Leseprobe
Özkan Ezli / Deniz Göktürk / Uwe Wirth
(Hgg.)
Unter Mitarbeit von Jennifer Neumann und Carolin Haupt
Komik der Integration
Grenzpraktiken und Identifikationen des Sozialen
AISTHESIS VERLAG
Bielefeld 2019
Abbildung auf dem Umschlag:
Konferenzplakat der Tagung Komik der Integration, Konstanz 2013
von Eddy Decembrino
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters
der Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration“.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Aisthesis Verlag Bielefeld 2019
Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld
Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de
Druck: Majuskel Medienproduktion gmbh, Wetzlar
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-8498-1315-4
www.aisthesis.de
Inhalt
Vorwort ..............................................................................................................
7
Dynamiken der Desintegration
Uwe Wirth
Komik der Integration, Komik der Nicht-Integration ....................... 19
Deniz Göktürk
Reisen nach Jerusalem. Mit Dr. Freud im Eisenbahnabteil ................ 43
Helga Kotthoff
Ethno-Comedy zwischen Inklusion und Exklusion.
Komische Hypertypen und ihre kommunikativen Praktiken ............ 65
Anna Louban
Komik der Authentizität. Gemeinsames Lachen im Kontext
der deutschen Ausländerbehörde ............................................................ 103
Corinna Assmann
Goodness Gracious Me!
Komik als Spiel mit Differenzen und Ähnlichkeiten
in der British Asian Comedy ....................................................................... 125
Kipp-Figuren
Waar und The Yes Men (Deniz Göktürk übers.)
Gold in den Beinen. Refugreenergy/Flüchtgrünergie ........................ 147
Rainer Dachselt
Döner-TV. Ausschnitt aus einer fiktiven Rundfunkratssitzung ........ 151
Muhsin Omurca
Integration schafft Arbeitsplätze .............................................................. 157
Bernd Stiegler
Türken, Schwule und Klingonen.
Versuch über intergalaktische Kommunikation ................................... 165
Friedrich W. Block
„Tupi, or not tupi that is the question“. Notiz zur Anthropophagie
179
Erzählen jenseits der Integration
Thomas Weitin
„Sonst macht er dich zur Türkin“.
Die Komik der Integration in C. F. Meyers Novelle
Der Schuss von der Kanzel ......................................................................... 189
Aleida Assmann
Große Erwartungen und Rückschläge im Gelobten Land.
Komik der Integration in Mary Antins Einwanderungsroman
The Promised Land ..................................................................................... 209
Erica Weitzman
Ismail Kadares Dosja H. und die Komödie des Epos ........................... 229
Marija Sruk
Grenzüberschreitendes Lachen.
Komik als alternative Integration des Holocaust
in die deutsche Erinnerungslandschaft ................................................... 253
Annika Orich
„Wir wollen nicht ins Comedy-KZ“.
Serdar Somuncu, Oliver Polak, Ethno-Komik
und deutsche Zugehörigkeits- und Erinnerungskultur ...................... 273
Autoren .............................................................................................................. 299
Komik der Integration:
Grenzpraktiken der Gemeinschaft
Der Band Komik der Integration will all jene Grenzpraktiken in den Blick
nehmen, die Widersprüche bei sozialen und kulturellen Zugehörigkeitsverhandlungen in Szene setzen. Dabei geht es vor allem darum, zu klären,
wie Praktiken und Konzepte der Integration komisch in Frage gestellt werden. Dies geschieht zum Beispiel in der 2011 online gestellten „Umfrage
zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“,1 die mittlerweile fast
35 Millionen mal abgerufen wurde: Auf die Straßenumfrage, wer der deutsche Bundeskanzler sei, gibt ein Passant mit markant ausgestelltem Migrationshintergrund die Antwort: „Das ist der Angelo; Angelo Merte“. Das ist
jedoch erst der Auftakt für eine Kaskade an schier unglaublichen Wissenslücken. Was vielen, die dieses Video abriefen, offenbar ein willkommener
Anlass für empörte Kommentare über integrationsunwillige Ausländer war,
entpuppte sich als Satire des Comedian Tedros Teclebrhan alias Teddy, der
damit ein Schlaglicht auf die stillschweigenden Erwartungen derer warf, die
Integration in erster Linie als Einüben von geteiltem Wissen und geteilten
Werten auffassen.
Der Band will einen Beitrag zur Erkundung der kulturellen Grundlagen
von Integration leisten, indem er das Komische als Grenzphänomen sozialer und kultureller Übereinkünfte in den Mittelpunkt rückt. Zugleich soll
eine Brücke zu jener avancierten theoretischen Auseinandersetzung mit
dem Phänomen des Komischen geschlagen werden, wie sie mit dem Band
„Poetik und Hermeneutik“, Das Komische, begründet wurde.2 So kann
man im Anschluss an Hans Robert Jauß3 fragen, inwiefern das Umschlagen
eines distanzierenden Lachens-Über in ein solidarisierendes Lachen-Mit als
Momentum komischer Integration zu werten ist, nämlich als „lachendes
Einverständnis“, in dem zugleich ein Perspektivenwechsel vollzogen wird.
Das Spiel von Lachen-Über und Lachen-Mit offenbart jedoch noch in anderen Hinsichten Bezüge zum Thema kulturelle Grundlagen von Integration,
1 TeddyComedy: „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“,
[http://www.YouTube.com/watch?v=vcAN-Efb57I] (letzter Zugriff: 21.05.2018).
2 Vgl. hierzu auch: Wirth: Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch.
3 Jauß: „Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden“, S. 109.
Vorwort
indem es die Frage aufwirft: Worüber wird gelacht? Über fremde Sitten
und Gewohnheiten, aber auch über ‚fremdartiges‘ Verhalten. Das heißt:
Das Lachen-Über ist das Resultat eines Vergleichs, der Ähnlichkeit oder
Differenz (häufig gefasst als kulturelle Differenz) am Anderen feststellt. Die
Komik der Integration tritt hier – Stichwort „Angelo Merte“ – als komische
Desintegration zu Tage. Im Rekurs auf Sigmund Freuds Witztheorie werden
derartige im Lachen adressierte kulturelle Differenzen als affekt- und aggressionsgeladene Aufwandsdifferenz des Lachenden konzeptionalisierbar:
„Solche Aufwanddifferenzen entstehen zwischen dem Fremden und dem
Eigenen, dem Gewohnten und dem Veränderten, dem Erwarteten und dem
Eingetroffenen“.4 Zu klären bleibt, inwiefern Freuds Konzept der Aufwandsdifferenz ein Modell nicht nur von innerpsychischer Ökonomie, sondern
auch von transkulturellen Beziehungen in multiethnischen, vielsprachigen
und multikonfessionellen Zusammenhängen liefert.
Dies mündet in eine zweite Frage: Mit wem wird gelacht? Das Freudsche
Witzkonzept ist ein Modell der verlachten Dritten, und diese Dritten sind
immer die Anderen (bei Freud die Frauen oder die sich assimiliert gebärdenden Ostjuden). Mit Blick auf die Frage nach den kulturellen Grundlagen von
Integration muss daher auch geklärt werden, unter welchen Bedingungen es
zu einem Lachen-Mit dem Anderen kommt – unter welchen Bedingungen
der oder die Andere ins lachende Publikum integriert wird. Die Komik der
Integration eröffnet hier die Möglichkeit eines Integriert-Werdens in die
Gesellschaft der Lachenden – unter der Voraussetzung, dass es zu wechselnden Lach-Allianzen kommt, die ein Spiel von Integration und Desintegration in Gang setzen.
Nach Helmuth Plessner sind Lachen und Weinen Grenzreaktionen in
der Krise, die als Reaktionen auf die Ambivalenz der menschlichen Existenz
zu verstehen sind: „Gemeinsam ist Lachen und Weinen, daß sie Antworten
auf eine Grenzlage sind“.5 Zugleich bringen derartige existentielle Grenzlagen nicht nur die individuellen Grenzen, sondern auch die Grenzen der
Gesellschaft zum Vorschein – insbesondere die stillschweigend vorausgesetzten gesellschaftlichen Normalerwartungen. Dabei führt die Diskrepanz
zwischen dem Wunsch nach Anerkennung durch eine Gemeinschaft gemäß
der in ihr geltenden Konventionen und Normalerwartungen einerseits und
den Abweichungen von diesen Normerwartungen in unserer kontingenten
4 Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 217f.
5 Vgl. Plessner: „Lachen und Weinen“, S. 378.
8
Vorwort
leiblichen Wirklichkeit andererseits notwendigerweise zu Konflikten. In
dieser Diskrepanz liegt für Plessner das Risiko des ‚Gesichtsverlusts‘, sprich:
„das Risiko der Lächerlichkeit“ und der „Umkippung ins Komische“,6 vor der
kein Ernst sicher ist. Die Unvereinbarkeit von Ambition und Wirklichkeit,
von Geist und Körper, die sich etwa in Unbeholfenheit und Automatismen
äußert, „hat etwas Lächerliches an sich“ und lässt letztlich jeden als „Karikatur seiner selbst“ erscheinen.7 In diesen Momenten lächerlicher Diskrepanz
zwischen Selbstbild und Fremdbild werden die Grenzen der Gemeinschaft
als Komik der Grenzverletzung erfahrbar – und in diesem Sinne auch als
Komik der Integration respektive der Nicht-Integrierbarkeit.
Darüber hinausgehend ist nach den komischen Rahmenbrüchen zu fragen, die im Zuge von Integrationsprozessen die Rahmenbedingungen von
Gemeinschaften und Gesellschaften offenbar werden lassen – dies betrifft
insbesondere jene transkulturellen Kipp-Figuren, bei denen sich die im
Komischen zusammengeschlossenen Positionen in einer Weise wechselseitig negieren, sodass eine Position die andere kippen lässt.8 Dabei gilt es zum
einen zu klären, inwiefern die witzige Indienstnahme dieses „Umkippens“,9
aber auch dessen Nachvollzug durch Produzenten und Rezipienten komischen Verhaltens eine instabile Situation erzeugt, die sowohl die Möglichkeit der Integration als auch der Desintegration eröffnet; zum anderen,
unter welchen Bedingungen die Komik der Integration zu einer Instabilität
kultureller Verhältnisse führt, die womöglich sogar das Konzept Integration
kippen lässt.
Historisch ließe sich das Phänomen transkultureller Kipp-Figuren weit
zurückverfolgen, etwa anhand der Schwänke von klassischen Schelmen
aus Ost und West, wie beispielsweise Nasreddin Hodscha, einer transnationalen Kristallisationsgestalt, die in der Türkei, aber auch im Iran und den
arabischen Ländern jeweils gerne als Nationalheld in Anspruch genommen
wird,10 oder Till Eulenspiegel, einer medialen Kultfigur der frühen Neuzeit.11 In hierarchisch strukturierten höfischen Gesellschaften wirkten Spott
6
7
8
9
10
11
Plessner: „Der Kampf ums wahre Gesicht. Das Risiko der Lächerlichkeit“, S. 70.
Ebd.
Iser: „Das Komische: ein Kipp-Phänomen“, S. 399.
Preisendanz: Über den Witz, S. 21.
Vgl. Marzolph: Nasreddin Hodscha. 666 wahre Geschichten.
Vgl. Coxon: „Hehe! Überlegungen zum erzählten Lachen in ‚Ein kurtzweilig
Lesen von Dil Ulenspiegel‘“.
9
Vorwort
und Satire ausgrenzend – wie der Pranger –, doch auch in modernen, ‚aufgeklärten‘ Gesellschaften hat das Lachen-Über den oder die anderen Ausgrenzungsfunktion. So behauptet Umberto Eco, das Komische erscheine immer
auch als ein Rahmenbruch, der von jemandem begangen wird, den wir als
„Barbaren“ abtun können:12 als jemanden, der sich außerhalb der Grenzen
unserer Gemeinschaft befindet.
Der karikierenden Darstellung von kulturellen Stereotypen, die die Grenzen der Gemeinschaft thematisch werden lassen, gilt im Folgenden unsere
besondere Aufmerksamkeit, und zwar auch ihren aggressiven Untertönen.
Dabei gehen wir von der Arbeitshypothese aus, dass man in den letzten
20 Jahren die Verbreitung eines besonderen Typus von transcultural comedy
beobachten kann, die implizit ablaufende Zugehörigkeitsverhandlungen
und Grenzpraktiken explizit macht und damit die doppelte Dynamik von
Integration und Desintegration performativ zur Schau stellt. Mit der Vorführung der türkischdeutschen Migrationsgeschichte als Familienkomödie
in Almanya. Willkommen in Deutschland – bei den Berliner Filmfestspielen
2011 unter Applaus des Bundespräsidenten – ist die Komödie auf die Integration gekommen. Dabei gab es schon früher Modelle des transethnischen
Humors, der zugeschriebene Identitätsmuster im Rollenspiel verflüssigt
– von Ernst Lubitschs Meyer aus Berlin (1919) und Die Austernprinzessin
(1919) über die anarchistische Komödien der Marx Brothers in der frühen
Tonfilmzeit bis hin zu Verkleidungen von Schelmen wie Hussi Kutlucan in
Ich Chef Du Turnschuh (1998) sowie den cyberaktivistischen Interventionen
von Kanak TV oder Kaya Yanars Fernsehshow Was guckst du?!.
Der Band Komik der Integration befasst sich mit den Sparten Literatur,
Karikatur, Film, Rundfunk, Fernsehen, Kabarett und Performance-Kunst,
auch um ein Gespräch zwischen Theoretikern aus den Literatur-, Kulturund Sozialwissenschaften einerseits und Praktikern der Komik wie Autoren,
Kuratoren und Künstlern andererseits zu initiieren. Ein Fokus liegt auf der
Inszenierung und Performanz zugeschriebener und angenommener Identitäten, die in Debatten um Migration und Integration in der Regel stillschweigend vorausgesetzt werden.13
Die fünf Beiträge im ersten Teil dieses Bandes „Dynamiken der Desintegration“ (U. Wirth, D. Göktürk, H. Kotthoff, A. Louban, C. Assmann)
widmen sich grundsätzlichen Fragen der sozialen Dynamik von Komik als
12 Eco: „Frames of comic freedom“, S. 2.
13 Vgl. Göktürk et al.: Transit Deutschland.
10
Vorwort
Grenzpraktik und situieren zugleich theoretische Modelle in jeweils praxologischen, kulturellen und medialen Zusammenhängen. Im Mittelteil „KippFiguren“ finden sich fünf ‚widerspenstige‘ Interventionen: eine Aktion der
Yes Men, die utilitaristische Fixierungen in der europäischen Flüchtlingsdebatte bloßstellen (übers. D. Göktürk), eine Glosse aus der Rundfunkpraxis
(R. Dachselt), ein Kabarett-Auftritt eines Karikaturisten (M. Omurca), eine
Filmlektüre zu einer Science-Fiction-Komödie (B. Stiegler) und eine „Notiz
zur Anthropophagie“ (F. Block). Der letzte Teil „Erzählen jenseits der Integration“ präsentiert fünf Fallanalysen zu Gemeinschaftverhandlungen in
Erzählungen – vom Realismus C. F. Meyers mit orientalistischen Anklängen in Anlehnung an die Odyssee und Wilhelm Tell (Th. Weitin) über die
autobiographische Assimilationserzählung Mary Antins (A. Assmann) und
einen Roman, der albanisches Nationalbewusstsein im Rekurs auf homerische Epik herstellt (E. Weitzman), bis hin zu komischen Kontrapunkten in
der Holocaust-Gedenkkultur der Gegenwart (M. Sruk und A. Orich).
In allen drei Teilen des Bandes stellt sich die Aufgabe, das Komische als
eine Grenzpraktik zu beschreiben, die nicht nur zu einer Destabilisierung
von Grenzen führt, indem sie diese durch unabsichtlich komisches und
absichtlich komisierendes Verhalten in Frage stellt; vielmehr macht das
Komische als Grenzpraktik diese Grenzen im Vollzug komischer Verhaltensweisen überhaupt erst explizit. Das heißt: Komik thematisiert Kultur
als Geflecht von impliziten, stillschweigend vorausgesetzten Regeln,14 die
im Sinne einer tacit integration15 unsere Weltanschauung und unser soziales
Verhalten bestimmen. Komische Unfälle und komisierende Taktiken führen
umgekehrt zu einem Explizit-Werden dieser impliziten kulturell, vor allem
aber auch institutionell vorausgesetzten Codes. Insofern wird die Komik der
Integration als „Beschreibungsmodell für dezentrierte Organisationsweisen
des Sozialen“16 fruchtbar gemacht.
Das Cover dieses Bandes basiert auf dem von Eddy Decembrino gestalteten Plakat für die Konferenz Komik der Integration, die vom 11. bis 13. Juli
2013 an der Universität Konstanz im Rahmen des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ stattfand. Die Figur des widerständigen Pinguins ist inspiriert durch ein Graffiti, das in jenem Jahr während der
14 Vgl. hierzu Umberto Eco: „the rule is not cited but assumed implicit“ (Eco: „The
Comic and the Rule“, S. 274).
15 Polanyi: „The Logic of Tacit Interference“, S. 144.
16 Einrichtungsantrag, Abschnitt I.2.2.3.
11
Vorwort
Gezi-Park-Proteste in Istanbul im Umlauf war. Damit erschließt sich zugleich
ein politischer Horizont für unseren Band, nämlich der Einsatz von Komik
als Taktik, als „List“, um bestehende Machtverhältnisse zu unterwandern.
Viele Alltagspraktiken haben Michel de Certeau zufolge „taktischen
Charakter“. Gleiches gilt für viele „glückliche Einfälle sowohl poetischer wie
kriegerischer Natur“.17 Diese operationalen Leistungen gehen, so de Certeau,
auf sehr alte Kenntnisse zurück […]. In unseren Gesellschaften vermehren sie
sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit, als ob sie – da sie nicht mehr von
einer sie umgebenden Gemeinschaft fixiert werden – aus der Bahn gerieten,
herumirrten und die Konsumenten mit den Immigranten in einem System auf
eine Stufe stellten, das zu groß ist, als daß es das ihre sein könnte, und das zu
engmaschig ist, als daß sie ihm entkommen könnten.18
Im Rekurs auf diese Passage kommen nun die vielfältigen Praktiken, die Grenzen von Gemeinschaften zu ‚testen‘, auch als komische Taktiken ins Spiel. So
wurde Komik zu einer zentralen Taktik des Aufstands um den Gezi-Park. Zu
Beginn der Proteste am Taksim-Platz in Istanbul ab dem 28. Mai 2013 war im
türkischen Fernsehen nichts von dem Konflikt zu sehen. Während am 1. Juni
die Polizei die Demonstranten, die gegen die Zerstörung eines öffentlichen
Parks angetreten waren, mit Tränengas und Wasserwerfern traktierte, zeigte
der Kanal CNN Türk, der dem regierungstreuen Medienkonzern Doğan
Holding angehört, einen Naturfilm über das Leben der Pinguine. Angesichts
dieser eklatanten – de Certeau würde sagen „strategischen“19 – Ausblendung
diente der Pinguin mit Gasmaske als taktisches Leitbild des Widerstands und
wurde zum Gegenstand unzähliger Graffitis und Karikaturen.
Die Satire-Zeitschrift Penguen (2002-2017) so wie viele andere Blätter
beteiligten sich an dem Spiel. Jenseits der etablierten Kanäle in den sozialen
Medien entwickelte sich zudem blitzschnell eine alternative Medienproduktion mit neuen Formen der Kommunikation. Viele „Çapulcu“s (zu Deutsch:
„Plünderer“ – die Bewegung machte sich dabei kurzerhand eine verächtliche
Beschimpfung seitens des damaligen Premierminister Erdoğans als Selbstbezeichnung zu eigen) setzten den Pinguin mit der Gasmaske als ihr Ikon auf
Facebook. Auf YouTube erschien ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm
über Pinguine, unterlegt mit Originalton von den Demonstrationen und
17 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 24.
18 Ebd.
19 Ebd.
12
Vorwort
Abb. 1: Graffiti an einer Hauswand, Istanbul
neuem Kommentar, der die Pinguine anthropomorphisierte.20 Der harmlose
Tierfilm wurde damit zur taktischen Parodie einer strategischen Fernsehberichterstattung umgepolt, gewidmet „CNN Türk – in Liebe“. In bewährter
Manier entdeckt Komik das Ähnliche im Unähnlichen. Die Bewegung in
Gruppen wird durch den Kommentar umgemünzt zum Anmarsch über die
Bosporus-Brücke, der Nestbau der Vögel als Errichtung von Barrikaden,
die schwerfälligen Seelöwen zu Polizisten, die aufrechten Verteidiger ihres
Reviers zu Provokateuren. Bei näherem Hinsehen erschließt sich die tonal
verfremdete soziale Dynamik der Vögel als Gleichnis von taktischen Platzkämpfen im städtischen Raum. Das Publikum wird zur Identifikation mit
den Pinguinen eingeladen und zugleich angestiftet zum Lachen über Zensur
in der Medienpraxis.
Ein hervorstechendes Merkmal der Gezi-Proteste war ihre kreative Energie, die sich in audiovisuellen No-Budget-Produktionen und performativen
20 „CNN Türk: Penguen Direnişi“, [https://www.youtube.com/watch?v=5EUSp6OO9E] (letzter Zugriff: 21.05.2018).
13
Vorwort
Interventionen niederschlug. Auf Facebook wurden geradezu manisch Links
weiterverbreitet – nicht zuletzt von „Freunden“ in Berlin, London, Rio und
San Francisco. Remontage, Recycling und Resignifikation des dokumentarischen Materials durch Neuvertonung (und damit Neuerzählung) dient der
Entlarvung medialer Konventionen der (Miss-)Repräsentation von Realität.
Komik im digitalen Informationszeitalter beruht häufig auf de- und re-integrierenden Wiederholungen mit Variationen. Dass die parodistische Demontage selektiver Berichterstattung keinen politischen Wandel auf nationaler
Ebene erwirkte, ist bekannt. Gegen Staatsgewalt und Zensur ist eben mit den
Mitteln der Komik nicht ohne weiteres beizukommen. Im Erscheinungsjahr
von Komik der Integration wird der Taksim-Platz radikal umstrukturiert
sein, die friedlich-kreative Versammlung vielfältiger Gruppen der zivilen
Gesellschaft auf dem Platz nurmehr eine nostalgische Erinnerung.
Die Anverwandlung des Pinguins im Konstanzer Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ auf dem Tagungsplakat – und nun auch
auf dem Buchcover – rückt unterdessen den ikonischen Sympathieträger
in einen neuen Horizont und öffnet die Pinguin-Figur für neue Assoziationen. Als einzige sticht sie rosarot heraus aus der gleichförmig schwarzweißen Masse. Wer könnte sie sein? Und wozu will sie uns mit ihren beiden
erhobenen Flügeln anstiften? Hegt sie vielleicht Zweifel an der Grundlagenforschung zur Integration? Fragen über Fragen. Insofern fungiert die nonkonformistische Pinguin-Figur als taktisches Maskottchen unseres Bandes.
Özkan Ezli, Deniz Göktürk, Uwe Wirth
Literatur
„CNN Türk: Penguen Direnişi“, [https://www.youtube.com/watch?v=5EUSp6OO9E] (letzter Zugriff: 21.05.2018).
de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Merve u. a. 1980.
Coxon, Sebastian: „Hehe! Überlegungen zum erzählten Lachen in ‚Ein kurtzweilig
Lesen von Dil Ulenspiegel‘“, in: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (12501750), hg. v. Stefan Bießenecker u. Christian Kuhn, Bamberg 2012, S. 143-161.
Eco, Umberto: „Frames of Comic Freedom“, in: Carnival!, hg. v. dems./Thomas A.
Sebeok, Berlin 1984, S. 1-9.
Eco, Umberto: „The Comic and the Rule“, in: Faith in Fakes, hg. v. dems., London
1968, S. 269-278.
14
Vorwort
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: ders.: Studienausgabe, IV. Frankfurt a. M. 1969 (1905).
Göktürk, Deniz/David Gramling/ Anton Kaes (Hg.): Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, Konstanz 2011.
Iser, Wolfgang (1976): „Das Komische: ein Kipp-Phänomen“, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische, München 1976, S. 398-402
Jauß, Hans Robert: „Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden“, in:
Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische, München 1976,
S. 103-132.
Marzolph, Ulrich: Nasreddin Hodscha. 666 wahre Geschichten, München 2002,
S. 7-23.
Plessner, Helmut: „Lachen und Weinen“ (1941), in: ders. Gesammelte Schriften.
Band VII. Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt a. M., 1982, S. 201-387.
Plessner, Helmuth: „Der Kampf ums wahre Gesicht. Das Risiko der Lächerlichkeit“,
in: ders.: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. 2002, S. 58-78.
Polanyi, Michael (1969): „The Logic of Tacit Interference“, in: Knowing and Being:
essays, hg. v. dems., Chicago 1969, S. 138-158.
Preisendanz, Wolfgang (1970): Über den Witz. Konstanz 1970.
TeddyComedy: „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“, [http://
www.YouTube.com/watch?v=vcAN-Efb57I] (letzter Zugriff: 21.05.2018).
Wirth, Uwe (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017.
Abbildung
Abb. 1: Graffiti an einer Hauswand, Istanbul.
15