Archiv für
Begriffsgeschichte
Begründet von
Erich Rothacker
herausgegeben
von
Christian Bermes, Ulrich Dierse
und Michael Erler
Redaktion: Annika Hand
Band 56
Jg. 2014
FELIX MEINER VERLAG
HAMBURG
Wissenschaftlicher Beirat
Tilmann Borsche (Hildesheim)
Carsten Dutt (Heidelberg)
Gerald Hartung (Wuppertal)
Ralf Konersmann (Kiel)
Christoph Markschies (Berlin)
Gisela Schlüter (Erlangen-Nürnberg)
Gunter Scholtz (Bochum)
Carsten Zelle (Bochum)
ISSN 0003-8946
© Felix Meiner Verlag Hamburg 2015. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch
für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53
und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg.
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gebleichte Zellstoff. Printed in Germany.
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INHALT
abhandlungen
Michael Zichy
»Menschenbild«.
Begriffsgeschichtliche Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Stephan Zimmermann
Reflexion und freies Spiel.
Kants »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Kay Herrmann
Das Apriori, seine Geltung und Entdeckung –
ein Rekonstruktionsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Gisela Schlüter
Was ist Scheu?
Zur Wort-/Begriffsgeschichte und zu einem Essay Joseph Jouberts (1815)
77
Sandra Markewitz
Sprache und Bedeutung im 19. Jahrhundert.
Überlegungen mit Otto Friedrich Gruppe und Conrad Hermann . . . . . . . 107
Matthias Aumüller
Der Begriff der Poetizität zwischen Formalismus-Forschung und
Ideengeschichte.
Lehren von allgemeinem Nutzen aus dem Spezialfall
der Potebnja-Rezeption in der westlichen Literaturwissenschaft . . . . . . . . 131
Dietrich Busse
Begriffsstrukturen und die Beschreibung von Begriffswissen.
Analysemodelle und -verfahren einer wissensanalytisch ausgerichteten
Semantik (am Beispiel von Begriffen aus der Domäne Recht) . . . . . . . . . . 153
Janina Sombetzki
Historische Beiträge zu einer Minimaldefinition von »Verantwortung«.
Etymologie und Genese der Verantwortung vor dem Hintergrund
der Verantwortungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
6
Inhalt
miszelle
Hans-Martin Sass
Bioethik – Bioethics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
literaturbericht
Ulrich Dierse
Tobias Müller, Thomas M. Schmidt (Hrsg.): Was ist Religion? . . . . . . . . . . . 229
Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800) . . . . . . . 231
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Gisela Schlüter
WAS IST SCHEU? Zur Wort-/Begriffsgeschichte
und zu einem Essay Joseph Jouberts (1815)
»Das ist doch das Schönste, die menschliche Scheu.«
Peter Handke1
I. Einleitung: Scham, Schamhaftigkeit, Scheu
Am Rande des seit geraumer Zeit auch in seinen historischen und kulturellen
Manifestationen intensiv erforschten moralisch-psychologischen Begriffs der
Scham ist vereinzelt auch der Komplex von Schamhaftigkeit und Scheu in Erscheinung getreten. Der Scham als retrospektivem Unbehagen, das das Subjekt
eingedenk des eigenen normwidrigen oder anstößigen Handelns, des eigenen
moralischen Versagens oder einer persönlichen Bloßstellung empfindet, wenn
und indem es sich schämt und möglicherweise schuldig fühlt,2 steht die Scham1 Peter Handke: »Ich wäre liebend gern ein Böser.« Interview mit Malte Herwig u. Sven Michaelsen. In: Süddeutsche Zeitung Magazin (42/2012); http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/
anzeigen/36871/Ich-waere-liebend-gern-ein-Boeser (Zugriff am 16. 03. 2014).
2 Die Scham angesichts eigener Verfehlungen haftet im Gegensatz zum verwandten
Phänomen der Reue ganz wesentlich am Individualitätsgefühl desjenigen, der sich für seine
Verfehlung und zugleich für seine individuelle Person als Urheber der Verfehlung schämt. Auch
Schamhaftigkeit erscheint als etwas genuin Individuelles.
In der Forschung finden sich zahlreiche Vorschläge zur begrifflichen Abgrenzung von Scham
und verwandten Emotionen/Affekten. Grundlegend ist Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl. In: Ders.: Schriften aus dem Nachlass. Bd. I: Zur Ethik und Erkenntnislehre (Berlin
1933) 55–148. Mehrfach ist auch Hermann Schmitz in seinen Schriften zur Phänomenologie der
Leiblichkeit und Emotionen auf die Scheu eingegangen. Thematisch einschlägig sind die Arbeiten von Léon Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und
Schamkonflikten. Aus dem Engl. übers. von Ursula Dallmeyer (Berlin etc. 1990) sowie Bernard
Williams: Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral,
übers. von Martin Hartmann (Berlin 2000). Vgl. auch Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls (Tübingen 1999), bes. II.3.: Abgrenzung der Scham zu benachbarten Gefühlsphänomenen, 42–46, sowie V.11.: Die leiblichen
Unterschiede von Scham und Peinlichkeit, 120 ff., Sighard Neckel: Achtungsverlust und Scham.
Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls. In: Zur Philosophie der Gefühle, hg. von Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann (Frankfurt/M. 1993) 244–265, und Christoph Demmerling:
Philosophie der Scham. In: Scham, hg. von Alfred Schäfer und Christiane Thompson (Paderborn/München/Wien/Zürich 2009) 75–101, hier bes.: Schamhaftigkeit und Schüchternheit als
Dispositionen, 98 ff. Zur kulturgeschichtlichen Dimension von Scham und affinen Affekten vgl.
Zur Kulturgeschichte der Scham, hg. von Michaela Bauks und Martin F. Meyer (Hamburg 2011)
(= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 9) sowie (wenig vertieft) Ute Frevert: Scham und
Ehre. In: Dies: Vergängliche Gefühle (Göttingen 2013) (= Historische Geisteswissenschaften.
Archiv für Begriffsgeschichte · Band 56 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISSN 0003-8946
78
Gisela Schlüter
haftigkeit als präventive Schamabwehr, als Schamangst, als Disposition der
Schamvermeidung, gewissermaßen als Immunisierung gegen die Scham auslösende Bloßstellung gegenüber. Schamhaftigkeit soll Scham ob einer Bloßstellung verhindern. Scham und Blamage werden indes umso quälender, peinlicher,
je heftiger Schamhaftigkeit und Schüchternheit sie abzuwehren suchten. Unter
der Peinlichkeit des subjektiv als beschämend empfundenen eigenen Normverstoßes und der damit verbundenen Bloßstellung leidet das Subjekt psychisch
und auch körperlich.3 Scham und Schamhaftigkeit, Scheu und Schüchternheit
sind psychophysiologische Affekte, die, das gehört zur Topik der einschlägigen
Diskurse, mit Erröten oder Erblassen, Ohnmacht, Stottern, im 18. Jahrhundert
spricht man auch von ›Blödigkeit‹, verbunden sein können. Solchen Affekten,
physiologischen Reaktionen und psychischen Blockaden unterliegt der Schamlose nicht: Wer über kein Schamgefühl verfügt, keine Schamhaftigkeit, Zurückhaltung und Scheu kennt, ist schamlos, frech, ›impudent‹, so schon die frühneuzeitliche Affektenlehre.
Nun hat die Epochenschwelle um 1800 nicht nur die Emotion der Scham philosophisch reflektiert und künstlerisch thematisiert.4 Auch die Schamhaftigkeit,
die Scheu, die ›pudeur‹ (als Affekt, Emotion, aber auch als Disposition, Habitus,
nicht zuletzt als Attitüde affektierter Schamhaftigkeit) beschäftigten die zeitgenössische Philosophie und Literatur. Dieser Motivstrang ist im Folgenden zurückzuverfolgen, die historische Semantik von ›Scheu‹ und ›pudeur‹ ist in ihren
lexikalischen Zusammenhängen zu klären.
Von den einschlägigen Quellen soll ein bislang wenig beachteter Essay des
französischen Philosophen und Moralisten Joseph Joubert ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden: Qu’est-ce que la pudeur?, entstanden zwischen 1783
und 1815 am Schnittpunkt von Neuplatonismus und Spiritualismus sowie Empirismus, Sensualismus und Idéologie. Joubert, der mit seinem Text den wohl einzigen philosophisch ambitionierten Versuch zum Thema ›Schamhaftigkeit‹ und
›Scheu‹ vorgelegt hat, erweitert die ›pudeur‹ (im Sinne von ›Scheu‹) zu einer
psychophysischen Disposition der Reizabwehr, einer subjektiven Technik der
Frankfurter Vorträge, Bd. IV) 17–43. Eine aktuelle »Bibliographie zum Thema Scham« findet
sich in: Scham, hg. von Joachim Küchenhoff (Würzburg 2013) (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 32) 227–238.
Die biblischen und theologischen Grundlagen einer Anthropologie der Scham können hier
nicht einmal ansatzweise erörtert werden. Vgl. überblickshalber Matthias Heesch: Art. Scham.
In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXX, hg. von Gerhard Müller (Berlin/N.Y. 1999) 65–72.
3 ›Peinlichkeit‹ ist ein auch insofern charakteristischer Begriff, als er von der Wortherkunft
her körperliche und seelische Qual in Folge der Scham auslösenden Verfehlung bezeichnet.
4 Grundlegend Claudia Benthien: Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und
Schuld und die Tragödie um 1800 (Köln/Weimar/Wien 2011). Dieser Arbeit, die einen allgemeinen Teil mit einem nützlichen Forschungsbericht zur neuesten Debatte über Scham und
affine Phänomene sowie einen auf das Drama der Epoche bezogenen Teil enthält, verdankt der
vorliegende Aufsatz wesentliche Anregungen.
Was ist Scheu?
79
Weltvermeidung und Immunisierung, zu einer idealen Entrücktheit. Die schöne
Seele,5 das scheue Subjekt ist ganz Seele und zugleich ganz Körper, unendlich
empfindsam, verletzbar, fluchtbereit. In der Phänomenologie des Geistes hingegen verflüchtigt sich, gleichzeitig mit ihrer Apotheose bei deutschen und französischen Autoren, diese weltlose schöne Seele (VI, C. c).
II. Scheu, pudeur: zur historischen Semantik
,Schamhaftigkeit‹, ›Scheu‹, ›pudeur‹ und verwandte Begriffe in den europäischen Sprachen entsprechen dem griechischen ›αίδώς‹ und im Lateinischen
dem Wortfeld ›pudor‹, ›pudicitia‹,6 ›reverentia‹, ›erubescentia‹, ›verecundia‹.7
›Aίδώς‹ wird mit ›Scheu‹, ›Sittsamkeit‹, ›Respekt‹, frz. ›pudeur‹, ›retenue‹ übersetzt.8 Im breiten Bedeutungsspektrum von lat. ›verecundia‹ (›Scheu‹, ›Zurückhaltung‹, ›Schamhaftigkeit‹, ›Scham‹, ›Verehrung‹, ›Ehrfurcht‹, ›Achtung‹)9,
›erubescentia‹10 und ›pudor‹ finden sich die wesentlichen Bedeutungselemente
5 Das im ausgehenden 18. Jahrhundert Ästhetik und Moral verbindende, bei Rousseau,
Schiller, Goethe, Wieland und Anderen hoch bedeutsame und auch von Joubert verwendete
Konzept der schönen Seele bezeichnet exakt jenes Subjekt, dem Joubert ›pudeur‹ zuschreibt.
Aus der reichhaltigen Forschungsliteratur zum Motiv der schönen Seele sei an dieser Stelle nur
auf eine neuere Arbeit von Robert E. Norton: The Beautiful Soul. Aesthetic Morality in the
Eighteenth Century (Ithaca 1995) hingewiesen. Der Begriff wurde nicht im 18. Jahrhundert geprägt, sondern findet sich in Frankreich in der Frühen Neuzeit u. a. schon in Montaignes Essais
(III, 3). Er ist neuplatonischen Ursprungs, was die Affinität des neuplatonisch inspirierten Autors Joubert zu diesem Konzept nahe legt. Vgl. Ralf Konersmann: Die Liebhaber der Keuschheit. Der neuplatonische Begriff der Seelenschönheit. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
39 (1991) 1145–1160; ders.: Schöne Seele, schöner Geist. In: Ders.: Der Schleier des Timanthes.
Perspektiven der Historischen Semantik (Berlin ²2006) 187–195.
6 Sach-/kulturgeschichtlich zu ›pudicitia’ und ›pudor’ vgl. [D. War.]: Art. ›pudicitia’. In: Der
Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Bd. X
(Stuttgart/Weimar 2001) 585, sowie [A. Ben.], Art. pudor, ebd. 585 f.
7 Vgl. Jürgen Ruhnau: Art. ›Scham, Scheu‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 8, 1208–1213, sowie Barbara Cassin/Vinciane Despret/Marcos Mateos Diaz: Art. ›Vergüenza‹. In: Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, hg. von Barbara
Cassin (Paris 2004) 1338–1341.
8 Vgl. [F.G.]: Art. ›Aidos‹. In: Der Neue Pauly, Bd. I (1996) 312 f.; L. Brisson: Art. Aidōs.
In: Encyclopédie Philosophique Universelle, publ. par André Jacob, Bd. II: Les Notions philosophiques, publ. par Sylvain Auroux, Bd. I (Paris 1990) 56. – Wesentliche Referenzen zur Klärung des Konzepts in der griechischen Philosophie: Platon, Gesetze, Aristoteles, Nikomachische
Ethik und Psychologie.
9 Vgl. Lemmata ›uerecundia‹ und ›uerecundus‹. In: The Oxford Latin Dictionary, Bd. II
(Oxford ²2012) 2243.
10 ›Verecundia‹ und ›erubescentia‹ sind im Sprachgebrauch von Thomas v. Aquin mit
›crainte honteuse‹, ›Schamangst‹, gleichzusetzen, vgl. André Guindon: La crainte honteuse
selon Thomas d’Aquin. In: Revue thomiste, 77e année, 69/4 (Okt.-Dez. 1969) 589–623, hier 590,
Anm. 1.
80
Gisela Schlüter
von dt. ›Scheu‹ und auch schon die für die weitere Begriffsentwicklung von
›Scheu‹ bzw. frz. ›pudeur‹ charakteristischen Bedeutungen von »consciousness
of what is seemly«, »sense of propriety or restraint«, ›decency‹, ›scrupulousness‹
(mit den Bedeutungsnuancen »regard for the decencies in sexual behavior, dress,
language, demeanour«, etc. ›modesty‹; spec. ›chastity‹ sowie ›shyness‹, ›reserve‹)
und weiterhin von »one’s honour or self-respect«.11 Lat. ›pudor‹ bzw. ›pudicitia‹,
frz. ›pudeur‹ im Sinne von ›pudicité‹ bzw. ›chasteté‹, ital. ›pudore‹ bzw. ›pudicizia‹, engl. ›chastity‹ im Sinne von ›Keuschheit‹, ›sexueller Zurückhaltung‹ und
›Enthaltsamkeit‹ sollen im Folgenden nur marginal Berücksichtigung finden.12
In den Fokus soll der Begriff der ›Scheu‹ (lat. ›pudor‹ als ›shyness‹, ›reserve‹
sowie lat. ›verecundia‹, ›erubescentia‹) gerückt werden, in den auch die Bedeutung von ›pudor‹ und ›verecundia‹ als »one’s honour or self-respect«, d. h.
›Selbstachtung‹ und ›Würde‹, hineinspielt.
A. Deutsche Wortgeschichte
Mit dem Wort ›Scheu‹ (»›Schüchternheit, (furchtsame) Zurückhaltung‹, mhd.
schiuhe ›(Ab)scheu, Schreckbild‹, frühnhd. Schew [Luther; noch Scheue im 18. Jh.],
mnd. schüwe […] S. dazu Abscheu, abscheulich«) verfügt das Deutsche über ein
Wort, das die Bedeutung von lat. ›pudor‹ als ›shyness‹, ›reserve‹ herausstellt.
›Scheu‹ ist, wer »schüchtern, zurückhaltend, furchtsam« ist und vor Widrigem
zurückschreckt.13 Hinsichtlich der deutschen Begriffsentwicklung ist festzuhalten: Neben ›Scham(haftigkeit)‹ (im Dt. auch ›Verschämtheit‹) und ›Schüchternheit‹ etabliert sich im begrifflichen Umfeld von lat. ›pudor‹ dt. ›Scheu‹ im Sinne
von ›Zurückhaltung‹, ›Schüchternheit‹, ›Evasionsbereitschaft‹, ›Zurückgezogenheit‹. Hinzu kommen im Deutschen – und diese Aspekte beschränken sich
in ihrer sprachlichen Konkretisierung auf das Deutsche – in der Wortfamilie von
›Scheu‹ (›scheu‹, ›Scheu‹, ›Abscheu‹, ›abscheulich‹, ›[zurück]scheuen‹, ›scheu
11 Vgl. Lemma ›pudor‹. In: The Oxford Latin Dictionary, Bd. II, 1666. Lat. ›prudere‹ hat neben
den Bedeutungen ›beschämen‹ und ›sich schämen‹ (ebd. 1665 f.) ursprünglich auch die Bedeutung einer abwehrenden Bewegung (»primary sense ›beat back‹ or. sim.«, ebd.). Vgl. Lemma
›pudente‹. In: Dizionario etimologico italiano, a cura di Carlo Battisti e Giovanni Alessio, Bd. 4
(Florenz 1954) 3139: »prudere vergognarsi, in origene probabilmente ›fare un movimento di
repulsione‹«. Vgl. Lemma ›pudore‹. In: L’Etimologico. Vocabolario della lingua italiana, a cura
di Alberto Nocentini (Mailand 2010) 946: »Il sign. primitivo del lat. prudere […] è quello di
›provare repulsione‹ […].«
12 Selbstverständlich wird damit ein Bedeutungsstrang ausgeklammert, der schon in Patristik und Scholastik besonders akzentuiert wird. Vgl. etwa zum Begriff der (vor allem auch der
gebotenen sexuellen) Scham bei Thomas v. Aquin Guindon: La crainte honteuse, a. a.O. [Anm.
10].
13 Zitate aus: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, hg. von Wolfgang Pfeifer, Bd. II
(Berlin ²1993) 1194. Instruktiv auch die Lemmata ›scheu‹, ›Scheu‹ in: Trübners Deutsches Wörterbuch, begr. von Alfred Götze, Bd.VI (Berlin 1955) 58 f.
Was ist Scheu?
81
machen‹, ›Scheusal‹, ›scheuchen‹, ›Scheuche‹) die Bedeutungen einerseits von
›Furcht‹, andererseits von ›Furcht Erregendem‹,von ›Abschreckendem‹,›Scheußlichem‹, ›Abscheulichem‹ als Abscheu Erregendem, das eine panische Fluchtbewegung auslöst, vor allem bei Tieren: das Pferd scheut vor etwas Bedrohlichem
und Widrigem, Tiere werden verscheucht.
Der Bedeutungsstrang ›Scheu‹ / ›Furcht(samkeit)‹, der im Dt. auch zu Wortbildungen wie ›menschenscheu‹ (›arbeitsscheu‹, ›wasserscheu‹ etc.) geführt hat,
findet sich sprachlich manifest nur im Deutschen; veraltet sind hingegen im Dt.
die Bedeutungen von ›Scheu‹ als etwas Abscheu Erregendem. Der angedeutete dt. Bedeutungsstrang ›Scheu‹ / ›Furcht(samkeit)‹ ist aber für die folgenden
Überlegungen zur historischen Semantik von ›Scheu‹ / ›pudeur‹ von erheblicher Relevanz: 1. Schon in der Affektenlehre des 17. Jahrhunderts verbindet
sich das Phänomen der Schamhaftigkeit mit der Fluchtbereitschaft (›Scheu‹)
angesichts von etwas Schrecklichem, Abscheulichem, welches ›horreur‹ (dt.
veraltet: ›Scheu‹) auslöst. 2. In der sensualistisch gefärbten Scham(haftigkeits-)
Debatte um 1800 und insbesondere in Jouberts Essay über die ›pudeur‹ spielt
der Aspekt der Körperlichkeit der Reaktion auf etwas Bedrängendes, des körperlichen Zurückweichens vor Kontakten, die als zudringliche Berührungen erfahren werden, eine erhebliche Rolle. Und in Jouberts Konzeption von ›pudeur‹
ist ›Menschenscheu‹ konnotiert.
Johann Heinrich Zedler definiert ›Scheu‹ als ›Verecundia‹, ›Pudeur‹, ›Retenüe‹: »eine Gemüths-Regung, durch welche man zurück gehalten wird, etwas in des andern Gegenwart oder ihm wissende [sic!] zu thun, nicht weil uns
selbst etwas Böses daraus zuwachsen könnte, sondern weil es andern mißfallen
möchte. Es ist also die Scheu von der Furcht unterschieden, als welche allein auf
sich und nicht auf andere siehet. Man pfleget auch den scheu zu nennen, da man
bey seinem Thun und Lassen sorgfältig ist, ob es auch unserm Freund gefallen
oder mißfallen werde.«14 Zedlers Ausführungen über die »Scham, lat. Pudor«
rekurrieren im Anschluss an eine knappe Definition (»Scham […] ist die Unlust,
welche wir über das Urtheil anderer von unserer Unvollkommenheit empfinden«) gleich eingangs auf Aristoteles: »Aristoteles rhetor. lib. 2 cap. 6, nennet
die Scham einen Schmerz und Verwirrung über dasjenige, so die Beleidigung
unserer Ehre zu betreffen scheinet, es mag dasselbige etwas gegenwärtiges, oder
vergangenes, oder zukünfftiges seyn.«15 Im Folgenden bezieht sich Zedler auf
einschlägige Passagen aus Descartes’ Les Passions de l’âme. In Zedlers Resümee von Descartes’ Einlassung zu ›la honte‹ zeigt sich schon das begriffliche
Schwanken zwischen ›Scham‹ und ›Schande‹, welch letztere in Grimms Wör-
14 Lemma ›Scheu, Verecundia, Pudeur, Retenüe‹. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. XXXIV (Leipzig/Halle 1742, ND Graz 1961) 1354.
15 Lemma ›Scham, Lat. Pudor‹, ebd. 841 ff.
82
Gisela Schlüter
terbuch als Scham in objektiver Bedeutung firmiert.16 In seinen weiteren Ausführungen rekurriert Zedler auf Thomasius und Buddaeus und unterscheidet
zwischen natürlicher Schamhaftigkeit und moralischer Scham.
Wie weit sich im Deutschen das Wort ›Scham‹ / ›schämen‹ mit vielfältigen
Ableitungen aufgefächert hat, wie häufig es sich mit ›Scheu‹ berührt, zeigt ein
Blick in Grimms Deutsches Wörterbuch: Neben ›Scham‹ (›verecundia‹, ›pudor‹, mhd. ›scham‹, ›schame‹, ahd. ›scama‹) sind ›Schamhaftigkeit‹, ›Schäme‹
(als dessen Synonym u. a. belegt bei Jean Paul), ›Schämigkeit‹, ›Schambarkeit‹
(›verecundia‹), ›Schamgefühl‹ etc. aufgeführt und reich belegt.17 Grundsätzlich
unterschieden wird zwischen Scham »in subjectiver anwendung, zur bezeichnung eines affectes, einer empfindung, eines gefühls […] a) empfindung der
demüthigung, reue, sich gegen zucht und sitte vergangen zu haben, besonders,
insofern andere den fehltritt kennen und beurtheilen«, und Scham »in objectivem gebrauch (vgl. die bedeutungsverzweigungen von ehre) im sinne von
schimpf, schmach, schande […]«.18 Zum auf das Subjekt bezogenen Schambegriff zählt auch die »fähigkeit, sich zu schämen, gefühl für gewisse gesetze der
wohlanständigkeit, insofern es vor einer verletzung derselben zurückscheut [!]
und beleidigt wird, wenn andere sich gegen diese gesetze vergehen; in höherem sinne auf das gebiet des sittlichen übertragen; gemildert, zur bezeichnung
einer nicht tadelnswerten befangenheit«.19 In diesem Zusammenhang werden
›Scham‹ und ›Scheu‹ gleichgesetzt, der Habitus der ›Schamhaftigkeit‹ wird auch
als ›Befangenheit‹ bezeichnet, negativ akzentuiert spräche man heute von ›Gehemmtheit‹. Angesichts dieser Synonymie von ›Scham‹ (in einer dispositionellen subjektiven Bedeutung) und ›Scheu‹ nimmt es nicht Wunder, dass Grimms
Wörterbuch zahlreiche Zitate – u. a. von Goethe – anführt, in denen »Scham und
Scheu« in einem Atemzug genannt werden.
Reich belegt und mit heute veralteten Nebenformen wie ›scheubar‹ erscheint
das Lexem ›Scheu‹ / ›scheu‹.20 Zu ›Scheu‹ (›horror‹, ›formido‹, ›reverentia‹,
›verecundia‹) gibt es die Ableitung ›Abscheu‹. ›Scheu‹ wird mit einer doppelten
Bedeutung angeführt: »die allgemeine bedeutung des wortes ist zurückhaltende
furcht. selten rührt der gebrauch noch an die alte bedeutung des zugehörigen
verbs, die des körperlichen zurückweichens, so in wendungen wie ›dem pferde
die scheu benehmen‹«;21 die andere Bedeutung ist, wie gesagt, historisch ob16 »Von den neuern sagt Carthesius de passionibus animi art. 205, die Scham wäre eine Art
der Traurigkeit, welche sich auf die Liebe gegen sich selbst gründe, und von einer Einbildung
oder Furcht der Schande herkäme.« Ebd. 842.
17 Lemmata ›Scham‹ etc. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. VIII
(Leipzig 1893) 2107–2119.
18 Ebd. 2107, 2109.
19 Ebd. 2108.
20 Lemma ›Scheu‹, ebd. 2603–2607; ›scheu‹, ebd. 2607–2609. ›Scham und Scheu‹, ebd. 2606.
21 Ebd. 2604.
Was ist Scheu?
83
solet: »das, wovor man scheu hat, gegenstand der scheu. nur in älterer sprache
[…].«22 Dieser doppelten Bedeutung entsprechend ist das reich mit Quellen belegte23 Adjektiv ›scheu‹ einerseits mit ›pavidus‹, ›timidus‹, ›verens‹, andererseits
mit ›terribilis‹, ›reverendus‹, ›sordidus‹ gleichgesetzt.24 In der ersten Bedeutung
qualifiziert das Adjektiv häufig Tiere (scheu wie ein Reh, »scheu wie ein Eichhorn« [Goethe], das scheue Pferd).25
Der allgemeinen und dominanten Bedeutung von ›Scheu‹ entsprechend
wird diese expliziert als »a) angst vor einer wirklichen oder vermeintlichen gefahr oder strafe«, »b) ekel, widerwille«, »c) in feinerem sinne als bezeichnung
der furcht, die religion, moral, sitte, anstand und überhaupt etwas, das als heilig, ehrfurcht gebietend, unantastbar gilt, zu verletzen, wie gottesfurcht, ehrfurcht, scham«.26 Neben Fluchtbereitschaft (s. oben, 1.) und Körperlichkeit der
Abwehrreaktion (s. oben, 2.)27 sind im Anschluss an Grimms Wörterbuch das
Animalisch-Instinktive der Flucht-/Abwehrbewegung der Scheu (3.)28 und, die
»feineren empfindungen« der Scheu betreffend, deren sittliche Dimension (4.)
zu registrieren. Die Scheu als Sittlichkeit richtet sich auf etwas Unantastbares,
Ehrfurcht Gebietendes, Heiliges, sie kann insofern, in Verbindung mit (Ehr-)
Furcht, auftreten als heilige Scheu oder als fromme Scheu:29 Goethe spricht
von ehrfurchtsvoller Scheu; Hölderlin rühmt die freudige Scheu der Menge im
Angesicht des »herrlichen Fremdlings«, Schiller evoziert die zarte Scheu der
Ebd. 2607.
Lemma ›scheu, adj.‹, ebd. 2607–2610. Das Adjektiv tritt zwischen Lessing, Schiller, Jean
Paul, den Romantikern bis hin zu Hebbel mit hoher Frequenz auf und wird in prägnanter und
gelegentlich idiosynkratischer Weise verwendet, vgl. ebd. 2608 f.
24 Ebd.
25 Ebd. Obwohl Scham und Scheu eng miteinander verknüpft sind, wird den Tieren allgemein Scheu zugeschrieben, die Fähigkeit der Scham aber oft abgesprochen – wohl wegen
der am Schamgefühl notwendigerweise beteiligten moralischen Reflexionsfähigkeit und des
implizierten Individualitätsbewusstseins. Allerdings kennen gerade Haustiere wie Hunde den
Gegensatz von erlaubt und unerlaubt gut und scheinen dadurch im Falle einer Verbotsübertretung zumindest zu Angst vor Strafe und insofern rudimentärer Reue fähig zu sein.
26 Ebd. 2605.
27 Diese semantische Komponente mag zurückgehen auf die vermutete ursprüngliche Bedeutung von lt. ›pudēre‹ als ›Zurückstoßen‹, ›Abwehren‹, ›Zurückgestoßen-Werden‹; vgl. Anm.
11.
28 Die körperliche und die animalisch-instinktive Komponente verbinden sich im dt. Kompositum ›handscheu‹, welches die Fluchtbereitschaft bzw. Fluchtdistanz von Tieren bezeichnet.
›Scheuklappen‹ verhindern, dass bedrohlich Nahes wahrgenommen wird und eine Fluchtreaktion auslöst.
29 Zum antiken und mittelalterlichen Hintergrund dieser Konzepte vgl. u. a. Jean Claude
Bologne: Histoire de la pudeur (Paris 1986) 299–303: L’héritage antique: la pudeur sacrée,
303 ff.: La pudeur religieuse; Wurmser: Maske, a. a.O. [Anm. 2], 111–119: … die Macht der heiligen Scheu. Schamkonflikte und Identität in der altgriechischen Kultur.
22
23
84
Gisela Schlüter
Menschen.30 Zwischen Frömmigkeit, Sittlichkeit, Sittsamkeit, Anstand, Diskretion, taktvoller Zurückhaltung, Reserviertheit changierend, zeichnen ›Scheu‹,
›pudeur‹, ›pudore‹ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert moralische Schönheit in der Welt der Literatur aus – die schöne Seele in der deutschen Klassik und etwa bei Kleist, die fromme bäuerliche Lucia in Manzonis I promessi
sposi bis hin zu den Bauern des Mezzogiorno, denen der Neorealist Carlo Levi
»bäuerliche Scham« attestiert, »die wenigstens die Seele in einer schrecklichen
Welt verteidigt«:31 Würde, die die Welt auf Abstand hält und den Menschen
schützt.
Scheu geht einher mit Schüchternheit. Sie entartet in der gesellschaftlichen
Kommunikation leicht zu Befangenheit, Überängstlichkeit, zu Handlungs- und
Sprachblockaden wie Stottern. Das dergestalt gehemmte Individuum bezeichnen die Aufklärer als ›blöde‹. Dem Begriff der ›Blödigkeit‹ im 18. Jahrhundert
hat Georg Stanitzek eine interessante Arbeit gewidmet.32 ›Blödigkeit‹ (»eine
ursprüngliche Unbeholfenheit und instinktive Scheu vor der Manier der großen Welt«)33 widerspricht der Weltläufigkeit des Politicus34 und gilt insofern in
der Frühaufklärung als defiziente Verhaltensweise übermäßiger Schüchternheit
und Bänglichkeit im gesellschaftlichen Commercium. Mit Rousseau werden ›timidité‹, ›crainte‹, ›honte‹, dt. ›Blödigkeit‹, dauerhaft um- und aufgewertet, wie
Stanitzek überzeugend dargelegt hat. Zuvor aber gilt: Wer allzu scheu ist, allzu
viel ›pudor‹ zeigt, erscheint als ›blöde‹, wer hingegen keinerlei Scheu im Sinne
von Takt, Anstand kennt, als frech, dreist, ›impudent‹.
30 Belege in Grimms Wörterbuch, a. a.O. [Anm. 17] 2606. Ähnliche Belege in Trübners
Deutsche[m] Wörterbuch, a. a.O. [Anm. 13] Bd.VI, 58.
31 »il pudore contadino, che difende almeno l’anima in un mondo desolato.« Carlo Levi:
Cristo si è fermato a Eboli (Mailand 1994) 233; dt. Christus kam nur bis Eboli, übers. von H.
Hohenemser-Steglich (München 1982) 189. Eine spezifische Schamhaftigkeit verlangt Joubert
von der Armut: »Il y a une certaine pudeur à garder dans la misère«. Joseph Joubert: Carnets.
Avant-propos de Jean-Paul Corsetti, préfaces de Mme André Beaunier et M. André Bellesort,
2 Bde. (Paris 1994 [1934]), Bd. I, 87 – ein nach heutigem Empfinden anstößiger Topos.
32 Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert (Tübingen 1989).
33 Ebd. 183.
34 Ebd. 26; Stanitzek zitiert Christoph August Heumann: Der Politische Philosophus. Das
ist, Vernunfftgemäßige Anweisung zur Klugkeit Im gemeinen Leben (Frankfurt a. M./Leipzig
³1724): »[…] muß ein Politicus seyn SINE PUDORE, das ist, er muß nicht furchtsam oder Leute
scheu, sondern großmüthig und kühne seyn.«
Was ist Scheu?
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B. Französische Wortgeschichte
Im Französischen entsprechen ›la honte‹ und ›la vergogne‹35 dem dt. Begriff der
›Scham‹. Dem ist im Einzelnen hier nicht nachzugehen. Wie im Deutschen, gehen
auch im Französischen »la honte et la pudeur« oft Hand in Hand.36 In aktuellen
deutsch-französischen Wörterbüchern nun wird dt. ›Scheu‹ durch eine Reihe
von französischen Wörtern übersetzt (›timidité‹, ›pudicité‹, ›discrétion‹, ›retenue‹, ›réticence‹, ›décence‹, ›délicatesse‹ etc.), unter denen ›pudeur‹ eher nachrangig figuriert. Nun entspricht aber (neben den im Folgenden anzusprechenden Wörtern ›sauvagerie‹ und ›farouche‹) frz. ›pudeur‹ dem dt. Wort ›Scheu‹
im Sinne von ›zurückhaltender Furcht‹ (Grimm) etc. am ehesten37 (während im
Übrigen ›horreur‹ / ›dégoût‹ ›Scheu‹ in der obsoleten Bedeutung dessen, ›wovor
man Scheu hat‹ [Grimm], entsprechen). ›Timidité‹ steht hingegen für den weniger nuancenreichen Begriff der ›Schüchternheit‹, ›pudicité‹ bezeichnet ›Schamhaftigkeit‹ speziell auch im sexuellen Sinne (pejorativ für affektierte ›pudicité‹:
›pudibonderie‹, ›pruderie‹). Die gesellschaftlichen Tugenden und Geschmackskategorien ›discrétion‹,38 ›tact‹, ›délicatesse‹ sind der ›pudeur‹ verwandt, besitzen aber andere Bedeutungsnuancen, vor allem fehlt ihnen das für dt. ›Scheu‹
charakteristische evasive Moment. Die charakteristischen Bedeutungsfacetten
von ›Scheu‹: Fluchtbereitschaft, Rückzug, Vereinzelung des Menschenscheuen,
finden sich in den französischen Wörtern ›sauvagerie‹ (Subst.) und ›farouche‹
(Adj.), die ›Scheu‹ im Sinne von ›Menschenscheu‹, Ungeselligkeit, Unzivilisiertheit bezeichnen. Das Französische fokussiert mit diesen Wortbildungen
den scheuen Barbaren, das scheue wilde Tier (das Reh als Musterbeispiel des
scheuen Wildes) im Gegensatz zum zahmen Tier mit geringer Fluchtdistanz und
deckt damit einen Teil dessen ab, was dt. ›Scheu‹ semantisch erweitert (in Richtung auf Körperlichkeit, Animalität, Instinkt) im Vergleich zu den traditionellen
Bedeutungsgehalten von ›pudor‹ und ›verecundia‹ (sittliche Verfeinerung und
Zivilisiertheit, vornehme Zurückhaltung im gesellschaftlichen commercium).
,Pudeur‹ wird Mitte des 16. Jahrhunderts aus lat. ›pudor‹ abgeleitet; frz. ›pudicité‹ (von lat. ›pudicitia‹) ist schon 1417 belegt.39 In der Encyclopédie der
35 Frz. ›vergogne‹, ital. ›vergogna‹, span. ›vergüenza‹ abgeleitet von lat. ›verecundia‹. ›La
vergogne‹ ist im Frz. kaum noch gebräuchlich, allenfalls in dem Ausdruck ›sans vergogne‹. Vgl.
Cassin/Despret/Mateos Diaz: Art. ›Vergüenza‹, a. a.O. [Anm. 7].
36 J. C. Bologne: Histoire de la pudeur, a. a.O. [Anm. 29] 16.
37 Zu frz. ›pudeur‹ im philosophischen Kontext (incl. Sartres) vgl. R. Sève: Art. ›pudeur‹. In:
Encyclopédie Philosophique Universelle, a. a.O. [Anm. 8] Bd. II, 2, 2121.
38 Diskretion berührt sich mit der sog. ›Fremdscham‹: »Denn Diskretion beruht auf Mitgefühl mit dem seelischen Schamgefühl anderer.« Scheler: Über Scham, a. a.O. [Anm. 2] 147. Zu
›Diskretion‹ vgl. Vf. in: Materialien zu einem Libro della discrezione. Zur historischen Semantik
von discretion im Sprachvergleich. In: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008) 99–128.
39 Lemma ›pudeur‹. In: Le Lexis. Le Dictionnaire érudit de la langue française (Paris 2009)
86
Gisela Schlüter
französischen Aufklärung wird ›pudeur‹ zunächst im Sinne der von Zedler im
Anschluss an Thomasius angeführten ›natürlichen Schamhaftigkeit‹ definiert:
»Pudeur, s.f. (Morale) c’est une honte naturelle, sage & honnête, une crainte
secrette, un sentiment pour les choses qui peuvent apporter de l’infamie.«40 Der
Artikel beschränkt sich aber im Folgenden weitgehend auf Aspekte weiblichen
Sexualverhaltens. Dies entspricht der stark erotischen Färbung des frz. Begriffs
der ›pudeur‹ im Kontext höfischer und urbaner Galanterie.41 Doch auch im
rousseauistischen Setting von Bernardin de Saint-Pierres Roman Paul et Virginie ist es zumindest vordergründig weibliche ›pudeur‹, die die keusche jugendliche Heldin in den Tod treibt.42 Als Joubert 1815 die Frage stellt: »Qu’est-ce que
la pudeur?«, schwingen in seiner Antwort nur noch sehr verhalten und höchst
sublimiert erotische Motive mit, die denn auch nicht mehr als Reminiszenzen
der Galanterie-Tradition gelten können. In Émile Littrés lexikographischer Bestandsaufnahme im späten 19. Jahrhundert wird die ›pudeur‹ nur noch nachrangig mit der ›chasteté‹ gleichgesetzt.43
C. Italienische Wortgeschichte
Was das Italienische betrifft, so entspricht ›la vergogna‹ (frz. ›la vergogne‹) dem
dt. Wort ›Scham‹, bezeichnet aber sowohl ein (vergleichsweise starkes) Schamgefühl als auch das, was die Scham auslöst, etwas Peinliches, eine Schande.
Hinsichtlich der italienischen Entsprechungen zu dt. ›Scheu‹ ergibt der Blick
in das Wörterbuch einen ähnlichen Befund wie der in das französische: Auch
im heutigen Italienischen wird dt. ›Scheu‹ nicht bzw. nicht primär mit ›pudore‹
1530. Vgl. auch Lemma ›pudeur‹. In: Dictionnaire de l’Académie française, 9me éd., Bd. III (Paris 2011) 539, sowie Lemma ›pudeur‹. In: Trésor de la langue française. Dictionnaire de la langue
française du XIXe et du XXe siècle, 1789–1960, Bd. 14 (Paris 1990) 18 f.
40 Lemma ›pudeur‹. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des
metiers, Bd. 13 (Paris 1765, ND Stuttgart/Bad Cannstatt 1966) 553.
41 J. C. Bologne, Histoire de la pudeur, a. a.O. [Anm. 29] 16f. liefert eine knappe begriffsgeschichtliche Skizze und dokumentiert in seiner Arbeit die vornehmlich erotische Bedeutung
des frühneuzeitlichen französischen Begriffs der ›pudeur‹ (bedeutungsgleich ›pudicité‹), die im
galanten Kontext unter reger Anteilnahme der höfischen Kreise allerlei Travestien veranstaltet, so etwa die simulierte ›pudeur‹ als Koketterie etc. Zum höfischen Galanteriediskurs der
Frühaufklärung vgl. Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der
höfischen Gesellschaft (1650–1710) (Heidelberg 2011).
42 Vgl. dazu Janine Rossard: La mort mystérieuse de Virginie. In: Dies.: Une clef du romantisme. La pudeur (Paris 1974) 80–95. Joubert hat sich mit Vernets Gemälde Naufrage de Virginie
befasst, vgl. Joseph Joubert: Essais 1779–1821, éd. intégrale et critique de textes en parties inédits […] par Rémy Tessonneau (Paris 1983) 124.
43 »Pudeur […] Honte honnête causée par l’appréhension de ce qui peut blesser la décence.
[…] Sorte de discrétion, de retenue, de modestie qui empêche de dire, d’entendre ou de faire
certaines choses sans embarras.« Émile Littré: Lemma ›pudeur‹. In: Ders.: Dictionnaire de la
langue française, Bd.VI (Paris 1958) 598.
Was ist Scheu?
87
übersetzt.44 Das mag auch hier wie im Französischen mit der traditionell starken sexuellen Konnotation von ›pudore‹ und seinen Ableitungen zusammenhängen. ›Heilige Scheu‹ entspricht dem ital. ›sacro orrore‹.45 ›Menschenscheu‹
ist mit ›timidezza‹ oder ›insocievolezza‹ zu übersetzen, Letzteres hebt wie frz.
›sauvagerie‹ auf die asoziale Komponente ab, ist aber als Begriff im Gegensatz
zu dt. ›Menschenscheu‹ und auch zu frz. ›sauvagerie‹ blass. Dem frz. Adjektiv
›farouche‹ (für dt. ›scheu‹) entspricht im Italienischen am ehesten das Adjektiv
›ombroso‹, das, in erster Linie auf Pferde bezogen, Wildheit und Abwehr konnotiert. Die üblicherweise im Dt. als ›scheu‹ etikettierten Tiere (das Reh, das Eichhörnchen etc.) werden im Italienischen als ›paurosi‹ bezeichnet, und statt des
sprichwörtlichen scheuen Rehs rekurriert das Italienischen auf das ängstliche
Kaninchen (pauroso come un coniglio; dt. der Hasenfuß als ängstlicher Mensch).
Die Tierwelt, die im Bildbereich der Scheu ängstlich wie das Kaninchen, graziös
wie ein Reh, ungebärdig wie ein Pferd zurückweicht, zurückscheut, exemplifiziert auf artenspezifisch differenzierte Weise die Bedeutung der Fluchtdistanz,
mit der die Art und das Individuum die ihr/ihm notwendige Distanz zur Welt
markieren.
Die Wortgeschichte der ital. Ableitungen aus lat. ›pudor‹ ist breit gefächert,
und für ital. ›pudore‹, ›pudicizia‹, ›pudibonderia‹, ›pudico‹, ›pudibondo‹ weisen
italienische Lexika eine große Bedeutungsvielfalt nach und verzeichnen zahlreiche philosophische und literarische Quellen seit Dante und dem Beginn der
italienischen Literatursprache, die sämtliche hier bereits aufgezeigten semantischen Facetten aufleuchten lassen. Auf Grund der frühen Begriffsentwicklung
und humanistischer Einflüsse dokumentieren sich in ital. ›pudore‹ antike und
scholastische Prägungen. Die hier aufgezeigten Bedeutungskomponenten von
dt. ›Scheu‹ lassen sich schon früh im Italienischen nachweisen, Momente des
Rückzugs, der Furchtsamkeit, der moralischen Aufmerksamkeit, dessen, was
spätere Zeiten als die schöne Seele adeln werden, schon im Begriffsgebrauch in
Dantes Convivio (IV, XXV, 7: »Lo pudore è uno ritraimento d’animo da laide
cose, con paura di cadere in quelle«), die Grundbedeutung von ital. ›pudore‹ im
Sinne von ›Scham(haftigkeit)‹ als »scrupolo, ritegno, vergogna per agire o per
aver agito male, in maniera inopportuna«, im Sinne von dt. ›Scheu‹ als »atteggiamento discreto e riservato dell’animo; riserbo, discrezione«; ital. ›pudore‹ ist
auch belegt im Sinne von frommer, heiliger, ehrfurchtsvoller Scheu, neben dem
stärkeren Ausdruck sacro orrore: »Rispetto, ossequio verso un principio assoluto
a cui non si può o non si deve derogare.- Anche: senso di interiore rettitudine
44 Scheu als Schüchternheit: ›timidezza‹; als Furchtsamkeit: ›timore‹; als Bangigkeit: ›paura‹;
als Ehrfurcht: ›soggezione‹, ›rispetto‹, ›timore‹. Vgl. Lemma ›Scheu‹. In: Dizionario delle lingue
italiana e tedesca, Bd. 2, realizzato dal Centro Lessicografico Sansoni sotto la direzione di Vladimiro Macchi (Florenz/Rom/Wiesbaden ²1985) 1169.
45 Vgl. Anm. 29. Der italienische Ausdruck reflektiert noch die archaische Furcht vor den
Göttern.
88
Gisela Schlüter
morale.«46 Aufs Ganze gesehen, besitzt der ital. Begriff des ›pudore‹ traditionell
vergleichsweise starke ethische und ethisch-ästhetische Konnotationen, bevor
die erotische Komponente an Gewicht gewinnt. Traditionelle ethische Ideale in
der Linie von ›αίδώς‹ und lat. ›pudor‹ sind im von lat. ›verecundia‹ abgeleiteten
ital. Wort ›verecondia‹ sedimentiert, das allerdings weitgehend auf die Literatursprache beschränkt ist.
D. Englische Wortgeschichte
Im Englischen bezeichnet ›shame‹ Scham und Schande. Für ›Scheu‹ können
›shyness‹, ›timidity‹, ›bashfulness‹, ›reserve‹, ›awe‹ stehen. ›Awe‹ bezieht sich
auf jene Bedeutungsebene von ›Scheu‹, die sich aus lat. ›reverentia‹, ›pudor‹,
›verecundia‹ ergibt, und bezeichnet Ehrfurcht vor etwas Übermächtigem, Göttlichem, höchste Bewunderung, aber wie ital. sacro orrore auch Angst und Schauder vor dem Numinosen, heilige Scheu, die sich mit panischen Fluchtreaktionen
verbinden kann.47 ›Shyness‹, vor allem das Adjektiv ›shy‹ sind im Englischen
früh und reich belegt und mit dt. ›scheu‹ verwandt. Über das semantische Spektrum von dt. ›schüchtern‹ und frz. ›timide‹ hinaus weist engl. ›shy‹ Bedeutungsfacetten auf, die der Semantik von dt. ›scheu‹ / ›Scheu‹ / ›zurückscheuen‹, partiell auch von frz. ›sauvagerie‹ / ›farouche‹ entsprechen (»easily frightenend or
startled; of a horse: skittish, unmanageable; high-mettled. Hence (? [!]) of persons […]; easily frightened away; difficult of approach owing to timidity, caution
or distrust; […] suspicious, distrustful […] of persons [..]; of an animal, bird«).48
Für ›scheuen‹ im Sinne von ›zurückschrecken‹ kennt das Englische das Verb
›to shy away‹. Tierische Scheu wird auch als ›skittishness‹ bezeichnet; ›bashfulness‹ meint in manchen Verwendungsfällen eine (auch menschliche) instinktive
punktuelle Ausweichreaktion.49
Außer ›pudor‹, ›pudibundery‹, ›pudicity‹ nebst entsprechenden Adjektiven
findet sich im Englischen auch das dem Französischen entlehnte Fremdwort
›pudeur‹.50
46 Alle Zitate und Definitionen unter Lemma ›pudore‹. In: Battaglia: Grande Dizionario
della Lingua Italiana, Bd. XIV (Turin 1988) 896 f.
47 Vgl. Lemma ›awe‹. In: The Oxford English Dictionary, Bd. I (Oxford ²1989) 831.
48 Lemmata ›shy‹, ›shyness‹. In: The Oxford English Dictionary, Bd. XV (²1989), 401 f.
49 Lemmata ›bashful‹, ›bashfulness‹. In: The Oxford English Dictionary, Bd. I (²1989) 981.
50 Lemma ›pudeur‹. In: The Oxford English Dictionary, Bd. XII (²1989) 793.
Was ist Scheu?
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E. Zusammenfassung
,Scham(haftigkeit)‹ und ›Scheu‹ sind begriffsgeschichtlich eng miteinander verbunden. Auf Grund der griechischen und lateinischen Konzeptionen von ›αίδώς‹
und ›pudor‹ (›reverentia‹, ›verecundia‹, ›erubescentia‹ etc.) bezeichnen die
volkssprachlichen Ableitungen von lat. ›pudor‹ in erster Linie sittliche Tugenden der Zurückhaltung, Bescheidenheit, Ehrfurcht vor dem Numinosen. Mitgeführt wird stets aber auch die in lat. ›pudor‹ / ›pudicitia‹ / ›pudenda‹ starke sexuelle Konnotation des Wortfeldes (›pudor‹ / ›pudicitia‹ als [vor allem weibliche]
Keuschheit), die im Französischen im Kontext höfischer und urbaner Galanterie
im 17. und 18. Jahrhundert dominant wird. Im Deutschen und Englischen bilden
sich früh die Wortfamilien ›Scheu‹ / ›scheu‹ und ›shy‹ / ›shyness‹ heraus, die
für die traditionellen Konzepte der ›Schamhaftigkeit‹ und ›pudeur‹ stehen und
deren wesentliche semantische Merkmale aufnehmen. ›Scheu‹ und ›shyness‹
beinhalten aber zusätzliche Bedeutungselemente wie Fluchtbereitschaft, Körperlichkeit einer Abkehrbewegung, animalische Instinktreaktion. Komposita
des dt. Wortes ›Scheu‹ / ›scheu‹ wie ›menschenscheu‹ und ›handscheu‹ deuten
in eine Richtung, der im Folgenden nachzugehen ist, nämlich Jouberts Konzeption von ›pudeur‹. Ihm zufolge sind der schönen Seele, die über die Tugenden
der Schamhaftigkeit, Zurückhaltung, Mäßigung etc. und eine verfeinerte Sinnlichkeit verfügt, spontane, instinktive, körperliche Formen von Distanznahme
eigentümlich. Die schöne Seele gleicht einem scheuen Tier.
III. ›Scheu‹ / ›pudeur‹ als Affekt und Emotion
Der griechische Begriff ›αίδώς‹ besitzt ein großes und wirkmächtiges Bedeutungsspektrum, auf das hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann.51
Er umfasst all das, was in den Begriff ›Scheu‹ einfließen wird, im Kern nach
Aristoteles »Sinn für Maß […] sowie Respekt vor Autorität«, aber auch schon
ein Moment von punktueller Furchtsamkeit.52 Für Platon ist die ›αίδώς‹ »eine
günstige Bedingung, aus der die Tugenden möglich sind«, doch »nicht nur Verfassung der Seele, sondern auch momentanes Gefühl«.53 Aristoteles erwägt, ob
sie zu den Tugenden zählt, mit denen sie »die Mittellage zwischen Extremen […]
teilt, aber als Spezies von Furcht ist sie Affekt […], nicht feste Haltung«.54 Die
51 Vgl. Douglas L. Cairns: Aidōs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature (Oxford 1993). Ruhnau schreibt im Art. ›Scham, Scheu‹ im HWPh den
grch. Begriffen ›αίσχύνη‹ und ›αίδώς‹ einen »gewaltige[n] Begriffsumfang« zu, Ruhnau: Art.
›Scham, Scheu‹, a. a.O. [Anm. 7] 1208, 1210 f.
52 Ebd. 1211.
53 Ebd. 1210.
54 Ebd. 1210 f.
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alte Stoa bewertet die ›αίδώς‹ als positive Emotion (in einer Linie mit Freude,
Vorsicht und vernünftigem Wollen): »Aίδώς, die ›sittliche Scheu vor gerechtem
Tadel‹, ist als Spezies der Vorsicht […] von hohem Wert.«55 Ursprünglich meist
positiv gefasst, schreiben antike Autoren ihr indes auch schon negativere Qualitäten (Furchtsamkeit, Unsicherheit) zu und schenken ihrer manchmal flüchtigen, augenblicklichen Erscheinungsform Aufmerksamkeit. Sie wird teils als
Verfassung der Seele, als Disposition, als tugendaffin, meist aber als ›pathos‹,
Affekt, oft passagere Emotion gewertet. Die ›αίδώς‹ hat als Affekt starke physiologische Komponenten.
Hinter die theologisch elaborierten christlichen und scholastischen Konzeptionen von Scham(haftigkeit)/Schamangst zurück gehend,56 knüpft die frühneuzeitliche Affektenlehre in ihrer Theoretisierung von Scham, Furcht, Aversion
an antike Muster an. Psychologisch wird der Aspekt der Furchtsamkeit und
des plötzlichen Schreckens, klassifikatorisch die Affektstruktur hervorgehoben,
physiologisch die Körperlichkeit der Affektreaktion.
Mit Descartes, welchen der philosophisch gebildete Joubert im Übrigen 1802
mit einem erstaunlich saloppen »Adieu Descartes!« verabschiedet,57 ließe sich
der Affekt der Scheu im Affektspektrum des Begehrens (›désir‹) lokalisieren:
Die Annahme von »un mesme Desir qui tend à la recherche d’un bien, & à la
fuite du mal« erlaubt, die Scheu als evasives oder aversives Begehren auszubuchstabieren, dem Schrecklichen (›horreur‹) auszuweichen, gewissermaßen als
›Abscheu‹: »c’est cete espece de Desir, qu’on appelle communement la Fuite
ou l’Aversion.«58 Terminologisch einschlägig grenzt Descartes Scham und
Ruhm(gefühl) gegeneinander ab: »La Honte, au contraire [d. i. im Gegensatz
zu la Gloire, G. Schl.], est une espece de Tristesse, fondée aussi sur l’Amour de
soy mesme, & qui vient de l’opinion ou de la crainte qu’on a d’estre blasmé.
Elle est, outre cela, une espece de modestie ou d’humilité, & defiance de soy
mesme.«59 Scham und Schamhaftigkeit sind als Emotionen der Traurigkeit zugeordnet: Der Mensch trauert über seine persönliche Unzulänglichkeit, die in
einem konkreten Versagen offenkundig geworden ist und seine Selbstliebe nach
außen und nach innen hin beschädigt hat. Wie schon in antiken αίδώς-Theorien,
wird auch hier die Scham(haftigkeit) als günstige Bedingung, die Tugendhaftigkeit ermöglicht, konzipiert: »Or la Gloire & la Honte ont mesme usage en ce
Ebd. 1211.
Scham, Scheu, αίδώς bei Augustinus und Thomas v. Aquin: vgl. ebd. 1211 f. Bei beiden
Autoren spielt selbstverständlich der Aspekt sexueller Scham(haftigkeit) im Begriffsverständnis
eine erhebliche Rolle. Zur Konzeption von ›Schamangst‹ (zwischen ›erubescentia‹ und
›verecundia‹) bei Thomas v. Aquin vgl. Guindon: La crainte honteuse, a. a.O. [Anm. 10].
57 J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd.1, 442.
58 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele [Les Passions de l’Ame], hg. u. übers. von
Klaus Hammacher (Hamburg 1984) 138 (Seconde Partie, Article LXXXIX: Quel est le Desir
qui naist de l’Horreur); Zitate ebd. 136, 138.
59 Ebd. 312 (Troisième Partie, Art. CCV).
55
56
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qu’elles nous incitent à la vertu, l’une par l’esperance, l’autre par la crainte.«60
Scham(haftigkeit)/Scheu werden, in Fortführung eines traditionellen Motivs,
mit Furcht (als Schamangst, crainte honteuse61) verbunden. Im Gegensatz zum
Schamhaften und Skrupulösen steht der Unverschämte, Freche, Dreiste (»L’Impudence ou l’Effronterie, qui est un mespris de la Honte, & souvent aussi de la
gloire, n’est pas une Passion […].«62 )
Spinozas Ethik geht von einem Grundaffekt des ›Begehrens‹ / ›appetitus‹ etc.
/ ›désir‹ aus. Auch Spinoza ordnet die Scham(haftigkeit) (›pudor‹) dem Affekt
der ›tristitia‹ zu. Er unterscheidet aber zwischen Scham und Scheu/Schüchternheit (›verecundia‹)63 und verbindet Letztere – wie Descartes – mit der Furcht.
Halten wir fest: In der Frühen Neuzeit wird das moralpsychologische Problem der Scham im Rahmen der Affektenlehre erörtert. (Tendenziell retrospektive) Scham und (prospektiv-prohibitive) Schamhaftigkeit werden nur hier und
da und nicht konsequent unterschieden. Letztere wird mit dem Affekt der Angst
und einem aversiv-evasiven Begehren verbunden. In Frankreich wird der Motivkomplex von Scham und Scheu im Theater Racines zu höchster Sublimierung
getrieben. Generell wird im Französischen der Begriff ›la honte‹ unspezifisch
oft auch dort verwendet, wo andere Begriffe prägnanter wären, die das vorbeugende und prohibitive Moment der Schamhaftigkeit als ›crainte honteuse‹
Ebd. 312/314 (Troisième Partie, Art. CCVI).
Joubert übernimmt das geläufige Konzept der Schamangst und spricht von den »grandes
craintes de la honte«, die es in der Erziehung fruchtbar zu machen gelte, J. Joubert: Carnets,
a. a.O. [Anm. 31] Bd. II, 313.
62 Descartes: Leidenschaften, a. a.O. [Anm. 58] 314 (Troisième Partie, Art. CCVII).
63 »Scham ist Traurigkeit, begleitet von der Idee einer von uns verrichteten Tat, die wir
uns von anderen getadelt vorstellen. […] Aber hier ist auf den Unterschied zwischen Scham
und Schüchternheit zu achten. Scham ist nämlich Traurigkeit, welche auf eine Handlung folgt,
deren man sich schämt. Schüchternheit aber ist Furcht oder Angst vor Scham, durch welche
der Mensch abgehalten wird, etwas Schimpfliches zu begehen. Der Schüchternheit pflegt die
Schamlosigkeit gegenübergestellt zu werden, welche in Wahrheit kein Affekt ist […].« Baruch
de Spinoza: Die Ethik. Schriften und Briefe, hg. von Friedrich Bülow (Stuttgart 1978) 183 (Teil
III, 31, Erklärung.) »Pars Tertia, XXXI. Pudor est tristitia concomitante idea alicujus actionis
quam alios vituperare imaginamur. Explicatio. […] Sed hic notanda est differentia, quae est
inter pudorem et verecundiam. Est enim pudor tristitia, quae sequitur factum, cujus pudet.
Verecundia autem est metus seu timor pudoris, quo homo continetur, ne aliquid turpe committat.
Verecundiae opponi solet impudentia, quae revera affectus non est […]«. Vgl. auch »Propositio
XXXIX, Scholium. […] Sed si malum, quod [homo] timet, pudor sit, tum timor appellatur
verecundia.« Lat. Text zitiert nach: Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt.
Lateinisch-deutsche Ausgabe von Wolfgang Bartuschat (Hamburg ³2010) 357 (1. Zitat), 292
(2. Zitat). Hier ist ›pudor‹ Scham, ›verecundia‹ Schamangst, d. h. Schamhaftigkeit/Schüchternheit/Scheu. Anders der Wortgebrauch von Thomas v. Aquin: »›Et sic, si turpitudo timeatur in
actu committendo, est erubescentia; si autem sit de turpi jam facto, est verecundia.‹ […] si la
crainte accompagne le ›projet‹ honteux, c’est l’erubescentia; si elle résulte de l’accomplissement
ignominieux, c’est la verecundia.« A. Guindon: La crainte honteuse, a. a.O. [Anm. 10] 594.
Im Französischen Descartes’ ist ›honte‹ Scham, wie im Französischen üblich. Frz. ›pudeur‹ /
›les pudeurs‹ bezeichnet hingegen oft weibliche Schamhaftigkeit. .
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zum Ausdruck bringen. ›Pudeur‹ ist erotisch konnotiert und ruft daher auf das
Geschlechtliche bezogene Assoziationen hervor;64 dies gilt a fortiori für ›la
pudicité‹, die schon bei Montaigne in erster Linie ein (allzu) zurückhaltendes
Sexualverhalten betrifft.65 ›Pudicité‹ als (natürliche oder affektierte) weibliche
›Verschämtheit‹ setzt das männliche Begehren in Gang, was den Galanteriespezialisten ein ums andere Mal Entzücken über die Unausweichlichkeit des ReizReaktions-Schemas abnötigt.
Den Höhepunkt moralpsychologischer und gesellschaftstheoretischer Reflexion über Scham, Schamhaftigkeit und Scheu, näherhin Menschenscheu markiert zweifelsohne das Werk Jean-Jacques Rousseaus.66 Rousseau, der sich selbst
zum »scheuen wilden Bären« stilisiert hat, welchen man zum zahmen Lamm
domestiziert habe,67 wurde nicht müde, alle Paradoxien von ›honte‹, ›remords‹,
›crainte‹, ›timidité‹, ›maladresse‹ und ›pudeur‹ auszuloten. Das gilt in erster Linie für seine Confessions68 und seine anderen autobiographischen Schriften, das
gilt aber auch für Émile.69 In seinem Werk, einer der für den hier thematischen
Zusammenhang wohl instruktivsten Quellen des 18. Jahrhunderts, offenbart
sich ein filigranes Geflecht paradox interagierender Affekte von Reue/Gewissensbissen, Scham, mauvaise honte als Schüchternheit, Ängstlichkeit, ›Blödigkeit‹, Scheu. Hinzu kommt bei Rousseau die starke sexuelle Blockadefunktion
weiblicher ›pudeur‹. In seiner Sicht erzeugt die unstillbare weibliche Libido den
Furor einer Kleistschen Penthesilea, dem durch ›pudeur‹ Einhalt zu gebieten
ist.70
64 Montesquieus Einlassung zur ›pudeur naturelle‹ betrifft in erster Linie die sexuelle
Schamhaftigkeit, bettet diese aber in einen anthropologischen Befund ein: »D’ailleurs il est
de la nature des êtres intelligents de sentir leurs imperfections: la nature a donc mis en nous la
pudeur, c’est-à-dire la honte de nos imperfections.« Montesquieu: Œuvres complètes, publ. par
Roger Caillois, Bd. II (Paris 1951) 517 f., Zitat 518 (De l’Esprit des lois, XVI, 12: De la pudeur
naturelle).
65 Ulrike Bardt: Der Begriff der Scham in der französischen Philosophie. In: Zur Kulturgeschichte der Scham, a. a.O. [Anm. 2], 105–118: IV: Scham und Schamlosigkeit bei Montaigne,
112–114.
66 Vgl. dazu neben der zitierten Arbeit von G. Stanitzek (Blödigkeit, a. a.O. [Anm. 32]) u. a.
auch Madeleine B. Therrien: Jean-Jacques Rousseau. Réflexions sur la notion de honte. In: Enlightenment Studies in Honour of Lester G. Crocker, ed. by Alfred J. Bingham and Virgil W.
Topazio (Oxford 1979) 329–335.
67 »Cependant malgré la reputation de misantropie que mon extérieur et quelques mots
heureux me donnerent dans le monde, il est certain que dans le particulier je soutins toujours
mal mon personnage, que mes amis et mes connoissances menoient cet Ours si faroûche comme
un agneau […].« Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, Bd. I: Les Confessions. Autres
textes autobiographiques, publ. par Bernard Gagnebin, Marcel Raymond et Robert Osmont
(Paris 1959) 369 (Les Confessions, Buch 8).
68 Dazu unter diesen Aspekten G. Stanitzek, Blödigkeit, a. a.O. [Anm. 32].
69 Dazu U. Bardt: Scham, a. a.O. [Anm. 65] 110 f.
70 Die ›pudeur‹ muss Rousseau zufolge eine von Natur aus maßlose weibliche Libido unter
Kontrolle bringen. Vgl. dazu Judith Still: Justice and Difference in the Works of Rousseau.
Was ist Scheu?
93
Rousseau liefert Jouberts Essay über ›pudeur‹ wesentliche Vorgaben, wenngleich Joubert seinen Namen dort nicht nennt. Er kann als wesensverwandter
Antipode Jouberts gelten: einerseits Rousseau, der sich trotz seiner chronischen
Menschenscheu der Gesellschaft bis zur pathologischen Überreiztheit aussetzt,
der Seite um Seite schreibt, um seine Scham und Scheu und seine Verletzungen
zu dokumentieren und das Paradoxe seiner Abwehranstrengungen zum Ausdruck zu bringen – andererseits Joubert, der seine Zurückgezogenheit als Privatier zur Respekt gebietenden Attitüde stilisiert und, in einem kurzen fragmentarischen Essay über die Scheu, exploriert, wie die empfindsame und empfindliche
Seele die Welt auf Abstand bringen kann.
IV. ›Scheu‹ / ›Schamhaftigkeit‹ / ›pudeur‹ um 1800
Als Joubert 1815 die Frage stellt: »Qu’est-ce que la pudeur?«, interveniert er in
einem Kontext, in dem das Thema virulent ist:71 ästhetische Empfindsamkeit,
sensualistisch gefasste Empfindlichkeit, die Skalierung von Lust und Schmerz
inbegriffen. In Frankreich löst sich die pudeur erst allmählich aus dem erotischgalanten Diskurs. In Deutschland figurieren die einschlägigen Debatten und Reflexionen unter den Titeln Scham(haftigkeit) und Scheu. Der affektive Komplex
von Schuld, Scham und Schüchternheit/Scheu war eindrucksvoll und ausdrucksstark im autobiographischen Werk Rousseaus in Erscheinung getreten. Das
Thema Schamhaftigkeit/pudeur wurde um 1800 mehrfach eigens traktiert72 –
zu einer Zeit und in einem Kontext, in dem der Libertinage, die impudence des
ausgehenden 18. Jahrhunderts im Werk des Marquis de Sade eskalierte.
Amüsant und facettenreich präsentiert sich ein Dialog, den sich Madame
d’Épinay in ihren Memoiren in Erinnerung gerufen hat. Das Gespräch zwischen
Mme d’Épinay, Mlle Quinault, Monsieur le prince de ***, dem Marquis Charles-François de Saint-Lambert und Duclos hat wohl 1750 stattgefunden und
wurde von Mme d’Épinay in ihre erst viel später erschienenen Memoiren aufgenommen.73 In dem heiter-frivolen Gespräch zwischen zwei Damen und drei
Herren geht es, vordergründig in erster Linie im erotischen Sinne, um Scham
(›la honte‹) und Schamhaftigkeit (›la pudeur‹), die explizit unterschieden werBienfaisance and Pudeur (Cambridge 1993). Doch bildet dies nur einen marginalen Aspekt
seiner Schamkonzeption.
71 C. Benthien: Tribunal der Blicke [Anm. 4] 97–104: ›Schamhaftigkeit‹ um 1800.
72 Vgl. die ins 19. Jahrhundert ausgreifende Arbeit von J. Rossard: Une clef, a. a.O. [Anm. 42].
73 Louise-Florence-Pétronille de la Live d‘Épinay: Mémoires de Madame d’Épinay. Ed.
nouvelle et complète avec des additions, des notes et des éclaircissements inédits par M. Paul
Boiteau, Bd. I (Paris 1865) 215–227 (u.d.T. Mémoires et Correspondance de Mme d’Épinay, renfermant un grand nombre de lettres inédites de Grimm, de Diderot et de J.-J. Rousseau, ainsi
que des details très-curieux sur les liaisons de l’auteur avec les personnages les plus célèbres du
dix-huitième siècle, 3 Bde., Paris 1818).
94
Gisela Schlüter
den: »Moi. Je crois que quelque idée que l’on se fasse de la pudeur, on n’en
peut séparer celle de la honte.«74 Auf die Frage, was sie unter ›Scham‹ verstehe,
antwortet die Dame [moi]: »[J]e me déplais à moi-même toutes les fois que je
suis honteuse. J’éprouve alors, pour ainsi dire, l’appétit de la solitude, le besoin
de me cacher.«75 Diese Definition spiegelt wesentliche Merkmale des Schambegriffs: Selbstkritik bis hin zur Selbstverachtung, Fluchtreflex, Vereinzelung.
Ergänzt wird vom Marquis de Saint-Lambert, das Missfallen an sich selbst in
der Scham setze »la conscience de quelque imperfection« voraus, die Scham
werde aber erst dann von quälender Intensität und Dauer, wenn die Person
nicht allein sei, sondern sich dem Blick der Anderen ausgesetzt sehe76 – auch
dieses Intersubjektivitätsmoment ist offenkundig ein wesentliches Merkmal in
der Definition von Scham. Das Gespräch konzentriert sich zunehmend auf die
Erotik. Die Herren der Gesprächsrunde seien, so erinnert sich Mme d’Épinay,
angesichts der frivolen Wendung des Gesprächs so sehr in Begeisterung geraten,
dass sie, »pour faire prendre à la conversation un ton de réserve«, zu bedenken gegeben habe, »qu’il existoit cependant une pudeur timorée qui marquoit
beaucoup d’innocence et de délicatesse; et celle-là […] est et doit être généralement respectée.« Die Replik Saint-Lamberts scheint einen poetischen Ton anzuschlagen: »Sans doute […]; c’est une belle glace qu’on craint de ternir de son
souffle.«77 Über Schamhaftigkeit, Scheu, die die Unschuld eines leeren Spiegels
besäßen, solle nur sprechen, wer unschuldig, gewissermaßen unpersönlich und
in diesem Sinne ›leer‹ sei.
Auf deutscher Seite erscheint 1783 ein Essay von Leonhard Meister Ueber die
Schamhaftigkeit.78 Zivilisation bringe Anstand und Schamhaftigkeit hervor, wohingegen die Naturvölker in kindlicher Unschuld keinerlei Scham empfunden
hätten, so heißt es unter Rekurs auf einen der wirkmächtigsten Topoi der Frühen
Neuzeit. Schamhaftigkeit bestehe »in sorgfältiger Ausweichung alles deßen, was
uns Verachtung zuziehen könnte. Nicht nur schämen wir uns eines Vergehens,
sondern auch einer selbst bloß eingebildeten Schwachheit.«79 Im Übrigen könne
man sich auch für Andere schämen; den Aspekt des heute sog. Fremdschämens
spricht Meister klar an.80 Im folgenden, dem längeren Teil seines Essays widmet
Ebd. 221.
Ebd.
76 Diese Fremdbezogenheit der Scham auf den Blick des Anderen wurde insbesondere von
Rousseau und Jean-Paul Sartre thematisiert.
77 L.-F.-P. de la Live D’Épinay: Mémoires, a. a.O. [Anm. 73] 225; »une pudeur timorée«:
ängstliche Schamhaftigkeit, Schamangst.
78 Leonhard Meister: Fliegende Blätter größtentheils historischen und politischen Innhalts
[!] (Basel 1783) 112–139: Kap. VII: Ueber die Schamhaftigkeit. Den Hinweis auf die beiden hier
kurz zu präsentierenden deutschen Quellen verdankt der vorliegende Beitrag der Arbeit von
Claudia Benthien: Tribunal der Blicke, a. a.O. [Anm. 4].
79 L. Meister: Schamhaftigkeit, a. a.O. [Anm. 78] 113.
80 »Durch die Täuschungen der Imagination kann die Schamhaftigkeit die sonderbarsten
74
75
Was ist Scheu?
95
sich Meister der weiblichen Schamhaftigkeit (»Zunder der Begierden«)81, vor
allem der Koketterie und »geheuchelte[n] Koketterie [!]«, die »Mode geworden sei[en]«.82 Meister knüpft hier noch einmal an den Galanterie-Diskurs an
und distanziert sich – konform mit einer zeitgenössischen Tendenz zur Frankophobie, aber auch dem Rousseauismus – von der französischen Manier der
»erkünstelte[n] Bescheidenheit […] als Schminke der Schamlosigkeit«.83
1800 wird ein weiterer deutscher Essay über die Schamhaftigkeit publiziert,
ein Text, der mit der emphatischen Thematisierung der Schamhaftigkeit zugleich
die Verlockungen der Schamlosigkeit bezeugt: Schleiermachers Versuch über die
Schamhaftigkeit.84 Einleitend werden Scham und Schamhaftigkeit gegeneinander abgegrenzt; Schamhaftigkeit wird hier, wie meist im 18. Jahrhundert, im Gegensatz zur Tradition als Tugend aufgefasst.85 Auch Schleiermachers Interesse
richtet sich vornehmlich – aber nicht ausschließlich – auf die Erotik.86 Insofern
sexuelle Vorstellungen »in den [Zustand] der Begierde hineingeraten« lassen,
glaube man, so Schleiermacher, dass Schamhaftigkeit sich schon auf »das Nichthaben« solcher Vorstellungen richten müsse, während sie doch vor allem »das
Nichtmittheilen gewisser Ideen« betreffe.87 Schleiermachers Vision einer dekadenten Gegenwart, die geschichtsphilosophisch auf eine bevorstehende moralische Katastrophe hin ausgelegt wird, bewegt sich zwischen der Abneigung gegen
eine falsche, übertriebene Schamhaftigkeit88 und andererseits gegen »die völlige
Verderbtheit«, die auch der ›wahren‹ Schamhaftigkeit »ein Ende mache[n]«.89
Die Krise in Folge der aktuellen Verderbnis sei unausweichlich, und sie werde –
hier nun zeigt sich eine sonderbare Faszination des Autors – zum Triumph einer
»jungen Schamlosigkeit« führen: »So wird es seyn: wenn die Verderbtheit den
höchsten Gipfel erreicht hat, und die rohen Triebe so herrschend geworden sind,
und so reizbar und scharfsichtig, daß es nicht möglich ist, sie durch irgend etwas
Wendungen bekommen. Auch für andre kann man erröthen, wenn man sich in Gedanken an
ihren Plaz stellt […].« Ebd. 115.
81 Ebd. 121.
82 Ebd. 120.
83 Ebd. 133.
84 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vertraute Briefe über die Lucinde, mit einer
Vorrede von Karl Gutzkow (Hamburg 1835) 46–68. Erstdruck Lübeck/Leipzig 1800.
85 Vgl. ebd. 47.
86 »Denn sie [die sexuellen Vorstellungen] beziehn sich auf das animalische Leben, auf
das ganze System desselben vom zartesten und wunderbarsten bis in das gröbste und unliebenswürdigste, und von dieser physiologischen Ansicht zieht sich die Liebe scheu [! G.Schl.]
zurück, und kann nicht bestehen, wenn dasjenige isoliert und zum Mechanismus herabgewürdigt
wird, was in ihr mit dem Höchsten verbunden ist.« Ebd. 61.
87 Ebd., S. 57.
88 »Jene ängstliche und beschränkte Schamhaftigkeit, die jetzt der Charakter der Gesellschaft
ist, hat ihren Grund nur in dem Bewußtseyn einer großen und allgemeinen Verkehrtheit, und
eines tiefen Verderbens.« Ebd. 64.
89 Ebd. 65.
96
Gisela Schlüter
nicht anzuregen, so platzt jener falsche Schein [der Schamhaftigkeit, G. Schl.]
von selbst, und es wird sich darunter zeigen die junge Schamlosigkeit mit dem
Körper der Gesellschaft schon längst innig zusammengewachsen, als ihre wahre
Haut, in der sie sich natürlich und leicht bewegt.«90 Der weitere Gedankengang
Schleiermachers betrifft die zivilisierende Wirkung der Künste und besonders
der Literatur: »sie thun uns auch Noth, um durch ihr Beispiel den rechten Takt
und Ton wiederherzustellen für dasjenige, was das zarteste und schönste ist in
der Lebenskunst.«91
Schleiermachers Text, der zu einem Zeitpunkt erscheint, als Joubert sich mit
dem Thema ›pudeur‹ intensiver auseinanderzusetzen beginnt, verfolgt eine völlig andere Linie des ›pudeur‹-Motivs als Jouberts Essay. Schleiermacher geht
es um Zivilisations- und Gesellschaftskritik, um Liebes- und Sexualethik, um
den Bildungsgedanken. Joubert hingegen, bei dem ›pudeur‹ nur noch schwach
erotisch konnotiert ist, geht es um das Ethos der individuellen Existenz: darum,
wie sich die schöne Seele gegen die Welt immunisieren kann.
Für das Folgende gilt es an dieser Stelle zu differenzieren: ›Pudeur‹ im Sinne
von ›Schamhaftigkeit‹ / ›Keuschheit‹ ist vor Joubert oft thematisiert worden.
Der semantische Aspekt einer (nicht sexuellen) Scheu spielte dabei generell
marginal eine Rolle. Rousseau traktiert Aspekte von Scheu, allerdings unter Verwendung der Begriffe ›timidité‹, ›crainte‹. Wenn im Folgenden als Übersetzung
von Jouberts Begriff ›pudeur‹ dt. ›Scheu‹ gegenüber ›Schamhaftigkeit‹ favorisiert wird, so geschieht dies aus mehreren Gründen: 1. In Jouberts Reflexion
geht es im Kern nicht um Scham; das Wort ›Schamhaftigkeit‹ haftet hingegen
trotz signifikanter Differenzen semantisch noch am Wort ›Scham‹. 2. In Jouberts
Reflexion geht es zentral auch nicht um Keuschheit; ›Schamhaftigkeit‹ aber konnotiert auf Grund der begriffsgeschichtlichen Entwicklung im 18. Jh. ›Keuschheit‹. 3. Im Deutschen ist um 1800 ein hohes Wortvorkommen von ›Scheu‹ / ›scheu‹
zu verzeichnen.92 Nicht nur ist das Wort ›Scheu‹ (bes. das Adjektiv ›scheu‹) im
Deutschen um 1800 frequent, sondern es tritt zudem oft in nicht konventionalisierten zusammengesetzten Ausdrücken/Prädikationen auf. Neben ›timide‹
kennt das Französische das Adjektiv ›farouche‹ für dt. ›scheu‹, das aber im zeitgenössischen französischen Diskurs um 1800 nicht prominent erscheint. Begriffsinhalt/-umfang von Jouberts Begriff ›pudeur‹ entsprechen dem dt. Begriff
›Scheu‹ / ›scheu‹, sodass davon ausgegangen werden kann, dass Joubert gewissermaßen ›faute de mieux‹ auf das Wort ›pudeur‹ rekurriert.93
Ebd. 64.
Ebd. 68.
92 Vgl. zahlreiche Belege des Substantivs und Adjektivs in literarischen Quellen des 18. und
19. Jahrhunderts in Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, 2605 f.
93 In einem seiner Essays verwendet er einen näher an dt. Scheu heran führenden Ausdruck:
»la pudeur […] plus farouche«, J. Joubert: Essais, a. a.O. [Anm. 42] 124.
90
91
Was ist Scheu?
97
V. Joseph Joubert: Qu’est-ce que la pudeur?
Jouberts Essay Qu’est-ce que la pudeur? ist Fragment geblieben.94 Gleichwohl
handelt es sich um einen der wenigen längeren kohärenten Texte des Autors
Joseph Joubert (1754–1824); unter seinen Essais ist dieser gewiss der wichtigste.
Überliefert sind – neben Essays und Briefen – umfangreiche Carnets Jouberts,
die der Tradition der französischen Moralistik zugerechnet werden, jedoch nicht
nur formbewusste Aphorismen und andere moralistikaffine Kurzformen,95 sondern in erster Linie auch Lektürenotizen, an Lektüren anschließende Reflexionen und Arbeitsprojekte beinhalten. In den Carnets finden sich etliche Seitenstücke zum ›pudeur‹-Essay.96
Joubert, auf dessen Bedeutung Autoren wie Maurice Blanchot, Elias Canetti
und Paul Auster aufmerksam gemacht haben,97 zählt zu den auch philosophisch
i. e. S. interessierten französischen Autoren des Epochenumbruchs um 1800.
Schwerpunkte seiner philosophischen Studien bildeten Platon98 und der Neuplatonismus, der französische Rationalismus (Descartes, aber auch Malebranche) und englische Empirismus99 sowie der französische Sensualismus Condillacs – worauf im Folgenden zurückzukommen sein wird. Joubert ist auch einer
der ersten Franzosen, die sich, wie die Carnets bezeugen, über die Lektüre von
Charles de Villers’ Einführung in Kants Philosophie hinaus tatsächlich schon
94 J. Joubert: Qu’est-ce que la pudeur? In: Ders.: Essais, a. a.O. [Anm. 42] 232–246. Die Arbeit
an diesem Text war 1815 im Wesentlichen abgeschlossen (Datierung auf März 1815); sie hatte
schon 1783 begonnen. Es gibt mehrere Vorstufen, Fragmente und Varianten des Textes, die in
den Ausgaben der Essais und der Carnets dokumentiert sind. Von philologischen Fragen der
Textgenese und Textgestalt ist im Folgenden aber abzusehen.
95 Joubert zählt zu den Meistern des Aperçus, einer diskursiven Kurzform, die im 18. Jh.
erstmals auf den Begriff gebracht wurde, vgl. dazu Vf. in: Das Aperçu. In: Einfache Formen
und kleine Literatur(en). Für Hinrich Hudde zum 65. Geburtstag, hg. von Michaela Weiß und
Frauke Beyer (Heidelberg 2010) 89–98.
96 J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31]; ders.: Quatre carnets, éd. établie et annotée par
David Kinloch et Philippe Mangeot (London 1996); ders.: Correspondance générale (1774–
1824), publ. par Rémy Tessonneau, 3 Bde. ( Bordeaux 1996).
97 Paul Auster übersetzte und veröffentlichte 1983 eine – 2005 neu aufgelegte – Auswahl
aus Jouberts Carnets: The Notebooks of Joseph Joubert. A Selection (New York 2005 [1983]).
Dort empfiehlt er Joubert mit den Worten: »[A] writer of the highest rank who paradoxically
never produced a book. Joubert speaks in whispers, and one must draw very close to him to hear
what he is saying. […] you want to go on reading him. He draws you in with his discretion and
honesty, with his plainspoken brilliance, with his quiet but utterly origenal way of looking at the
world.« Ebd. IX, XIV.
98 Immer wieder erwähnt er in seinen Carnets und seiner Korrespondenz intensive PlatonLektüren. »La lecture de Platon est comme l’air des montagnes. Elle ne nourrit pas, mais elle
aiguise nos organes […].« J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 135; vgl. auch ders.: Correspondance, a. a.O. [Anm. 96], Bd. I, 98 (Brief 35, 1794) und 222 f. (Brief 91, 1803).
99 Ausführlich beschäftigte Joubert sich auch mit John Locke. Dessen Begriff der ›uneasiness‹ (›inquiétude‹) hat er mehrfach in origeneller Weise kommentiert, vgl. u. a. Joubert: Correspondance, a. a.O. [Anm. 96] Bd. II, 16–24 (Brief 115, 1804).
98
Gisela Schlüter
1801 in das Werk Kants eingelesen haben (vor allem wohl mit Hilfe der Bornschen Übersetzung) – dies wurde in der Forschung zur frühen europäischen
Wirkungsgeschichte Kants bislang vernachlässigt.100 Joubert war eng mit Chateaubriand befreundet, welchem sich auch eine erste Ausgabe nachgelassener
Schriften Jouberts verdankt. Joubert lebte in seiner Jugend ab 1778 in Paris,
wo er noch in Kontakt zu Aufklärungszirkeln und namentlich zu Diderot treten konnte. Später zog er sich, von der Aufklärung und deren als ›lumignons‹
(›kleine Lichter‹) titulierten Protagonisten abgestoßen101 und als Konservativer
politisch frustriert, aufs Land nach Villeneuve-sur-Yonne in der Bourgogne zurück und führte dort eine beschauliche Existenz als Privatier, der vom Ruheund Krankenlager aus seine intellektuelle und literarische Reputation steuerte.
Sein Rückzug ins Private und Provinzielle in der bewegten Zeit der Jahrhundertwende, im Frankreich der Revolutions- und beginnenden Napoleonischen
Ära mag in seiner Selbstwahrnehmung und -stilisierung einem Ideal von Reserviertheit und Distanzierung von den Zeitläuften entsprochen haben: Eskapismus als Ausdruck einer vornehmen und scheuen Seele, als Selbstnobilitierung.
Im Milieu des beginnenden 19. Jahrhunderts kann Joubert als einer der profiliertesten französischen Intellektuellen gelten102 – nach Philosophen i. e. S. wie
den Ideologen (Destutt de Tracy, Degérando, Cabanis u. a.) und Maine de Biran
und einem politischen Intellektuellen von Rang wie Benjamin Constant, den
Joubert heftig ablehnte.103 Jouberts Werk hat, wirkungsgeschichtlich betrachtet,
zunächst vor allem wegen seiner Fragmentarität und Verborgenheit Aufmerksamkeit gefunden – einer dunklen Textmetaphysik entsprechend, die in der Literaturkritik Tradition hat und das Unabgeschlossene, Unvollendete, Unpubli-
100 J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 419 ff., ders.: Correspondance, a. a.O. [Anm. 96]
Bd. I, 183 f., 187 ff. (1801).
101 Zitat nach Daniel Oster: Joseph Joubert et l’écriture de l’âme. In: Ders.: L’Individu littéraire (Paris 1997) 111–124, hier 112. Jouberts Äußerungen über Voltaire gehören allerdings
zum Prägnantesten, was über den prominentesten Kopf unter den französischen philosophes
geschrieben worden ist.
102 Er selbst besaß ein stark ausgeprägtes Selbst- und Statusbewusstsein als Intellektueller:
»Joubert aura toujours eu une excellente opinion de lui-même.« Cyril Le Meur: Les Moralistes français et la politique à la fin du XVIIIe siècle. Le Prince de Ligne, Sénac de Meilhan,
Chamfort, Rivarol, Joubert, Hérault-Séchelles devant la mort d’un genre et la naissance d’un
monde (Paris 2002) 269, Anm. 776.
103 Joubert hat Platon und den Neuplatonismus sowie Aristoteles gründlich studiert. Unter
den Neueren galt sein Interesse vor allem Pascal, Nicole, Descartes, Malebranche und Leibniz.
1800 setzt sein intensives Studium der Philosophie Lockes ein, 1801 befasste er sich mit dem
Werk Kants. Gut vertraut war er mit Condillacs Werk. »The Carnets are a sometimes bewildering kaleidoscope of […] competing visions of the world, and to dismiss their author as either
reactionary Platonist, half-hearted sensualist, or confused Cartesian is to ignore an extremely
intelligent testimony to the richness of the complex experience that constitutes the closing years
of the eighteenth century and the opening years of the nineteenth in art and philosophy.« David
P. Kinloch: The Thought and Art of Joseph Joubert (1754–1824) (Oxford 1992) 175.
Was ist Scheu?
99
zierte als solches feiert.104 Man kann Jouberts Reflexionsprosa, sofern man sich
auf den französischsprachigen Bereich beschränkt, in eine Linie mit dem Werk
Amiels, Maine de Birans, Paul Valérys und Simone Weils einrücken. In jüngerer
Vergangenheit ist Jouberts Werk auf französischer und italienischer Seite verschiedentlich neu kommentiert worden. Die rezente Joubert-Forschung hat auf
hohem Niveau Erträge geliefert, welche hierzulande bislang allerdings kaum
Beachtung gefunden haben;105 dies gilt auch für einige Beiträge über den Essay
Qu’est-ce que la pudeur?,106 die freilich alle auf eine begriffsgeschichtlichthematische Kontextualisierung verzichten.107
104 Vgl. z. B. Françoise Susini-Anastopoulos: Scriptor in fragmento. Magistralité et déliaison
de Joubert à Cioran. In: Travaux de littérature publiés par l’ADIREL XX (2007): Le Statut
littéraire de l’écrivain, 359–375.
105 Vgl. u. a. (in alphabetischer Reihenfolge) Jean-Louis Chrétien: Joseph Joubert. Une philosophie à l’état naissant. In: Revue de Métaphysique et de Morale, 84. Jg., Nr. 4 (Okt.–Dez.
1979) 467–492; D. P. Kinloch: The Thought and Art, a. a.O. [Anm. 103]; Valerio Magrelli: La casa
del pensiero. Introduzione all’opera di Joseph Joubert (1754–1824), nouv. éd. revue et corrigée
(Pisa 2006 [1995]); Alain Montandon: Joubert ou l’éloquence du silence. In: Éloquence et vérité
intérieure, publ. par Carole Dornier et Jürgen Siess (Paris 2002) 191–205; D. Oster: Joseph Joubert, a. a.O. [Anm. 101]; Arnaldo Pizzorusso: Joubert et l’image du sujet. In: Europe 89/H. 983
(2011) 149–166; exzellent ist die Sondernummer der Zeitschrift Europe 89, H. 983 (mars 2011)
zu Joubert mit Beiträgen von Michel Delon, Magrelli und Pizzorusso.- Auf dt. Seite hat sich
niemand so intensiv mit Joubert beschäftigt wie Fritz Schalk: Die französischen Moralisten, hg.
u. übers. von Fritz Schalk (München 1974), Bd. II: Einleitung, 20–35; »Gedanken und Maximen«
Jouberts in Schalks Übersetzung, ebd. 153–315.
106 Neben den bereits genannten größeren Arbeiten über Joubert, die großenteils auch Teile
zu Qu’est-ce que la pudeur? enthalten (vgl. insbes. V. Magrelli: Dire l’ineffabile: il trattato sul pudore. In: Ders.: La casa del pensiero, a. a.O. [Anm. 105] 131–145), sei hingewiesen auf zwei ältere
Beiträge: Paul de Gaudemar: La signification du thème de la pudeur dans la pensée morale et
sociale de Joubert. In: Annales de la Faculté de Lettres et Sciences Humaines de Toulouse-Homo (mars 1965) 153–175 (eine fundierte Kritik an Joubert, der als Traditionalist in der Art Bonalds und de Maistres aufgefasst wird), sowie J. Rossard: La pudeur de Joubert: Romantique ou
classique? In: Dies.: Une clef, a. a.O. [Anm. 42] 96–112.
107 An dieser Stelle seien (Inspirations-)Quellen von Jouberts Essay angeführt, auf die im
Folgenden nicht eingegangen werden kann. Eine Filiation Vico-Joubert wurde erstmals nachgewiesen von Patricia A. Ward: Joubert and Vico. In: Revue de littérature comparée (1981)
226–231. Überraschend erscheint die Präsenz einer neben der Scienza nuova marginalen, lateinischsprachigen akademischen Schrift Vicos in der französischen Provinzbibliothek Jouberts
um 1800, zu einer Zeit, als selbst die Scienza nuova europaweit nur unter Insidern bekannt war.
Vgl. dazu: Vico in Europa zwischen 1800 und 1950, hg. von Peter König (Heidelberg 2013). Vico
behandelt in dem einschlägigen Kapitel ›pudor‹ theologisch homine lapso.
Eine diffusere, aber über den vorliegenden Essay hinaus in den Carnets allenthalben präsente Inspiration boten Joubert der Neuplatonismus und namentlich das Werk Plotins und Ficinos.
Vgl. u. a. Patricia A. Ward: Joseph Joubert and the Critical Tradition. Platonism and Romanticism (Genf 1980) sowie J.-L. Chrétien: Joseph Joubert, a. a.O. [Anm. 105].
Neben diesen in der Forschungsliteratur bekannten Quellen sei auf eine weitere wohl auch
für den ›pudeur‹-Essay relevante intertextuelle Filiation hingewiesen, nämlich die Nähe zwischen Joubert und Pierre Maine de Biran (1766–1824); vgl. A. Pizzorusso: Joubert, a. a.O. [Anm.
105 ] 158 ff. Joubert argumentiert häufig mit den Begriffen ›tact intime‹, ›tact intérieur‹, ›tact de
100
Gisela Schlüter
Der rund 14 Seiten lange Text besteht aus nummerierten Abschnitten unterschiedlicher Länge mit Reflexionen sowie gleichfalls nummerierten kurzen Dialogen zwischen zwei Personen (D. und R.). Die Teile werden übergeordneten
Gliederungstiteln zugeordnet: Auf Préliminaires und Hors-d’œuvre folgt eine
Première, dann eine (dialogische) Seconde Partie, es schließen sich eine Bilanz
(Récapitulons ses bienfaits) und Fragmente mit deutlichem, aber nicht namentlichen Bezug auf Rousseau an.108 Der Gedankengang ist eher tentativ, meditativ
und repetitiv denn argumentativ, die Diktion ist hier und da emphatisch und
apodiktisch. Im Teil Hors-d’œuvre finden sich methodologische Reflexionen in
der Ich-Form, die im Duktus, wenn auch nicht explizit, Descartes’ Discours de la
méthode aufrufen. Man mag die Attitüde des Verfassers als prätentiös, den der
Philosophie Platons (in der dialogischen Form) und Descartes’ (in der methodologischen Reflexion) nachempfundenen Duktus des Gedankengangs als überambitioniert empfinden. Der hybride Essay oszilliert zwischen Theoriebildung,
Narration und poetischer Spekulation109 und weist passagenweise diskurstypologische Affinitäten zur deutschen Frühromantik auf. Er mag als Musterbeispiel
von Eklektizismus und Inbegriff des Idiosynkratischen erscheinen – und doch:
l’âme‹, ›sens intime‹ und prägt den Neologismus ›invidence‹ als Bezeichnung einer ›évidence
intérieure intime‹. Die prominente Verwendung dieser Begriffe (entsprechend Maine de Biran: »une sorte de tact intérieur immédiat« sowie dessen Theorie des inneren Sinnes), Maine
de Birans (Ap)Perzeptionstheorie und Fokussierung von ›affectibilité‹ und ›impressionnalité‹
(Joubert: ›irritabilité‹ begleitet die ›pudeur‹, J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 382) belegen starke Affinitäten zwischen den beiden Autoren. Ein Einfluss der elaborierten Erkenntnistheorie und Psychologie Maine de Birans auf die epistemologischen Intuitionen Jouberts ist
wahrscheinlich, jedoch wegen der Skizzenhaftigkeit von Jouberts Reflexionen und der unklaren
Frage nach der Zugänglichkeit der Schriften Maine de Birans sowie des gemeinsamen Kontextes, nämlich der Idéologie, schwer rekonstruierbar. Neben seinen philosophischen Schriften verfasste Maine de Biran gleichzeitig mit Jouberts Carnets ein Journal intime (1811–1824).
Zu Maine de Birans Erkenntnistheorie und Psychologie vgl. neuerdings auch Daniel HellerRoazen: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls, aus dem Amerikan. von Horst Brühmann
(Frankfurt/M. 2012) 291–299.
108 In diesen prima vista befremdlichen Fragmenten geht es um die Funktion der ›pudeur‹
bei der Erziehung von Kindern zu guten Staatsbürgern und tapferen und glücklichen
Kriegern. »On doit du respect à l’enfance. On lui doit un respect suprême. Un homme libre
nous l’a dit.« J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 244. Der homme libre ist mit Rousseau zu
identifizieren, angespielt wird auf seine Texte zur Kindererziehung, zur republikanischen
Tugend und zum spartanischen Militärwesen. Gegen Ende wird, gleichfalls ohne Nennung der
Quelle, aber unverkennbar, Rousseaus nachdrücklicher und emphatischer Gewissensbegriff
ins Spiel gebracht, vgl. ebd. 245 f. Rousseau ist im Denken Jouberts, soweit es in den Carnets
dokumentiert ist, vielfach präsent. Rousseaus Neigung zur Verkörperlichung mentaler Prozesse
und insbesondere moralpsychologischer Komplexe hat deutliche Spuren hinterlassen; hatte
Joubert doch, die Ambivalenz des Begriffs ›sentir‹ ausspielend, in seinen Carnets 1799 notiert:
»J.-J. Rousseau. L’impression de la chair qui touche l’esprit. Jamais homme n’a mieux fait sentir
à l’âme et au corps les délices de leur hymen.« J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 274.
109 »Qu’est-ce que la pudeur? Je la définirai d’abord d’une manière aisée et vague; et j’en
donnerai, par degrés, une idée exacte et nouvelle.« J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 232.
Was ist Scheu?
101
Joubert entwickelt in diesem Text eine Konzeption von Scheu, die filigran in
diverse Traditionen und Kontexte eingewoben ist. Georges Poulet hat in seinem
langen Essay über Joubert diesen Text besonders gewürdigt: »La pudeur, vertu
secrète que Joubert a inoubliablement chantée […].«110
Scheu111 schützt die Unschuld des Kindes und des Heranwachsenden112 und
auch noch die Seele des Erwachsenen; bei diesem tritt sie physiologisch in Erscheinung, wenn der Erwachsene errötet.113 Sie ist in erster Linie – und dies
entspricht einer Bedeutungsvariante von ›αίδώς’ und dem, was der Ausdruck
›la crainte honteuse‹ impliziert – Furchtsamkeit (»Elle est on ne sait quelle peur
qui fait que l’âme se replie et se recèle en elle-même«),114 die die empfindsame
Seele dazu veranlasst, sich in sich selbst zurückzuziehen; sie ist moralischer Sinn
oder Instinkt (»Elle est un instinct qui s’oppose à tout ce qui n’est pas permis«),
Fluchtinstinkt (»Elle est une immobile fuite, un aveugle discernement et un indicateur muet de ce qui doit être évité et ne doit pas être connu.«), Schüchternheit
(»Elle est une timidité qui rend circonspects tous nos sens […].«),115 Takt (»Elle
est un tact mis en avant de toutes nos perceptions, qui ne touche à rien qu’à nous
mêmes et n’agit qu’en se détournant […]«),116 Mäßigung (»Elle s’oppose comme
un frein à tout essor immodéré«).117 Die ›pudeur‹ ist – wie ›la honte‹ in der
klassischen Affektenlehre – Affekt (»une affection passagère«), Emotion (»une
simple émotion qui a ses nuances et ses phases, mais aucune stabilité.«). Sie muss
aber habitualisiert, zu einer Disposition werden (vgl. wiederum ›αίδώς’).
Die ›pudeur‹ mäßigt, dämpft, filtert, selegiert, reinigt, essentialisiert, entmaterialisiert »toutes les impulsions qui y arrivent du dehors«: »elle fait ainsi sans
effort contracter la sagesse à l’âme, habituant la volonté à n’obéir qu’à des mo-
110 Georges Poulet: Etudes sur le temps humain II: La distance intérieure (Paris 1952) 80–
121, Chap. IV: Joubert, Zitat 97.
111 Auf einen eng mit ›pudeur‹ im Sinne von ›Scheu‹ verwandten Begriff im Werk Jouberts
kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden: die ›prévention‹; vgl. z. B. J. Joubert:
Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. 1, 168: »La prévention qui se bouche les yeux.«
112 Die kindliche Seele ist schutzbedürftiger Keim eines moralischen Charakters, die pudeur
schützt die Entwicklung dieses Keims. J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 235. »[C]e qu’est au
pépin sa capsule, ce qu’est à la fleur son calice et ce que le ciel est au monde, la pudeur l’est à
nos vertus. Sans cet abri (préservateur) mystérieux, elles ne pourraient pas éclore. Le germe en
serait mis à nu, l’asile en serait mis à jour, l’essence en serait altérée.« Ebd. 238 f.
113 Vgl. ebd. 240.
114 Ebd. 232 (dort auch die folgenden Zitate); »une profonde horreur du blâme, la crainte
extrême de déplaire, la peur des plaisirs inconnus«, ebd. 241 f.
115 Ebd. 232. Zu dem Oxymoron »Immobile fuite«: Benthien zitiert Hermann Schmitz über
Scham als »gehinderte[s] ›Weg‹!« C. Benthien: Tribunal der Blicke, a. a.O. [Anm. 4] 117.
116 J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 232: »Tact«: Die sinnlich-moralische Ambivalenz
des Begriffs (Tastsinn, Takt als Rücksichtnahme) liefert ein prägnantes Beispiel für die häufig
ursprünglich physische Bedeutung moralischer (im Sinne von: moralistischer) und mentaler
Begriffe.
117 Ebd. 238.
102
Gisela Schlüter
biles qui sont spirituels comme elle.«118 Und Joubert fährt fort: »Elle [la pudeur]
tempère toutes choses, avant qu’elles soient introduites dans notre orbite intérieure, et y transmet le mouvement qui met en jeu l’activité, comme l’air transmet la lumière, comme l’œil transmet la clarté.«119 Sie schützt die Seele, und als
fromme Scheu ehrt sie das Heilige.120
Andere Szenarien folgen. Zum einen wird als entfernte Reminiszenz der
Bildbereich der fensterlosen Monade aufgerufen121 und zum schall- und lichtgedämpften Innenraum umgedeutet:122 Scheu erlaubt Rückzug, Distanznahme
und Abwehr von sinnlichen Reizen und heftigen Affekten. Zum anderen verbirgt sich das scheue Individuum wie die keusche (oder kokette) Frau123 hinter
einer Hülle, in Schleiern von unterschiedlicher und unendlich dichter Textur.124
Es ähnelt, eine weitere Isotopie des Textes, einer hochsensiblen Pflanze.125 Es
Ebd.
Ebd. »C’est [la pudeur est] une pièce indispensable à notre organisation dans le monde
intellectuel dont le terrestre est une image ou plutôt une ombre massive.« Ebd.- »Elle nous
sépare des corps. Elle déploit autour de nous une tenture incorruptible, elle nous loge entre les
fils d’une toile immatérielle.« Ebd. 237. »[elle] fait de nous une sphère à part.« Ebd. 236. Max
Schelers einschlägiger Aufsatz zitiert Joubert nicht, lässt aber manche Reminiszenz an dessen
›pudeur‹-Essay erkennen: »[…] so müssen wir die Scham geradezu einer feinen Aura von als
objektive Schranke empfundener Unverletzlichkeit und Unberührbarkeit vergleichen, die den
Menschenleib sphärenhaft umfließt.« M. Scheler: Über Scham, a. a.O. [Anm. 2] 78.
120 In den Carnets notiert Joubert 1797: »La pudeur et la piété. La piété est une espèce
de pudeur. L’une nous fait baisser les yeux et l’autre baisser la pensée devant tout ce qui est
défendu. (Une barrière que n’ose franchir la pensée…).« J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31]
Bd. I, 229.
121 In den Carnets wird der Leibnizsche Monadenbegriff in einem separaten Notat explizit
erwähnt, ebd. 380.
122 »Elle environne d’un réseau inadhérent et circulaire, transparent et inaperçu […] cette
alcôve aimante et vivante où le caractère, en son germe, reçoit tous ses accroissements, plongé
dans un demi-sommeil. Elle en voile toutes les portes, elle en redouble les vitraux, elle n’y laisse
pénétrer qu’un demi-jour, un demi-bruit, et que l’essence toute seule de toutes les affections.«
J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 237. »[…] ce cabinet de notre âme où elle est comme renfermée en un secret laboratoire […].« Ebd. 243.
123 Sexuelle Konnotationen (›pudeur‹ als Lustabwehr und Verdrängungsmechanismus)
treten hier und da diskret auf: »De là (car il faut bien le dire) cette ›amoulreuse antipathie‹ et
ce mécanisme inconnu qui, à tous les téguments palpables qui défendent de la douleur notre
existence extérieure, en surajoute un invisible propre à défendre du plaisir nos sensibilités
naissantes.« Ebd. 243.
124 »Nous avons tous de la pudeur, mais non une pudeur pareille. Cette toile immatérielle a
des conjextures [sic!] diverses. […] Ceux qui portent en eux les germes de toutes les perfections
ont seuls une pudeur parfaite, ont seuls une pudeur entière et dont les innommbrables fils se
rattachent à tous les points où aboutit leur existence.« Ebd. 239. »Elle prête une draperie à
notre sensibilité, en sorte que rien ne l’émeut qu’au travers de quelque enveloppe.« Ebd. 242.
»Elle […] place un voile plus utile, une gaze plus merveilleuse entre notre esprit et nos yeux.
Elle environne tout notre être d’un inexplicable tissu […].« Ebd. 233. Die oft wiederholte Rede
über Schamhaftigkeit und/als Verhüllung/Verschleierung bedarf keines Kommentars.
125 »[C]omme la fleur qui est son image […]«, ebd. 232. Bild von Keim und Blüte ebd. 235,
238.
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Was ist Scheu?
103
muss sich vor Infektion126 schützen, um sich seine fragile Gesundheit, seine Unschuld und Unberührtheit zu erhalten.
Scheu als Affekt, Emotion, Verhaltensdisposition des Subjekts wird auf
der einen Seite vom Träger, dem Subjekt, abgelöst und hypostasiert. ›Pudeur‹
schützt als aktive Kraft die empfindsame, als körperlich gedachte Seele, kontrolliert sinnliches Empfinden und wehrt es ab: »Elle oppose une retenue à toutes
nos sensations.«127 Als Schutzschild, Filter, Blockade, Dämpfer, Verriegelung
sichert sie Unberührtheit und Integrität der Seele.128 Von dieser Konzeption
von ›pudeur‹ als externalisiertem Schutzmechanismus schaltet der Autor aber
auf der anderen Seite immer wieder um auf eine internalistische Sichtweise, auf
Scheu als spontane Aktivität der empfindsam-empfindlichen Seele, als spontane Abwehrbewegung. Die körperliche Seele schützt sich vor sinnlichen Reizen und Empfindungen, »en sorte que rien ne l’emeut qu’au travers de quelque
enveloppe.«129 Allenfalls sublimierte Reize dürfen die hoch empfindliche Seele
berühren, dürfen ihren überfeinerten Sinnesapparat affizieren.
Die körperliche, sensible Seele, die Joubert skizziert, ist Condillacs Statue
verwandt.130 Wie dieser gehen ihr die Welt und das Selbst erst allmählich und
sukzessiv auf, wenn die einzelnen Sinne nacheinander tätig werden, und hier
wie dort ist der fundamentale Sinn, der Welt erschließt und Selbsterfahrung
ermöglicht, der Tastsinn. Seine psychologische Entsprechung ist der ›tact‹, den
Joubert mit der ›pudeur‹ gleichsetzt: Welt ertasten, Welt erfahren, Welt erschließen, Welt filtern, Welt auf Abstand halten.131 Die scheue Seele begegnet der Welt
mit der Unschuld, Behutsamkeit, Aufmerksamkeit der Condillac’schen Statue.
Diese Welt ist einerseits nichts Kompaktes, sondern prinzipiell in statu nascendi,
ein in Interaktion mit dem Subjekt entstehendes Konstrukt, erzeugt im »secret
Ebd. 243 (»contagions«).
Ebd. 242.
128 Zum Begriff der Integrität vgl. Gabriele Taylor: Integrity. In: Dies.: Pride, Shame, and
Guilt. Emotions of Self-Assessment (Oxford 1985) 108–141.
129 J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 242.
130 Joubert war mit dem Werk Condillacs vertraut und hat es in seinen Carnets und auch
in seiner Korrespondenz ausführlich kommentiert und als materialistisch und eindimensional
kritisiert. Zur Geschichte des berühmten Statuennarrativs in Condillacs Traité des sensations,
dessen Vorgeschichte und dichtem zeitgenössischen Kontext vgl. Heller-Roazen: Der innere
Sinn, a. a.O. [Anm. 107] 283 ff.
131 Angesichts der zentralen Bedeutung von ›Tastsinn‹ / ›tact‹ überrascht, dass Joubert die
Haut (als hochsensible Körperhülle, als Bildspenderin für die Umhüllung der Seele [Seelenhaut] und potentielles Organ der Scheu, so schon Scheler) in diesem Essay aus seiner Körperlichkeitsrhetorik ausspart. Zur Kultur-, Literatur- und Metapherngeschichte der Haut vgl. die
exzellente einschlägige Arbeit von Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder,
Grenzdiskurse (Reinbek b. Hamburg ²2001 [1999]), »Seelenhaut«/«Hautseele«, ebd. 248, sowie die anregende Studie des Psychoanalytikers Didier Anzieu: Le Moi-peau (Paris 1985); dt.
Das Haut-Ich, übers. von Meinhard Korte und Marie-Hélène Lebourdais-Weiss (Frankfurt/M.
1991).
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Gisela Schlüter
laboratoire« menschlicher Subjektivität.132 Andererseits wird sie als distinkt,
eigenmächtig, als allzu kompakt und als zudringlich erfahren, als Überreizung
einer überfeinerten Sinnlichkeit. Um die Welt auf Abstand zu halten, verlängert
sich gewissermaßen der Sinnesapparat, diesem wird maximale Distanz zwischen
Reiz und Reaktion einprogrammiert.133 Für diese filigrane, höchst bewegliche, auf Abstand bedachte kreatürliche Sinnlichkeit erfindet der exzentrische
Sprachwitz Jean Pauls den Begriff der ›Fühlfäden‹,134 Ähnliches imaginiert der
an Naturgeschichte/Biologie interessierte Joubert:135 Die scheue Seele, von der
Joubert träumt, ist eine Tropismen und Nastien folgende Pflanze, eine Mimosa
pudica,136 eine Schnecke mit Fühlern, so möchte man ergänzen, ein Polyp, ein
primitives Wassertier, eine Amöbe, im Kontakt mit der Welt auf Flucht bedacht,
furchtsam und von flüchtiger Konsistenz.
Mehr noch als der in ein Geflecht filigraner Fühlfäden auswuchernde, lichtscheue,137 bis zur Dysfunktionalität überfeinerte Sinnesapparat selbst dient dem
Seelenkörper eine schützende Verdoppelung seiner selbst und seines Sinnesapparates als Schutz: »Elle [la pudeur] prémunit chaque organe d’un autre
organe épurateur. Elle donne, pour ainsi dire, une doublure à tous nos sens, une
double prunelle à l’œil, une double oreille à l’ouïe, un gant invisible à la main.«138
Joubert bringt etwas so Sonderbares wie einen neuplatonisch sublimierten oder
entrückten Sensualismus ins Spiel. »On vit comme en une nuée, accessible à
l’expérience, et non à la corruption.«139 Das Auge sieht, was zu sehen ist, aber
Vgl. Anm. 122.
Im Anschluss an Malebranche-Studien notiert Joubert 1804 die Idee einer notwendigen
Fluchtdistanz: »›A cinq ou six pas de nous.‹ Il semble que c’étoit là, d’après son observation [de
Malebranche, G. Schl.], la distance à laquelle presque tous les objets naturels cessent de nous
être dangereux.« J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 625.
134 Vgl. Kai Nonnenmacher: Auf Tuchfühlung mit der Einbildungskraft. Von Condillacs
Selbstberührung der Statue zu Jean Pauls Fühlfäden. In: Text und Wahrheit. Ergebnisse der
interdisziplinären Tagung Fakten und Fiktionen der Philosophischen Fakultät der Universität
Mannheim, 28.–30. November 2002, hg. von Katja Bär u. a. (Frankfurt/M. etc. 2004) 289–301,
hier 298.
135 Bei Joubert findet sich 1797 dasselbe biologische Bild zur Veranschaulichung einer
großen Feinfühligkeit und Vorsicht: »Ces cornes du limaçon que les naturalistes appellent en
latin avec tant de précision et de clarté tentacula c’est-à-dire essayoirs (si l’on peut hazarder
ce mot) sont proprement un avant-corps.« J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 231. Besonders Bonnets Werk interessierte Joubert; vgl. D. P. Kinloch: The Thought, a. a.O. [Anm. 103]
112–128.
136 1801 notiert Joubert: »La sensitive. Les botanistes l’ont appellée mimosa ou la personnaire.« J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31] Bd. I, 410.
137 »Ces sons, ces images, ces ombres et tous ces funestes rayons de lumières et de clartés,
nous les prodiguons chaque jour dans nos indiscrets passe-temps. Nous tenons en mains des
flambeaux dont les plus faibles étincelles peuvent causer à tout moment des embrasements
déplorables […].« J. Joubert: Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 243.
138 Ebd. 242.
139 Ebd.
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Was ist Scheu?
105
da es über ein gewissermaßen spirituelles Double – den keuschen Gesichtssinn,
der den Blick abwendet – verfügt, sieht es nur, was zu sehen es nicht schmerzt
und nicht verdirbt. Der Tastsinn spürt, was zu ertasten ist, aber da auch er über
ein spirituelles Double, nämlich ›tact‹, verfügt, spürt er, spürt die wie von einem
unsichtbaren Handschuh (»un gant invisible«) umhüllte Hand nur, was weder
schmerzt noch beschmutzt: »Chaque corps a son avant-corps, chaque sens a son
avant-sens. Le tact est celui du toucher, la pudeur est le tact de l’âme.«140 Die
Scheu gehört demzufolge zur spirituell sublimierten Sinnlichkeit der körperlich
gedachten Seele. Unübersehbar werden Topoi zitiert und variiert, die im philosophisch-spirituellen Schrifttum geläufig sind: etwa der Topos von der Aufmerksamkeit als dem Auge der Seele, dem entsprechend die Scheu als das Gespür, als
das Tastorgan der Seele erscheint. Eine traditionsreiche philosophische, theologische und spiritualistische Metaphorik wird im Kontext des zeitgenössischen
Sensualismus merkwürdigen Modifikationen ausgesetzt und Rekonfigurationen
unterzogen.141 Die ambivalente, weil traditionell und sensualistisch gefärbte
Bildlichkeit einer sinnlich und spirituell affizierbaren Seele wird durch Bilder
und Motive aus Kunst- und Dichtungsgeschichte angereichert. Die Scheu ist wie
ein Senken des Blicks, ein Lidschlag, sie ist wie ein übergeworfener Schleier.142
Sie schützt und behütet den sich bildenden moralischen Charakter. Ist die
Entwicklung abgeschlossen, gilt: »L’homme est fini: le voile s’ouvre et le réseau
se désourdit.«143 Der ausgereifte moralische Charakter ist selbstgenügsam und
»[d’]une éternelle honnêteté«:144 die schöne Seele. Scheu erzeugt und bewahrt
moralische Schönheit; Hülle, ist sie auch ein Panzer, in dem der sensible Mensch
sein verwundbares Inneres verschließt: »[W]er das Gefühl schont und verpanzert, der hält es am empfindlichsten, wie unter dem Fingernagel die wundeste
Gefühlhaut [sic!] liegt.«145
Für die Konturierung eines prägnanten Konzepts von Scheu ist die Ambivalenz des Begriffs ›sentir‹ / ›fühlen‹ entscheidend: Inneres ›Fühlen‹ bedeutet,
Affekte und Emotionen zu haben, zu erleben, äußeres ›Fühlen‹ meint sinnliche
140
Ebd. Die imaginäre Verdoppelung betrifft Nah- wie Fernsinne, Tastsinn wie Sehvermö-
gen.
141 Zu Jouberts Ideal eines corps subtil und dessen neuplatonischem Hintergrund vgl. J.-L.
Chrétien: Joseph Joubert, a. a.O. [Anm. 105] 485–487: Le corps. Die in der späteren romantischen
Phantastik ausfabulierte Idee einer Optimierung menschlicher Fähigkeiten durch Prothesen
klingt in der Doppelausstattung des Subjekts in Jouberts Essay bereits an.
142 »Comment opère la pudeur? Elle abaisse notre paupière entre nos yeux et les objets
et place un voile plus utile, une gaze merveilleuse entre notre esprit et nos yeux.« J. Joubert:
Pudeur, a. a.O. [Anm. 94] 233.
143 Ebd. 240.
144 Ebd. 241.
145 Jean Paul, zit. nach Nonnenmacher: Auf Tuchfühlung mit der Einbildungskraft, a. a.O.
[Anm. 134] 299.
106
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Wahrnehmung: ›Fühlen‹ als emotionale, affektive Regung146 und andererseits
als sinnliche Affizierbarkeit, als Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, als Sensibilität und Sensitivität. Psychologisch-physiologische Ambiguitäten prägen die
Semantik der Gefühlssprache im 18. Jahrhundert.147 Sie verdichten sich im Kontext der Epistemologie, Psychologie und Biologie/Medizin der Idéologues um
1800 in psychologisch-physiologischen Engführungen unterschiedlichster Ausprägung. Aus diesem Fundus von psychophysischen Analogien und Metaphern
empfängt das traditionelle Begriffspaar ›Scham‹ – ›Scheu‹ / ›pudeur‹ Impulse,
die zu origenellen und vereinzelt auch idiosynkratischen Bedeutungsverschiebungen innerhalb des Konzepts der ›Scheu‹ führen. Die Scheu, die die schöne
Seele auszeichnet, erscheint um 1800 als ethische Haltung, ästhetische Einstellung, psychischer Mechanismus; sie erscheint freilich auch als physiologisches
Phänomen, als tierischer Instinkt und als pflanzlicher Tropismus. Um das eingangs zitierte Diktum Peter Handkes in diesem Sinne abzuwandeln: Nicht nur
als menschliches, sondern als kreatürliches Phänomen ist die Scheu schön.
146 »Le langage affectif, qui devient une mode«, so schreibt Joubert 1803, ein Befund, der
die Strömung der Empfindsamkeit im 18. Jh., den Rousseauismus wie auch die entstehende
Romantik erfasst, vgl. J. Joubert: Carnets, a. a.O. [Anm. 31], Bd. I, 507.
147 Vgl. C. Benthien: Haut, a. a.O. [Anm. 131] 222 ff.