Gedenkkultur der Gegenwart (M. Sruk und A. Orich). In allen drei Teilen des Bandes stellt sich die Aufgabe, das Komische als eine Grenzpraktik zu beschreiben, die nicht nur zu einer Destabilisierung von Grenzen führt, indem sie diese durch unabsichtlich komisches und absichtlich komisierendes Verhalten in Frage stellt; vielmehr macht das Komische als Grenzpraktik diese Grenzen im Vollzug komischer Verhaltensweisen überhaupt erst explizit. Das heißt: Komik thematisiert Kultur als Geflecht von impliziten, stillschweigend vorausgesetzten Regeln,14 die im Sinne einer tacit integration15 unsere Weltanschauung und unser soziales Verhalten bestimmen. Komische Unfälle und komisierende Taktiken führen umgekehrt zu einem Explizit-Werden dieser impliziten kulturell, vor allem aber auch institutionell vorausgesetzten Codes. Insofern wird die Komik der Integration als „Beschreibungsmodell für dezentrierte Organisationsweisen des Sozialen“16 fruchtbar gemacht. Das Cover dieses Bandes basiert auf dem von Eddy Decembrino gestalteten Plakat für die Konferenz Komik der Integration, die vom 11. bis 13. Juli 2013 an der Universität Konstanz im Rahmen des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ stattfand. Die Figur des widerständigen Pinguins ist inspiriert durch ein Graffiti, das in jenem Jahr während der 14 Vgl. hierzu Umberto Eco: „the rule is not cited but assumed implicit“ (Eco: „The Comic and the Rule“, S. 274). 15 Polanyi: „The Logic of Tacit Interference“, S. 144. 16 Einrichtungsantrag, Abschnitt I.2.2.3. 11 Vorwort Gezi-Park-Proteste in Istanbul im Umlauf war. Damit erschließt sich zugleich ein politischer Horizont für unseren Band, nämlich der Einsatz von Komik als Taktik, als „List“, um bestehende Machtverhältnisse zu unterwandern. Viele Alltagspraktiken haben Michel de Certeau zufolge „taktischen Charakter“. Gleiches gilt für viele „glückliche Einfälle sowohl poetischer wie kriegerischer Natur“.17 Diese operationalen Leistungen gehen, so de Certeau, auf sehr alte Kenntnisse zurück […]. In unseren Gesellschaften vermehren sie sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit, als ob sie – da sie nicht mehr von einer sie umgebenden Gemeinschaft fixiert werden – aus der Bahn gerieten, herumirrten und die Konsumenten mit den Immigranten in einem System auf eine Stufe stellten, das zu groß ist, als daß es das ihre sein könnte, und das zu engmaschig ist, als daß sie ihm entkommen könnten.18 Im Rekurs auf diese Passage kommen nun die vielfältigen Praktiken, die Grenzen von Gemeinschaften zu ‚testen‘, auch als komische Taktiken ins Spiel. So wurde Komik zu einer zentralen Taktik des Aufstands um den Gezi-Park. Zu Beginn der Proteste am Taksim-Platz in Istanbul ab dem 28. Mai 2013 war im türkischen Fernsehen nichts von dem Konflikt zu sehen. Während am 1. Juni die Polizei die Demonstranten, die gegen die Zerstörung eines öffentlichen Parks angetreten waren, mit Tränengas und Wasserwerfern traktierte, zeigte der Kanal CNN Türk, der dem regierungstreuen Medienkonzern Doğan Holding angehört, einen Naturfilm über das Leben der Pinguine. Angesichts dieser eklatanten – de Certeau würde sagen „strategischen“19 – Ausblendung diente der Pinguin mit Gasmaske als taktisches Leitbild des Widerstands und wurde zum Gegenstand unzähliger Graffitis und Karikaturen. Die Satire-Zeitschrift Penguen (2002-2017) so wie viele andere Blätter beteiligten sich an dem Spiel. Jenseits der etablierten Kanäle in den sozialen Medien entwickelte sich zudem blitzschnell eine alternative Medienproduktion mit neuen Formen der Kommunikation. Viele „Çapulcu“s (zu Deutsch: „Plünderer“ – die Bewegung machte sich dabei kurzerhand eine verächtliche Beschimpfung seitens des damaligen Premierminister Erdoğans als Selbstbezeichnung zu eigen) setzten den Pinguin mit der Gasmaske als ihr Ikon auf Facebook. Auf YouTube erschien ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm über Pinguine, unterlegt mit Originalton von den Demonstrationen und 17 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 24. 18 Ebd. 19 Ebd. 12 Vorwort Abb. 1: Graffiti an einer Hauswand, Istanbul neuem Kommentar, der die Pinguine anthropomorphisierte.20 Der harmlose Tierfilm wurde damit zur taktischen Parodie einer strategischen Fernsehberichterstattung umgepolt, gewidmet „CNN Türk – in Liebe“. In bewährter Manier entdeckt Komik das Ähnliche im Unähnlichen. Die Bewegung in Gruppen wird durch den Kommentar umgemünzt zum Anmarsch über die Bosporus-Brücke, der Nestbau der Vögel als Errichtung von Barrikaden, die schwerfälligen Seelöwen zu Polizisten, die aufrechten Verteidiger ihres Reviers zu Provokateuren. Bei näherem Hinsehen erschließt sich die tonal verfremdete soziale Dynamik der Vögel als Gleichnis von taktischen Platzkämpfen im städtischen Raum. Das Publikum wird zur Identifikation mit den Pinguinen eingeladen und zugleich angestiftet zum Lachen über Zensur in der Medienpraxis. Ein hervorstechendes Merkmal der Gezi-Proteste war ihre kreative Energie, die sich in audiovisuellen No-Budget-Produktionen und performativen 20 „CNN Türk: Penguen Direnişi“, [https://www.youtube.com/watch?v=5EUSp6OO9E] (letzter Zugriff: 21.05.2018). 13 Vorwort Interventionen niederschlug. Auf Facebook wurden geradezu manisch Links weiterverbreitet – nicht zuletzt von „Freunden“ in Berlin, London, Rio und San Francisco. Remontage, Recycling und Resignifikation des dokumentarischen Materials durch Neuvertonung (und damit Neuerzählung) dient der Entlarvung medialer Konventionen der (Miss-)Repräsentation von Realität. Komik im digitalen Informationszeitalter beruht häufig auf de- und re-integrierenden Wiederholungen mit Variationen. Dass die parodistische Demontage selektiver Berichterstattung keinen politischen Wandel auf nationaler Ebene erwirkte, ist bekannt. Gegen Staatsgewalt und Zensur ist eben mit den Mitteln der Komik nicht ohne weiteres beizukommen. Im Erscheinungsjahr von Komik der Integration wird der Taksim-Platz radikal umstrukturiert sein, die friedlich-kreative Versammlung vielfältiger Gruppen der zivilen Gesellschaft auf dem Platz nurmehr eine nostalgische Erinnerung. Die Anverwandlung des Pinguins im Konstanzer Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ auf dem Tagungsplakat – und nun auch auf dem Buchcover – rückt unterdessen den ikonischen Sympathieträger in einen neuen Horizont und öffnet die Pinguin-Figur für neue Assoziationen. Als einzige sticht sie rosarot heraus aus der gleichförmig schwarzweißen Masse. Wer könnte sie sein? Und wozu will sie uns mit ihren beiden erhobenen Flügeln anstiften? Hegt sie vielleicht Zweifel an der Grundlagenforschung zur Integration? Fragen über Fragen. Insofern fungiert die nonkonformistische Pinguin-Figur als taktisches Maskottchen unseres Bandes. Özkan Ezli, Deniz Göktürk, Uwe Wirth Literatur „CNN Türk: Penguen Direnişi“, [https://www.youtube.com/watch?v=5EUSp6OO9E] (letzter Zugriff: 21.05.2018). de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Merve u. a. 1980. Coxon, Sebastian: „Hehe! Überlegungen zum erzählten Lachen in ‚Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel‘“, in: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (12501750), hg. v. Stefan Bießenecker u. Christian Kuhn, Bamberg 2012, S. 143-161. Eco, Umberto: „Frames of Comic Freedom“, in: Carnival!, hg. v. dems./Thomas A. Sebeok, Berlin 1984, S. 1-9. Eco, Umberto: „The Comic and the Rule“, in: Faith in Fakes, hg. v. dems., London 1968, S. 269-278. 14 Vorwort Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: ders.: Studienausgabe, IV. Frankfurt a. M. 1969 (1905). Göktürk, Deniz/David Gramling/ Anton Kaes (Hg.): Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, Konstanz 2011. Iser, Wolfgang (1976): „Das Komische: ein Kipp-Phänomen“, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische, München 1976, S. 398-402 Jauß, Hans Robert: „Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden“, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische, München 1976, S. 103-132. Marzolph, Ulrich: Nasreddin Hodscha. 666 wahre Geschichten, München 2002, S. 7-23. Plessner, Helmut: „Lachen und Weinen“ (1941), in: ders. Gesammelte Schriften. Band VII. Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt a. M., 1982, S. 201-387. Plessner, Helmuth: „Der Kampf ums wahre Gesicht. Das Risiko der Lächerlichkeit“, in: ders.: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. 2002, S. 58-78. Polanyi, Michael (1969): „The Logic of Tacit Interference“, in: Knowing and Being: essays, hg. v. dems., Chicago 1969, S. 138-158. Preisendanz, Wolfgang (1970): Über den Witz. Konstanz 1970. TeddyComedy: „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“, [http:// www.YouTube.com/watch?v=vcAN-Efb57I] (letzter Zugriff: 21.05.2018). Wirth, Uwe (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017. Abbildung Abb. 1: Graffiti an einer Hauswand, Istanbul. 15








ApplySandwichStrip

pFad - (p)hone/(F)rame/(a)nonymizer/(d)eclutterfier!      Saves Data!


--- a PPN by Garber Painting Akron. With Image Size Reduction included!

Fetched URL: https://www.academia.edu/101864192/Ismail_Kadares_Dosja_H_und_die_Kom%C3%B6die_des_Epos

Alternative Proxies:

Alternative Proxy

pFad Proxy

pFad v3 Proxy

pFad v4 Proxy