Ulrich Schödlbauer
Croces Türken
Kreuzzüge im liberalen System
1.
»Man erkennt«, schreibt Croce in der Einleitung zur Geschichte Europas im neunzehnten
Jahrhundert, »die Überlegenheit eines philosophischen Systems an seiner Fähigkeit,
andere Systeme zu beherrschen, ihre Teilwahrheiten in sich aufzunehmen, einzuord
nen, auszugleichen und das Willkürliche und Phantastische an ihnen in logische Pro
bleme zu verwandeln und aufzulösen. Die Überlegenheit eines ethischen und politi
schen Ideals bewährt sich dementsprechend im Aufnehmen, Läutern, Verwirklichen,
Verwenden und Verwandeln von Wörtern und Forderungen aus dem Bereich der geg
nerischen Ideale. Diese hinwiederum erweisen sich durch ihre Unfähigkeit, sterile
Verschlossenheit und Schroffheit vor dem Feind als unbrauchbar.« (36f) Überlegen
heit zu thematisieren ist keine einfache Sache: wer sie definiert, kommt nicht umhin,
sie zu beanspruchen, denn er setzt die Parameter, an denen man sie erkennt. Jemand
wie Croce, der weiß, was Überlegenheit ist, und keine Scheu trägt, sie als etwas
schlechthin Erstrebenswertes zu preisen, bleibt eingebunden in das System, das er
preist: eine offene Flanke und, von künftigen Entwicklungen her gesehen, ein mögli
cher Fehler der Theorie.
Die Überlegenheit, von der Croce schreibt, bleibt nicht beschränkt auf die Philoso
phie. Es ist die des liberalen Systems auf seinen klassischen Feldern: Wissenschaft,
Ethik, Weltanschauung und Politik. Sie gründet darin, dass hier alle real vertretenen
Ideen zugelassen sind und sich ihren Platz an der Sonne, sprich: im System erkämp
fen können, jedenfalls, solange sie das System in seinem Bestand unangetastet lassen.
Es ist, wie sich leicht bemerken lässt, eine Überlegenheit in der Selbstbeschreibung,
wenn nicht qua Selbstbeschreibung, die Croce hier offeriert. Für jemanden, nennen
wir ihn den ›Feind‹, dem das liberale System alle Freiheiten gibt außer der einen, auf
die es ihm ankommt, die Freiheit, es um der eigenen Vorstellungen willen zu zerstö
ren, sieht die Sache anders aus. Das gilt aber nicht allein für den Feind, sondern für
jeden, der die theoretische Möglichkeit der Systemüberschreitung oder -relativierung
in die Beschreibung des Systems aufgenommen sehen möchte. Demgegenüber gibt
sich Croce wissentlich oder unwissentlich naiv: letztlich beruht die Überlegenheit des
liberalen Systems, folgt man ihm, auf seiner Überlegenheit. Wer Zweifel an ihr bekun
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det, hat das System nicht verstanden, er ist ein theoretischer Ignorant und ein prakti
scher Defätist – oder der Feind.
Was für die Konkurrenz der Systeme gilt, gilt ebensogut für die im liberalen System
selbst miteinander konkurrierenden Ideen. Entweder man denkt sie sich als liberal,
das heißt integrations- und systemfähig, oder sie erscheinen als ewige underdogs, als
Verlierer eines Systems, das sie auf Vorrat hält, sie belächelt, verlacht, liebt, verachtet
und mit Bananen und Nüssen bewirft, wenn die Wärter gerade abwesend sind, wie
dies den Tieren im Zoo zu ergehen pflegt. Nichts anderes heißt es, »das Willkürliche
und Phantastische« – sprich: Befremdliche – »an ihnen [...] zu verwandeln und aufzu
lösen«.
In den Jahren, in denen der real existierende Sozialismus sich in einem Tempo zer
setzte, wie dies seine frühen Theoretiker in entgegengesetzter Richtung kaum für
möglich gehalten hatten, konnten die umständehalber geschärften Augen von WestOst-Reisenden so manche Bizarrerie entdecken, für die weder vorher noch nachher
ein gesellschaftlicher Bedarf bestand. Ich erinnere mich an einen thüringischen
Grenzübergang, auf dessen Abfallbehältern, Tonne für Tonne, unverhofft der aus
bayerischen Wahlkampf-Altbeständen stammende Aufkleber »Freiheit statt Sozialis
mus« prangte. Später fragte man sich, ob darin bereits die Aufforderung lag, künftig
in gemeinsamer gesellschaftlicher Anstrengung die Freiheit anstatt, wie bisher, den
Sozialismus zu Müll zu verarbeiten und zu entsorgen. Nicht leicht zu beantworten
auch die sich zwangsläufig anschließende Frage, ob dies seither in ausreichendem
Maße gelungen war. Immerhin lag in der Aufforderung zum Systemwechsel mittels
einer Parole, die in grauer bundesrepublikanischer Vorzeit zu einer – von vielen da
mals für überzogen gehaltenen – Grundsatzentscheidung innerhalb des liberalen Sys
tems aufgefordert hatte. Die Komik wurde nicht dadurch gemildert, dass die derart
ummontierte Parole auf eigentümliche Weise die DDR-Nachkriegslosung ›Von der
Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‹ in Blickrichtung München wiederholte. Un
ter dem Gesichtpunkt innerer Liberalität konnte sie nur dazu dienen, die verloren ge
gangene Überlegenheit durch intensive Befragung des siegreichen Feindes wieder
herzustellen. Doch lässt sich das schroffe Entweder-Oder in beiden Fällen nicht über
sehen. Vom Feind lernen heißt gelegentlich den eigenen Untergang provozieren. Die
Überlegenheit, von der bei Croce die Rede ist, ist immer die Überlegenheit dessen, der
überlebt. Nach den Untergegangenen kräht kein Hahn.
Auch von Croce lernen heißt siegen lernen. An der Überlegenheit des liberalen Sys
tems besteht kein Zweifel, da der Zweifel zum System gehört, und ohne Zweifel hat es
seine Fähigkeit, vom Feind zu lernen, von Pearl Harbor bis Afghanistan immer wieder
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eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Darin liegt das Dilemma. Irgendwann richtet sich
der liberale Zweifel, ja der Zweifel schlechthin gegen die Überlegenheit selbst, und
zwar sowohl gegen den Begriff wie gegen die Sache.
Die Überlegenheit der Handfeuerwaffe über Lanze und Säbel hat den Ruin ganzer
Kulturen bewirkt, die in manchen Belangen vielleicht liberaler organisiert waren als
die der Eroberer. Vielleicht – denn die unterlegene Kultur wird im Moment des siegrei
chen Angriffs und ihres Zerfalls zum finsteren Popanz, zu einer Welt ohne Sonne,
Luft und Bewegungsfreiheit, ganz zu schweigen vom heute so schwer wiegenden
Mangel an Jeans, Fun und Whisky, so dass im nachhinein schwer zu entscheiden ist,
welches Lebensgefühl in ihr herrschte, welcher Grad an äußerem Feinsinn und inne
rer Freiheit sich der dem Sieger willkürlich und phantastisch dünkenden Formen be
diente, wie hoch Art und Zahl der wirklichen Opfer in Relation zu denen des überle
benden Systems wohl anzusetzen sei. Selbstbeschreibung und Selbstzuschreibung ge
hen im liberalen System ebenso Hand in Hand wie in anderen auch. Allerdings – und
darin unterscheidet es sich vielleicht wirklich grundlegend von anderen Systemen –
kennt es die humane Vorratshaltung am Anderen, Ausgeschlossenen, Gedemütigten,
Negierten, Fast-Ausgerotteten, zu Arbeits- und Versuchszwecken Importierten, kurz:
Befriedeten, die letzterem sogar reale Macht, Einfluss und Subsidien verschaffen
kann und wirklich verschafft, solange es keine Anstalten trifft, die Überlegenheit des
Systems auf die Probe zu stellen.
Croce betrachtete die europäische Staatenwelt des neunzehnten Jahrhunderts als
den sichtbaren Ausdruck des liberalen Systems, vielleicht als das liberale System
schlechthin. Die Verhältnisse der Staaten untereinander reflektierten die Verhältnisse
innerhalb der Staaten. In dieser Auffassung ist auch die Überlegenheit Europas über
die restliche Welt festgeschrieben. Dass es letztere bereits zu Croces Zeiten nur noch
pro forma behaupten konnte, unter Inanspruchnahme der zu Führungsmächten avan
cierten Flügelmächte Amerika und Russland, die sich in der Realität nicht lange bitten
ließen, Europa zu deklassieren, legt einen Hauch von Ironie über seine Ausführun
gen, der sich durch keine historische Besinnlichkeit wegwischen lässt.
Eine der Sternstunden – buchdramaturgisch gesehen die Sternstunde – des Sys
tems ist Croce zufolge der Krimkrieg mit seinen Auswirkungen auf das europäische
Staatensystem, sprich: die Wiedergeburt Italiens aus dem Geist des liberalen Sys
tems. Hier zeigt sich, dass der Kreuzzug gegen das Böse ein konstitutiver Bestandteil
des liberalen Systems ist. Es zeigt sich auch, dass der Wahrnehmung jenes gegenstö
ßigen Systems eine wundersame Beweglichkeit eignet, die es erlaubt, den Bösen ein
mal in diesem, einmal in jenem Lager zu orten.
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Croces Ausführungen zu diesem Punkt sind von abgeklärter Prägnanz. Der Libera
lismus ist kein Idealismus. »Der moralische Idealismus«, schreibt er, »stand, wenn es
ihn überhaupt gegeben hat, auf der Gegenseite: bei dem Zaren Nikolaus, der höchst
religiös und ein eifriger Verteidiger des Glaubens war. Er hielt es für eine Schande der
Christenheit, wenn die türkische Herrschaft noch in Europa blieb. Er war ehrlich von
der Gerechtigkeit und Heiligkeit seiner Sache und seiner Mission überzeugt und
glaubte, zu einem Kreuzzug aufzubrechen.« (190) Der Zar fasst also die Kreuzzugs
idee noch in ihrem mittelalterlichen, religiös geprägten Sinn – ähnlich wie islamische
und christliche Islamisten dies heutzutage den Strategen im Weißen Haus unterstel
len – und exponiert sich durch diese Gesinnung als der gegebene Repräsentant des
Bösen. Die ganze Passage ist ausgesprochen süffisant formuliert: »Die Türkei«, lesen
wir ein paar Zeilen weiter, »die der Zar als erster als ›kranken Mann‹ bezeichnet hatte,
bewies genügend Vitalität, um die Hilfe und das Bündnis der Kulturstaaten zu verdie
nen. Männer wie Cobden und Bright bemühten sich vergebens, die bekannten Barba
reien der Türken wieder in Erinnerung zu rufen; man wollte ganz einfach nichts da
von wissen. Und so geschah es auch, wie das schon mehrmals in vergangenen Jahr
hunderten der Fall gewesen war, als der Gegensatz zwischen Christentum und Islam
noch viel lebendiger das Bewußtsein beherrschte. Auch die Fortschrittler und Demo
kraten wollten diese Dinge vergessen und vergaßen sie tatsächlich. Und es blieb ih
nen ja auch gar nichts anderes übrig. Auch sie bezeichneten diesen Krieg als einen
Kreuzzug, aber im entgegengesetzten Sinne als der Zar dies getan hatte. Sie nannten
ihn einen Kreuzzug für die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker. Sie stellten das
Ziel des Krieges so dar, daß dies die wahrscheinliche Folge sein mußte; sie legten ihr
eigenes Ziel in ihn hinein und begünstigten ihn auf diese Weise.« (191)
Man könnte sich fragen, ob Croce der Auffassung war, dass es schon eines christ
lich-antiliberalen Gemütes bedurfte, um ›diese Dinge‹, ›die bekannten Barbareien der
Türken‹, nicht zu vergessen. Der Liberalismus beweist hier eine Fähigkeit zur Integra
tion des Gegenläufigen, die Staunen, um nicht zu sagen Schwindel erregt: ›diese Din
ge‹, die ›bekannten Barbareien‹ sind auch deshalb in hohem Maße unaussprechlich,
weil sie außerhalb des zivilisierten Europa geschehen und damit in einer Zone, in der
die Europäer selbst nichts weniger als zimperlich mit ihren humanen Artgenossen
umgehen. Unaussprechlich ist alles, was nicht in die Selbstbeschreibung des liberalen
Systems gehört. Der alten Türkei fällt in diesem System die Aufgabe zu, die Barbarei
nach Europa zu tragen: sie steht damit ebensosehr innerhalb wie außerhalb des Sys
tems, weniger weil sie sich diese Aufgabe ausgesucht hätte, vielmehr, weil der von ihr
praktizierte Kolonialismus im eigenen Land die Härten des herrschenden europäischen
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Kolonialsystems überblendet. Das ›halbbarbarische Russland‹, der traditionelle zweite
Kandidat für diese Aufgabe, ist zu groß, er ragt zu weit nach Europa hinein und ist
ein zu aktiver Mit-und Gegenspieler der europäischen Mächte, um sie wirklich und
auf Dauer erfüllen zu können; dazu bedarf es schon besonderer Gelegenheiten wie
etwa des Krimkriegs. Die Türkei kommt hingegen als Handlungssubjekt im Konzert
der Mächte nicht weiter in Betracht. Man kommt auf sie bei Bedarf zurück. Die Fest
stellung dieses Bedarfs ist eine innereuropäische Angelegenheit, übrigens bis heute,
was man an gewissen Reaktionen auf das französisch-niederländische Nein zum Ver
fassungsvertrag der EU leicht ablesen konnte.
2.
Croces Türken spielen in der Topographie dessen, was man auch nach ihm das libera
le System nennen könnte und heute eher pauschal als ›den Westen‹ bezeichnet, eine
besondere, möglicherweise unverzichtbare Rolle. Sie gehören formal gesehen zum
System, fallen aber, sobald es um Inhalte geht, aus ihm heraus. Formal gesehen ist die
Türkei – und der Unterschied zwischen dem Osmanischen Reich und der modernen
Türkei interessiert dabei nur am Rande – ein Teil des Westens, inhaltlich rechnet man
sie zum Orient. Formal wird man nicht müde zu versichern, die kulturelle Differenz
zwischen christlich und islamisch geprägter Kultur spiele im Umgang mit ihr keine
Rolle, in der Sache beteuert man, diese Differenz sei schlechthin unaufhebbar und man
müsse den Realitäten ins Auge sehen. Dasselbe Spiel wiederholt sich unterhalb der
staatlichen Ebene. Formal gesehen besteht zwischen türkischen, kroatischen oder al
banischen Migranten in den Ländern des Westens kein Unterschied, inhaltlich be
trachtet gilt die türkische Subkultur als latente Gefahr für die kulturelle Identität und,
wie neuerdings zu erfahren, sogar für die Sicherheit der Majorität im eigenen Land.
Wie man weiß, bestehen zwischen Form und Inhalt seltsame Relationen. Wer bloß
formal dazugehört, der verfügt zwar im Verkehr mit seinesgleichen über eine Stimme,
aber er kann fast sicher sein – obwohl er die Hoffnung nie ganz aufgeben wird, es
möge sich anders verhalten –, dass er nicht gehört wird, sobald er sich ihrer in diesem
Kreise bedient, obgleich ihn alle ganz gut verstehen. Ist er gewillt, sich Gehör zu ver
schaffen, so muss er – wie versteckt auch immer – drohen: das heißt, er sieht sich ge
zwungen, daran zu erinnern, dass er auch anders handeln könnte, sollte die formale
Zugehörigkeit nicht von den anderen honoriert werden. Nur als potenziell fremde
Macht kann er sich Zugang erzwingen. Damit erinnert er aber die anderen daran,
dass er nicht ihresgleichen sei, das heißt, er bestärkt sie in ihrem Vorurteil und recht
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fertigt die Haltung des Misstrauens und der informellen Ausgrenzung, auf die er rea
giert.
Nun kann man natürlich – und das gewählte Beispiel legt den Gedanken nahe –, die
Sache umkehren und darauf verweisen, dass jede Art des ›Dazugehörens‹ inhaltlich
vermittelt ist und anders gar nicht gedacht werden kann. Der partiell Ausgegrenzte
verfügt nur deshalb über ein Drohpotenzial, weil die Ausgrenzenden ein Interesse an
seiner formalen Teilhabe besitzen – das kann im Verkehr der Staaten ökonomischer
oder stabilitätspolitischer oder sogar sicherheitspolitischer Natur sein. Ein Interesse
aber ist niemals rein formal, es ist niemals ›rein‹, es enthält den Erdenrest, den, nach
Goethes Faust, zu tragen immer ein wenig peinlich ist, obwohl die Politik das selten so
sieht. Der oder das Einbezogen-Ausgegrenzte kann sich so gesehen inhaltlich als zuge
hörig betrachten – mit welchen Konsequenzen sollte es sonst drohen? – und umso
schmerzlicher die formale Ausgrenzung in Form einer verweigerten Anerkennung fak
tischer Zugehörigkeit erfahren.
Das liberale System scheint seine ›Türken‹ mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu
produzieren. Diese gewisse Zwangsläufigkeit erinnert an gruppendynamische Pro
zesse, in denen die Außenseiterposition immer neu besetzt wird. Mir scheint aber,
dass der Fall ein wenig anders liegt und dass hier sowohl handlungstheoretische als
auch kulturspezifische Elemente ins Spiel kommen. Um mit ersteren zu beginnen: so
gewiss ›Anerkennung‹ als anthropologische Größe betrachtet werden kann (ungeach
tet dessen, dass uns Ethnologen versichert haben, die Anthropologie selbst sei eine
Strategie der Nicht-Anerkennung), so gewiss ist es alles andere als zwingend, Macht
auf ausgeklügelte Mechanismen der Anerkennung zu gründen – zu gründen wohlge
merkt, denn dass reale Macht in jedem Fall auf Anerkennung angewiesen bleibt, ist
eher eine Binsenweisheit. Das liberale Modell produziert einige logische und prakti
sche Paradoxien, zu denen auch Croces ›Türken‹ – gemeint sei die mit beliebigen Na
men und Namensträgern zu besetzende Funktion – zu rechnen sind. So ist nicht zu
erzwingen (schon der Versuch, es zu versuchen, wäre widersinnig), dass sich die Zu
stimmung zu bestimmten Entscheidungen – zu denen bereits die Wahl herausgeho
bener Entscheidungsträger gehört – unter den prinzipiell Entscheidungsberechtigten
gleichmäßig verteilt. Wer sich abstimmt, muss Federn lassen und kommt sich gele
gentlich gerupft vor, was die ihm abverlangte Zustimmung graduell nicht mindern
darf. Die Trennung zwischen dem formalen und dem inhaltlichen Gehör, das eine
Partei oder Fraktion oder Nation in einer gegebenen Situation findet, liegt daher in
der Natur der Sache, sie ist im Formalismus der Entscheidungsfindung bereits gege
ben. Die Paradoxie liegt darin, dass das formale Gehör das inhaltliche überwiegt und
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überwiegen muss, wenn Entscheidungen fallen sollen, dass es aber in dem Maße, in
dem letzteres überwiegt, als ein erzwungenes gelten muss. Die Zustimmung zu einer
Entscheidung, die den eigenen Interessen entgegenläuft, fällt im Rahmen weiter ge
steckter oder übergeordneter Interessen, hinter denen das Interesse an der Aufrecht
erhaltung des status quo, des Systems, aufscheint. Die Form, in der sich diese Parado
xie unterlaufen lässt, ist der Kompromiss, in dem die Interessen der Beteiligten ge
geneinander verrechnet werden. Dass dieses Verrechnen seine problematische Seite
besitzt und sogar beträchtlichen Hass entfachen kann, ist aus den Kinderzeiten des
Parlamentarismus bekannt. Der Vorwurf, mit Interessen und, schlimmer, mit Werten
zu schachern, zielt auf den immer einkalkulierten, von denen, die beiseite stehen,
leicht als Verrat deklarierten Verzicht in der Sache zugunsten einer anderen Sache – ge
nau darauf zielt schließlich das Verrechnen. Neben die Sache, die man in das politi
sche Geschäft, das der Kompromiss darstellt, einzubringen bereit ist, tritt also, und
zwar unabhängig vom guten Willen der Beteiligten, die Sache, in der, aus welchen
Gründen auch immer, kein Kompromiss möglich ist, und hier wird es spannend.
Aus welchen Gründen auch immer: das hört sich so an, als seien diese Gründe beliebig
oder könnten es wenigstens prinzipiell sein. Das Gegenteil ist der Fall. Formal gesehen
steht es jeder Partei frei, jede beliebige Sache auf dem Altar der Anerkennung zu op
fern oder auch nicht, sie sollte es nur nicht versuchen. Der Inhalt, der hier neben die
Form tritt und sie zur leeren Form werden lässt, ist die jeweilige Kultur, die es erlaubt,
dass sich der Einzelne um Kopf und Kragen redet, sich ruiniert, mit seinen Überzeu
gungen Schindluder treibt und wie die in diesem Fall anzuwendenden Formulierun
gen lauten mögen, aber nur solange genügend andere bereit sind, die von ihm verra
tenen Motive aufzunehmen und, unbeschadet des immer möglichen Versagens ein
zelner oder auch vieler, weiterzutragen.
Es ist an dieser Stelle nicht nötig, darauf einzugehen, welcher Begriff von Kultur
dieser Rede zugrunde liegt. Es genügt, auf die prima vista unerschöpfliche Regenerati
onsfähigkeit der Einstellungen, Werthaltungen, Überzeugungen und Redensarten zu
verweisen, die das prägen, was man gemeinhin, also intuitiv, als Kultur eines Landes
oder einer Himmelsrichtung (›der Westen‹, ›der Osten‹ etc.) bezeichnet. Vor dem
Hintergrund solcher Prägungen – die in sich vielfältig und different sein können –,
also der ›lebendigen Wirklichkeit der Kultur‹, erscheint die Beliebigkeit der auf dem
Altar der Gemeinsamkeit zu opfernden Sache als Negativismus, als ein wirkliches Ne
gieren dessen, ›wofür es sich zu leben lohnt‹. Dass dies genauso für die andere Seite
gilt, tut nichts zur Sache. Es ist die Sache: in ihm liegt der ganze Unterschied. Eine
solche ›Sache‹ besitzt von Haus aus oder situationsbedingt eine bestimmte Symbolik.
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Beispiel Ökosteuer (ein Begriff, der ein Konzept zur Optimierung des Steuersystems
unter einem bestimmten Gesichtspunkt bezeichnet): solange sie als ›Identitätsnach
weis‹ grüner Politik fungiert, fällt es der Gegenseite leicht, sie als prinzipiell unzuläs
sige Zusatzsteuer abzulehnen, während sie die darunter fallenden realen »steuerli
chen Veränderungen«, anders kategorisiert, mit gleicher Vehemenz in eigener Sache
vertreten und fordern kann oder bei Gelegenheit fordern könnte. Natürlich ist auch
letztere nicht gegen Erosion gefeit – jenseits der Sache, für die sie streiten, pflegen sich
Parteien zu regenerieren und ›nachzulegen‹, wie der etwas lax gewählte Ausdruck lau
tet. So geschehen im Fall der Türkei, die als ›moderner‹, westlich-laizistisch orientier
ter Staat erfahren muss, wie ihr – in der Wahrnehmung der Europäer – das osmani
sche Erbe aus immer neuen Quellen nachwächst, auf dass sie dem System in ihrer an
gestammten Funktion erhalten bleibe.
Nicht verhandelbar sind aus begreiflichen Gründen die Grundlagen des Systems –
die Kultur der Anerkennung, aus der die Mechanismen des Anerkennens ihren Sinn
und ihre Berechtigung erhalten. Am entgegengesetzten Ende des Spektrums nähern
sich die Positionen der Nichtverhandelbarkeit an, je näher sie am Zentrum der Macht
liegen. Macht ist innerhalb des liberalen Systems diffus, sie bildet hier und dort Zo
nen höherer Dichte aus, die miteinander korrespondieren und auf diese Weise Zen
tren entstehen lassen, die strukturierend auf das gesamte System zurückwirken. In
welchem Maß eine Stimme sich innerhalb des Systems Geltung verschafft, hängt un
mittelbar damit zusammen, an welcher Stelle sie sich in diesem dynamischen Macht
gefüge erhebt. In einer Gesellschaft formal Gleicher sorgt die ungleiche Verteilung
von Macht – oder Rechten – dafür, dass die Verhandelbarkeit von Positionen tatsäch
lich variiert. Eine Partei, die im Entscheidungspoker nichts weiter einzubringen hat
als ihre Zugehörigkeit zum System selbst, befindet sich in der paradoxen Situation,
dass dieses letzte Zugeständnis in gewisser Weise immer schon konsumiert ist – die
formale Zugehörigkeit, der keine inhaltliche folgt und die als einziger Inhalt nicht
verhandelbar erscheint, entzieht ihr das Gehör, das sie als zugehörige beanspruchen
kann und muss. Eine solche Partei kann, auch – und gerade – wenn sie über ein be
trächtliches Eigengewicht verfügt, leicht in einen circulus vitiosus der Vorleistungen
hineingeraten, in der Hoffnung, die Machtbalance innerhalb des Systems zu ändern
oder auch nur bestimmte Entscheidungen zu erzwingen, während sie, von außen be
trachtet – und vielleicht nicht einmal zu ihrem eigenen Schaden – nur eine Konstella
tion reproduzieren hilft, in der ein bestimmtes kulturelles Dispositiv immer wieder
geeignete Kandidaten für neue Unverzichtbarkeiten ihr gegenüber hervorbringt.
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3.
Der religiös motivierte Fundamentalismus lässt sich auf zweierlei Weise beschreiben:
als Rückfall in vorliberale Verhaltensmuster, als krasser Anachronismus in einer sich
formierenden Weltgesellschaft, der über kurz oder lang ausgemerzt werden muss,
soll das System nicht ernsthaft Schaden nehmen, oder als Antwort auf den Prozess
der Formierung selbst. In diesem Fall hätte die Idee des gegen ihn gerichteten
»Kreuzzugs« als anachronistisch zu gelten und es wäre zu fragen, welche Positionen
der sogenannte ›Fundamentalismus‹ innerhalb des Stimmen- und Machtgefüges der
nach westlichen ›Standards‹ konstruierten Weltgesellschaft besetzt. Man mag über
den Realitätsgehalt der These vom ›Kontingenztrauma‹ streiten, der zufolge in be
stimmten Weltgegenden aus dem Umstand, dass die Weltgesellschaft nicht aus den
eigenen kulturellen Prämissen hervorgegangen ist, unüberwindliche Vorbehalte ge
gen sie resultieren. Abgesehen davon wird man in nicht wenigen Fällen auf das oben
beschriebene Schema einer auf den Formalismus des Mitredens beschränkten Teilha
be stoßen.
In dieser Hinsicht repräsentieren die Vereinten Nationen und ihre Untergliederun
gen die klassische Differenz zwischen denen, die das Sagen, und denen, die etwas zu
sagen haben. Auf der anderen Seite richtet sich das fundamentalistische Aufbegehren
gegen das Eigenleben der Organe, mittels derer die zu erobernden (oder eroberten)
Staaten an der, gemessen an ihren Statuten, liberalen Staatengemeinschaft partizipie
ren. Die (in der Regel subventionsgestützte) ›formale Mitsprache‹ gerät also von zwei
Seiten unter Druck: von Seiten der bestimmenden Mächte ebenso wie von Seiten der
Kräfte, die diese leere Mitsprache zu beenden wünschen, um zu einer substanziellen
Politik zurückzukehren, deren erste und eigentliche Aufgabe in ihren Augen darin be
steht, die Unverzichtbarkeiten der eigenen Kultur nicht nur formal einzufordern,
sondern lebbar zu machen.
Der religiös motivierte Fundamentalismus – dessen Motive man verstehen kann,
ohne ihm Sympathie entgegenzubringen – verdankt seine Erfolge einer Weltlage, die
sich von der bei Croce beschriebenen in einem Punkt grundsätzlich unterscheidet.
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist mit dem Antagonismus der Systeme auch jene
Grauzone des Weltgeschehens verschwunden, in der die ideologisch unterrepräsen
tierten Habenichtse durch geschicktes Lavieren zwischen den Lagern den Schein ei
ner selbständigen, dem ewigen Antichambrieren entronnenen Politik erzeugen und
eine Zeitlang aufrecht erhalten konnten. Der Spielraum für eine selbständige Politik,
wie sie die Türkei im neunzehnten Jahrhundert und darüber hinaus noch selbstver
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ständlich betrieb und die ihr – siehe Krimkrieg – von den Westmächten im gegebenen
Augenblick sogar honoriert werden konnte, hat dem Prinzip des ›Mitredens mittels
Mittuns‹ Platz gemacht, das die heutige Weltszene so unmittelbar beherrscht. Man
könnte den Fundamentalismus daher als eine an den Westen gerichtete ›Herausfor
derung mangels Herausforderung‹, als Platzhalter eines alternativen Weltentwurfs
bezeichnen, wenn seine realen Auftritte dies nicht als zynisch erscheinen ließen.
Dass die Sehnsucht nach der großen Alternative auch aus der westlichen Welt nicht
verschwunden ist, zeigen, neben autoparodistischen Zügen, manche Aktionen der
ökonomisch motivierten Globalisierungsgegner. Sie enthüllen die bittere Wahrheit
eines Systems, das den Einzelnen – darunter fallen Individuen wie ganze Regionen –
kein Entrinnen oder auch nur Beiseitestehen erlaubt und damit einem elementaren
menschlichen Bedürfnis zuwiderläuft. Das liberale System selbst hat seine Vorzüge
im Kampf entfaltet – ich zitiere Croce: »Merkwürdig, daß manche uns den Liberalis
mus gerne als einen Propheten ohne Schwert malen, wo es doch nicht nur im Begriff
der Freiheit und der Politik, sondern durch die Tatsachen gegeben und erwiesen ist,
daß für keine andere Idee so viele und heiße Schlachten gewagt, solche Ströme von
Blut vergossen, so hartnäckig gekämpft und so großherzige Opfer gebracht wurden«
(35) –, und es ist nach wie vor expansiv (und zwar aus Gründen, die ebenso im Begriff
der Freiheit wie in der Freiheit des Begriffs liegen). Die Frage bleibt, wer innerhalb
dieses Systems expandiert und auf wessen Kosten.
Croce zufolge ist der Liberalismus, der die Beziehungen zwischen den Staaten wie
zwischen den Individuen auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung regelt, eine
Religion, und zwar die Religion der Moderne. Das kommt den Fundamentalisten des
Westens ebenso entgegen wie denen der islamischen Welt, weil sie eine der wesentli
chen Errungenschaften der europäischen Neuzeit, die Trennung von Religion und
Staat, in einem seltsamen Licht erscheinen lässt. Man kann sich fragen, ob letztere
nicht immer – als Zustandsbeschreibung zweiten Grades – den Charakter einer Wirk
lichkeitsverfälschung besaß, insofern sie einen verblassenden Glauben, das Christen
tum, als Religion festschrieb und den neuen Glauben an das Individuum – als Staat
und Person – und seine Rechte als etwas anderes fixierte, an das zu glauben zwar zu
den Pflichten jedes mündigen Bürgers gehört, das aber von seinem – nunmehr priva
ten – Glauben kategorial vollständig unterschieden sei.
Als Religion betrachtet lädt der liberale Gedanke zu Spielen ein, die um den Begriff
der Mündigkeit kreisen – einen Begriff, der implizit bereits hinter den bisherigen
Überlegungen stand, insofern das Mitreden, von dem sie ihren Ausgang nahmen, die
formale und inhaltliche Mitsprache, die ›Stimme‹, über die man in einem bestimmten
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Kreis, und sei es die ›Weltgemeinschaft‹, verfügt, die Identität dessen, der da spricht,
auf eine eigentümliche Weise verbirgt und enthüllt. Das liberale Dogma (um Croces
Terminologie zu verwenden) verlangt, dass der Sprechende von seiner Identität ab
sieht, um unter seinesgleichen zu verkehren, wer immer sie sein mögen – also in etwa das
herzustellen, was Dialektiker die Identität des Nichtidentischen genannt haben. Die
Konstruktion des mündigen Individuums setzt die Privatsache voraus, die abgetrenn
te Sache des Einzelnen, welche die anderen nichts angeht. Darunter fällt, nach klas
sisch liberalem Verständnis, auch die Religion. Wenn also die Religion des Liberalis
mus auf Widerstand stößt – und zwar seitens solcher Religionen, die den für das
Christentum geltenden Prozess der Selbstbeschränkung nicht oder nur unter dem
Diktat eines Kolonialsystems durchlaufen haben –, so steht sie vor der Wahl, sich
selbst oder ihre Prinzipien zu verabschieden, das heißt, sich als das zu erkennen zu
geben, was sie ist, als identitätsprägende Instanz, oder als anonyme Verkehrsform
zwischen Christen unterschiedlicher Konfession, Muslimen, Buddhisten, Hindus etc.
die bestimmende Kraft in Bezug auf die zu verhandelnden Inhalte vollständig aufzu
geben. Selbstverständlich versteht sie sich in der Realität weder zur einen noch zur
anderen Alternative. Eine Parole wie die (im Vorfeld des Irak-Krieges seitens der ame
rikanischen Regierung erst lancierte, dann zurückgezogene) vom Kreuzzug gegen
das Böse verrät den entschlossenen Vorwärtsdrang von Buridans Esel: die liberale
Verkündigung steckt ebenso darin wie die christliche.
Als identitätsprägende Religion fordert der Liberalismus den Glauben an den mün
digen Menschen. Nur unter dieser Voraussetzung erhält das Geltenlassen des Anderen
einen vertretbaren Sinn. Mündigkeit: darin liegt das Wissen um die Disponibilität der
menschlichen Dinge, einschließlich der erdachten, und damit die Abkehr von Formen
der Frömmigkeit, die dem göttlichen Diktat in der Seele des Einzelnen oder den Ver
lautbarungen von Amtsträgern ein Übergewicht über das selbständig Erdachte ein
räumen. Weltreligionen wie das Christentum oder der gelehrte Islam haben Formen
der Auslegung gefunden, die den Gegensatz zwischen dem göttlichen Wort und der
Einsicht in die Eigengesetzlichkeit des Denkens weniger schneidend empfinden las
sen, aber sie haben den Konflikt weder schlichten können noch schlichten wollen. Be
zeichnenderweise verbindet der Fundamentalismus christlicher oder islamischer Pro
venienz extreme Wortgläubigkeit mit extremem Auslegungswillen. Der nicht wahrge
nommene Widerspruch wird nach außen verlagert und setzt sich in Hass auf das au
tonome Denken um. Doch der Widerspruch ist im liberalen Denken selbst virulent.
Die Konstruktion des privaten Menschen, der in seinen innersten Überzeugungen
nicht behelligt werden darf, bietet zwar Schutz vor Verfolgungen, die nicht ausblei
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ben, wenn Menschen mit ihren Überzeugungen Ernst machen, aber sie verändert die
se auch, und zwar im Kern. Ins Belieben des Einzelnen gestellt, also beliebig, erreichen
sie nur in seltenen Fällen die Konsequenz und Dichte der liberalen Überzeugungen,
die gerade nicht ins Belieben des Individuums gestellt sind, sondern überindividuell
und beistimmungsheischend auftreten und auftreten müssen, wenn sie ihren Sinn
nicht unmittelbar einbüßen sollen. Das ist Normalität. Hingegen erregen jene ›inners
ten‹, identitätsstiftenden Überzeugungen, sobald sie eine vergleichbare Dichte und
Konsequenz erlangen, automatisch den Verdacht pathologischer oder verbrecheri
scher Umtriebe. In seinem Bild des fundamentalistischen Terroristen, das beide Züge
enthält, fixiert das liberale Denken seinen selbst erschaffenen Gegenpol, und es ist im
Grunde nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit, dass die logische Möglichkeit, die
darin zum Ausdruck kommt, von wirklichen Personen und Personengruppen ergriffen
und in Aktion umgesetzt wird.
Nun ist der islamische Fundamentalismus zunächst eine Erscheinung der islami
schen Welt. Auch nach dem 11. September verlaufen die antiwestlichen Kampflinien
weitgehend entlang den von westlichen Interessen gezogenen Linien innerhalb dieser
Welt. Im Westen selbst – und insbesondere in Europa, dem Herkunftskontinent des
liberalen Systems – liegen die Dinge anders. Die Gefahr für das System, von aufbe
gehrenden Gruppen herausgefordert zu werden, scheint gering zu sein. Aushebeln
lässt es sich am ehesten durch Inanspruchnahme. Die liberale Option, das Recht glei
chermaßen als instrumentell und als Gewalt über den Gewalten zu betrachten, enthält
eine nicht zu verachtende Einladung, sein Recht zu fordern noch da, wo weder rechtli
che Einstellungen noch Rechtstatbestände vorliegen. Das klingt paradox, ohne es zu
sein. Europas terroristische Zukunft liegt in der massenhaften Inanspruchnahme von
Rechtsprozeduren ohne ein entsprechendes Rechts- (und Unrechts)bewusstsein.
Wenn das, was als juristischer ›Reformprozess‹ den Wechsel der regierenden Parteien
begleitet und als notwendige Anpassung des ›Systems‹ an gewandelte Denk- und Ver
haltensmuster in der Gesellschaft fungiert, im juristischen Alltag als geheime oder
notdürftig bemäntelte Machtergreifung bestimmter Gruppen gehandelt wird, die ih
rerseits Anpassung, Enrichez-nous, Renegatentum und heroischen Widerstand auslöst
und damit neue Spiralen des Nachdenkens und -legens bei Regierenden wie Regier
ten in Gang setzt, dann schlägt fern jeder Legislative die Stunde derer, die im Bewusst
sein des eigenen Weges der Welt die Stirn bieten, ohne sich durch etwas anderes als durch
Gewalt oder unmittelbare Gewaltdrohung kurzfristig darin beirren zu lassen.
Ein frühes literarisches Dokument dieses fundamentalistischen Geistes hat im kul
turellen Gedächtnis Europas einen wie es scheint, unauslöschlichen Eindruck hinter
Ulrich Schödlbauer: Croces Türken
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lassen. Heinrich von Kleists Einfall, die Idee der Gerechtigkeit in einem privaten Ge
müt zu so bestimmender Größe anwachsen zu lassen, dass sie das reale Rechtssystem
zu sprengen droht, berührt deshalb so unmittelbar, weil dem von ihm ersonnenen
terroristischen Feldzug keine als anachronistisch empfundene religiöse Überzeugung
zugrunde liegt, sondern eine dem kommenden liberalen System inhärente Größe. In
nerhalb des liberalen Systems wird der Liberale selbst zum Terroristen, sobald er sei
ne Überzeugungen fundamentalistisch missversteht. Kleist wusste, was er da schrieb.
Das bezeugt das Gespräch zwischen Kohlhaas und dem knechtseligen religiösen Re
formator Luther in Wittenberg, dessen Urteil der Terrorist sich unterwirft, ohne es zu
verstehen. Wie sollte er auch, da doch seine Zeit, anders als die des frommen Mannes,
noch nicht gekommen war. Er hätte schon den Dreißigjährigen Krieg und den West
fälischen Frieden prophezeien müssen. Dann hätte ja, wer weiß, ein beeindruckter
Luther statt seiner freiwillig den Weg zum Schafott angetreten.
Kohlhaas, nicht Luther, geht als Sieger aus diesem historischen Zwiegespräch her
vor. Das lässt sich in Den Haag ebenso wie in Karlsruhe oder an jedem Bezirksverwal
tungsgericht an einer Vielzahl der dort verhandelten Fällen ablesen. Das Rechtsemp
finden ist die vorletzte fundamentalistische Obsession Europas. Sie ist soweit Teil des
Systems, dass alle die verschämten oder unverschämten Fundamentalismen, die in
den Dach- und Gehirnkammern der ihm nominell angehörenden ›Mitmenschen‹ –
ein Begriff mit Fußangeln – ersonnen werden, sich in einem wundersamen histori
schen Kompromiss mit ihm zu vereinigen streben. Wer immer in Europa ›glaubt‹,
glaubt vor allem, dass er Recht hat – so sehr dominiert das liberale Empfinden seit
dem Ende des Kalten Krieges, der RAF und der Brigate rosse das Denken dieses Erd
teils, ohne es im Geringsten von seinen üblichen Narreteien abhalten zu können. Was
immer im politischen Raum als nicht verhandelbar ausgegeben wird – manchmal aus
einsichtigen, meist aus durchsichtigen Gründen –, findet früher oder später den Weg
zu den Gerichten. Dort befindet es sich gut.
Dürfen Menschen ihre innersten Überzeugungen aufgeben? Das ist die Gretchen
frage des Liberalismus. Dass seine Feinde sie immer und überall mit einem mehr oder
weniger aufrichtigen, mehr oder weniger heuchlerischen ›Nein‹ beantworten werden,
versteht sich von selbst. Dem liberalen Denken selbst kann nicht daran gelegen sein,
sie zu bejahen. Vielmehr muss es sich darin einrichten, Überzeugung unter Überzeu
gungen zu sein, will es nicht selbst zum Instrument des Terrors und der Lüge ver
kommen. Separation, Gehirnwäsche, Demütigungen aller Art, die Denunziation von
Menschen anderer kultureller oder religiöser oder nationaler oder ethnischer Her
kunft als künftiger Terroristen, die zu töten ins Belieben einer rachsüchtigen Politik
Ulrich Schödlbauer: Croces Türken
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gestellt wird – dies alles wären Auswüchse eines Systems, das sich die Lektionen sei
ner Feinde allzu schnell und allzu direkt zu eigen gemacht hat und überdies an einem
Übermaß privat fabrizierter und über eine im Gewirr ihrer Rückkopplungen mediati
sierten Öffentlichkeit kommunizierter Phantasien leidet.
Literatur
Benedetto Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, übertr. v. K. Vossler
u. R. Peters, Frankfurt/M. 1968. – Original: Storia d'Europa Nel Secolo Decimonono,
Bari 1932
Erschienen in: Iablis 4. Jahrgang 2005, Übersprungene Identität. Von Proto-Nationen und
Post-Existenzen
http://iablis.de/iablis_t/2005/schoedlbauer05.htm