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(PDF) Emotionen (Handbuch Handlungstheorie)
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Emotionen (Handbuch Handlungstheorie)

2016, Handbuch Handlungstheorie

Eintrag "Emotionen" für das Metzler Handbuch Handlungstheorie; erläutert philosophische Emotionstheorien mit Blick auf den Zusammenhang von Emotion und Handlung. Zentrale Referenzen sind Heidegger, Bennett Helm, Sabine Döring, Peter Goldie, Amelie Oksenberg-Rorty und Charles Taylor.

20 Emotionen 20 Emotionen In den letzten Jahrzehnten hat es ein verstärktes Bemühen darum gegeben, Emotionen als zentrale Dimension der menschlichen Existenz philosophisch zu verstehen, ihre Vollzugsformen zu beschreiben und sie zu zentralen Fragen der Philosophie in Beziehung zu setzen – etwa zu hemen der Ethik (moralische Motivation und Realität von Werten), der Epistemologie (axiologische Erkenntnis), der Philosophie des Geistes (afektive Intentionalität) und der heorie der Person (Emotionen und praktisches Selbstverständnis). Zeichnet man die theoretische Entwicklung in der Philosophie der Emotionen über die letzten Jahrzehnte nach, so kristallisiert sich ein für die Handlungstheorie interessantes Bild heraus: Fühlen und Handeln sind sich in der philosophischen heorie mit der Zeit immer näher gekommen. Das geht so weit, dass Emotionen heute mitunter unmittelbar als Handlungen verstanden werden. Insofern bietet es sich für die Zwecke dieses Beitrages an, Emotionen vor allem unter dem Blickwinkel ihrer Nähe zu Verständnissen des menschlichen Handelns zu betrachten. Zunächst geht es daher um die Grundidee der kognitiven Emotionstheorie, die ab den 1960er Jahren für das erneute philosophische Interesse an den Emotionen maßgeblich wurde. Anschließend wird die Weiterentwicklung des Kognitivismus zu Positionen, welche die afektiven und leiblichen Dimensionen des Emotionalen in ein kognitives Emotionsverständnis integrieren betrachtet, ehe kurz jüngere Ansätze handlungsorientierter Emotionstheorien beleuchtet werden, insbesondere der Enaktivismus. Für die philosophische Handlungstheorie relevant ist vor allem der allmähliche Wandel im Verständnis von Emotionen von mentalen Handlungs-Antezedenzien zu unmittelbaren Handlungsvollzügen. Daneben rückt aber auch die Rolle der Emotionen für den umfassenden ›Hintergrund‹ von Handlungserklärungen insgesamt in den Blick. In dieser Perspektive zeigt sich, dass speziische Handlungsgründe und motivationale Faktoren auf einen größeren Kontext eines Gelechts aus Einstellungen, Charakterzügen, Habitualitäten verweisen. Menschliche Emotionen können nur dann als valide Erklärungsfaktoren für Handlungserklärungen herangezogen werden, wenn man sie als Teilmomente eines solchen umfassenden personalen Selbstverständnisses bzw. einer praktischen Perspektive auf die Welt versteht (vgl. Hartmann 2009; Rorty 2004; Slaby 2008). Von hier aus öfnet sich das Feld sowohl der Emotions- als auch der Handlungstheorie in den Be- 185 reich umfassender Explikationen des menschlichen Selbstverständnisses. Das Folgende kann nicht mehr sein als ein selektiver Zugrif auf ein verzweigtes Forschungsfeld (zur Übersicht: Deonna/Teroni 2012; Döring 2009; Hartmann 2009). Ich beschränke mich weitgehend auf Positionen, die dem emotionsphilosophischen Mainstream zuzurechnen sind. Hier wurde erst in den letzten Jahren wieder verstärkt an ältere Einsichten der Phänomenologie, etwa an Überlegungen Schelers, Heideggers, Sartres oder Merleau-Pontys angeschlossen. Insofern ließe sich die Geschichte emotionsphilosophischer Positionen im 20. Jahrhundert auch anders herum erzählen: ein handlungsorientiertes Verständnis der menschlichen Emotionen, das ich hier als Endpunkt einer theoretischen Entwicklung darstelle, kann mit gleichem Recht als ein bereits vor längerer Zeit erreichter Forschungsstand betrachtet werden, der im Zuge wechselnder philosophischer Moden ins Abseits geriet, ehe er nun erneut erarbeitet wird. In einem Exkurs werde ich daher auf Heideggers Verständnis von ›Verstehen‹ und ›Beindlichkeit‹ eingehen und verdeutlichen, dass es in einigen Punkten mit heute virulenten Aufassungen des Zusammenhangs von Fühlen und Handeln übereinkommt und somit helfen kann, einige bedeutende Einsichten zu gewinnen. Ausgangspunkt Kognitivismus Was sind Emotionen? Es handelt sich dabei um eine Untergruppe jener Phänomene, die mit dem breiten alltagssprachlichen Ausdruck ›Gefühl‹ bezeichnet werden. Als Emotionen werden in der Philosophie gerichtete, d. h. speziisch auf Objekte, Personen oder Situationsaspekte bezogene Gefühle bzw. afektive Episoden genannt, die sich unter (jeweils in einem Kulturraum auf eine bestimmte Weise etablierte) Kategorien wie Furcht, Freude, Trauer, Ärger, Stolz, Scham, Eifersucht, Neid und dergleichen gruppieren lassen. Diese kategoriale Formierung zu einer Vielzahl von sprachlich unterscheidbaren Emotionstypen liefert einen wichtigen Anhalt für die philosophische heoretisierung von Emotionen. Es kann sich bei den so benannten Episoden nicht einfach um unspeziische physiologische Erregungen und auch nicht um bloße qualitative Empindungen – bloße feelings – handeln, denn dann wäre nicht ersichtlich, aufgrund welcher im Phänomen selbst liegenden Kriterien sich die zahlreichen Emotionstypen voneinander unterscheiden XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 186 III Grundlagen lassen. Man spricht diesbezüglich vom Problem der Individuation (vgl. Slaby 2008; Deonna/Teroni 2012, Kap. 3–4). Es gibt ofenbar robuste inhaltliche Kriterien, anhand derer wir zielsicher Furcht von Zorn, Stolz von Neid oder Trauer von Eifersucht unterscheiden. Bei diesen Kriterien – und das ist die zentrale Einsicht der kognitiven heorien – muss es sich um die unterschiedlichen Weisen handeln, in denen sich Emotionen jeweils konkret und in einer bestimmten Hinsicht auf die Welt beziehen. Wer sich fürchtet, bezieht sich afektiv auf eine Gefahr; wer trauert, ist affektiv auf einen schmerzlichen Verlust orientiert; wer sich ärgert, bezieht sich afektiv auf eine vermeidbare Schädigung; wer jemanden beneidet, ist afektiv auf ein Gut im Besitz eines Anderen fokussiert, usw. Ob sich Furcht auch auf charakteristische Weise anfühlt, ob Ärger mit bestimmten Formen körperlicher Erregung einhergeht, ob sich bei Trauer gewisse wiederkehrende Muster von Hirnaktivität messen lassen – all das ist zunächst nebensächlich angesichts des zentralen Aspekts, dass Emotionen Formen des evaluativen Weltbezugs sind, die sich hinsichtlich ihrer evaluativen Gehalte – technisch gesprochen: hinsichtlich ihrer formalen Objekte – präzise diferenzieren lassen (vgl. Kenny 1963). Die kognitiven heorien haben diese Einsicht ausbuchstabiert, indem sie diese kognitive Dimension – die evaluativen intentionalen Gehalte der kategorial unterscheidbaren Emotionstypen – zur maßgeblichen Bestimmungsgröße der Emotionen erklärt haben. Die verschiedenen Spielarten der kognitiven heorie unterscheiden sich dann vor allem darin, wie dieser intentionale Kern einer emotionalen Episode präziser gefasst wird. Als Kandidaten kommen Überzeugungen, Urteile oder Wahrnehmungen in Frage, auch ist die Kombination von Überzeugungen und Wünschen vorgeschlagen worden. Als besonders einlussreich hat sich die Urteilstheorie der Emotionen erwiesen: Bei Emotionen handele es sich um emphatisch gefällte Werturteile, die sich auf existenziell bedeutsame Angelegenheiten beziehen (Lyons 1980; Solomon 1993; Nussbaum 2001). So wäre meine Furcht mein Urteil, dass ich mich in akuter Gefahr beinde; meine Trauer wäre mein Urteil, dass ich einen unwiederbringlichen Verlust erlitten habe; mein Ärger mein Urteil, dass mich jemand absichtlich geschädigt hat, usw. Diese kruden Formulierungen zeigen an, dass der Kognitivismus eine Extremposition ist. Seine Vertreter legen nicht viel Wert auf Phänomenbeschreibungen. Vielmehr handelt es sich um einen theoretisch motivierten Ansatz, der ein spezielles Erklärungsziel verfolgt, eben die Ausbuchstabierung der Einsicht, dass die bekannten Emotionstypen durch die Speziizierung ihrer formalen Objekte individuiert werden. Dieses Unterfangen ist vor allem durch das Ziel der Abgrenzung gegen einlussreiche Gegenpositionen motiviert: insbesondere gegen physiologisch orientierte Empindungstheorien, wie sie in der Nachfolge William James vor allem einige Psychologen und Physiologen vertreten haben, außerdem gegen die dezidiert non-kognitivistische Position des Emotivismus in der Ethik. Diese Gegenpole zum Kognitivismus haben gemeinsam, dass sie Emotionen als lediglich qualitative Gefühlszustände (feelings) ohne intentionalen Gehalt verstehen. Emotionen sind nach dieser Aufassung arationale Regungen, die ihre Träger aufgrund einer qualitativen Lust- oder Unlust-Komponente auf rein subjektive Weise zu Handlungen tendieren lassen oder zur Annahme von Einstellungen geneigt machen. Rationale Kritik, Anfechtungen dieser Geneigtund Motiviertheiten im Lichte von Gründen, wären somit zwecklos. Die gleichwohl weit verbreitete Praxis, uns wechselseitig für situativ unangemessene Emotionen zu kritisieren und auf unser Fühlen mit vernüntigen Gründen einzuwirken, müsste somit als ein de facto außerrationales Beeinlussungsgeschehen – nach Art der Androhung von Strafe oder dem Locken mit Belohnung – revisionär neu beschrieben werden. Mit dieser knappen Skizze der wichtigsten theoretischen Konliktlinie um 1960 ist die Relevanz für die Handlungstheorie bereits angezeigt. Der emotionstheoretische Kognitivismus weckt Zweifel an der von Hume stark gemachten und von Neo-Humeanern bis heute vertretenen strikten Trennung zwischen kognitiven und non-kognitiven Komponenten unter den Handlungsantezedenzien (vgl. Smith 1994, Kap. 1; s. auch Kap. III.B.3). Humes Standardaufassung der Handlungserklärung, das klassische belief/desire-Modell, trennt zwischen einer rationalen Überzeugungskomponente und einer arationalen Motivationskomponente (Wunsch, Neigung, Pro-Einstellung oder ähnliches), wobei, wie es scheint, die Emotionen gemeinsam mit Wünschen, sinnlichen Regungen, Trieben und Impulsen auf die Seite der ›blinden Antreiber‹ (Robert Musil) geschlagen werden. Im Kognitivismus ändert sich dieses Bild. Wenn Emotionen selbst kognitive Zustände sind und als solche der rationalen Kritisierbarkeit unterliegen, dann zeichnet sich eine Aufweichung der dichotomischen Auteilung zwischen rationalisierender aber motivational XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 20 Emotionen inerter Erkenntnis einerseits und arationaler aber affektiv-antreibender Motivation andererseits ab. Allerdings ist dieser Stand in den frühen Versionen des Kognitivismus noch nicht erreicht. Vielmehr kommt es zunächst zu einer schlichten Neueinordnung der Emotionen unter Beibehaltung des Humeschen Schemas: Aufgrund ihrer kognitiven Natur gehören Emotionen auf die Seite der rationalen Handlungsantezedenzien, nicht auf jene der arationalen Motivationen. Emotionen sind im Lichte von Gründen gefällte wertende Urteile, keine blinden, körperlich-triebhaten Impulse. Doch wie sich schon bald nach dem Aukommen der frühen kognitivistischen Emotionstheorien zeigen sollte, hat die Neubewertung von Emotionen im Rahmen des Kognitivismus gewichtigere Konsequenzen für die Handlungstheorie. Es wird am Ende das Humesche Schema selber sein, das im Lichte von Einsichten in die Natur der Emotionen unter Druck gerät. Eine wichtige Lehre der neueren Philosophie der Emotionen ist, dass eine strikte Trennung zwischen kognitiven und non-kognitiven motivationalen Aspekten in der Handlungserklärung problematisch ist, weil Emotionen ein Musterbeispiel eines Zustandstyps sind, bei dem sich nicht mehr sauber zwischen kognitiven und konativen ›Anteilen‹ unterscheiden lässt. Theorien der affektiven Intentionalität Bevor wir uns dieser potenziellen Umjustierung grundlegender Parameter des handlungstheoretischen Denkens im Detail zuwenden, ist zunächst die zweite Phase der heorieentwicklung in der Philosophie der Emotionen seit den 1960er Jahren zu betrachten. Hier erst wird sich jene Konstellation ergeben, mit der sich die Bedeutung der Emotionen für die Handlungstheorie umfassend ermessen lässt. Auch wenn die Kerneinsicht des Kognitivismus alternativlos scheint, lassen die frühen Fassungen der kognitiven heorien vieles zu wünschen übrig. Wenn Emotionen tatsächlich nichts anderes als Urteile wären, was unterschiede sie dann noch von nicht-emotionalen, ohne afektive Beteiligung gefällten Urteilen? Während Urteile und Überzeugungen im Lichte besseren Wissens normalerweise aufgegeben werden, tendieren Emotionen dazu, auch im Angesicht konträrer Evidenzen bestehen zu bleiben – meine Furcht vor dem Abgrund hält an, auch wenn ich einsehe, dass mich ein robustes Geländer vor dem Absturz bewahrt. Man muss hier nicht auf den pathologischen Sonder- 187 fällen wie Flugangst und Spinnenphobien herum reiten, um anzuerkennen, das Emotionen häuig eine kognitive Trägheit aufweisen, die gewöhnlichen Urteilen und Überzeugungen nicht zukommt (vgl. Döring 2007, 380 f.). Zudem lässt sich bereits auf Basis der intuitiven Phänomenologie des emotionalen Erlebens ein Einwand gegen den Kognitivismus formulieren: Ist es wirklich plausibel, jedwede körperliche Erregung, jegliches qualitative Empinden, jegliche Intensität des Erlebens zu belanglosem Beiwerk eines essentiell kognitiven Kernprozesses zu erklären? Kann eine Emotion wirklich ohne jegliche körperliche Dynamik, phänomenale Fühlbarkeit und dergleichen mehr ablaufen? Im Lichte dieser und ähnlicher Einwände erscheinen die frühen kognitiven heorien als ›Kopfgeburt‹ – als einseitige Fixierung auf etwas, das bei all seiner Relevanz bestenfalls einen Teilaspekt des emotionalen Geschehens ausmachen kann (vgl. Deonna/Teroni 2012, Kap. 5). Damit ist die Aufgabe für eine Weiterentwicklung des Kognitivismus umrissen. Jene Merkmale von Emotionen, die nicht auf Anhieb als kognitiv verstanden werden können, die aber dennoch grundlegend für die emotionale Erfahrung zu sein scheinen, müssen so in den Ansatz integriert werden, dass die zentrale Einsicht des Kognitivismus nicht verloren geht. Nun gab es im Umkreis der frühen kognitiven heorien immer schon Versuche, sämtliche prima facie relevanten Eigenschaten von Emotionen zu berücksichtigen – im Rahmen so genannter Mehr-Komponenten-heorien (z. B. Lyons 1980). Hier wurden Emotionen schlicht zu Syndromen aus separaten Teilaspekten oder Teilprozessen erklärt: im Kern steht weiterhin die Überzeugungs- bzw. Urteilskomponente, daneben werden als weitere Komponenten etwa hedonische Empindungen, körperliche Veränderungen, Handlungstendenzen und ähnliches mehr postuliert. Doch dieser Ansatz hilt nicht wirklich weiter. Das Problem ist, dass die kognitive Komponente, die ja nach wie vor die kriteriale Essenz eines Emotionstyps ausmachen soll, sich weiterhin nicht von solchen kognitiven Zuständen unterscheidet, die ohne emotionale Beteiligung ablaufen. Der emotionale Kernprozess weist auch in dieser Multi-KomponentenSichtweise nichts auf, das ihn von einem nüchtern gefällten Urteil unterscheidet (vgl. Helm 2001, 38–42). Somit bleibt der zentrale Einwand gegen den frühen Kognitivismus bestehen. Der Multi-KomponentenAnsatz erscheint aber auch aus einer breiteren theoretischen Perspektive als unbefriedigend: Emotionen werden gegen alle Evidenz weiterhin in das etablierte XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 188 III Grundlagen belief/desire-Modell des Geistes gezwängt, dem dann lediglich einige nicht-intentionale Empindungen und körperliche Aufwallungen als deskriptiver Zusatz beigesellt werden – Peter Goldie spricht despektierlich von einem add-on view der Emotionen (Goldie 2000, Kap. 3). Die starken vortheoretischen Intuitionen, wonach wir es bei der emotionalen Erfahrung mit einer eigenständigen Dimension unserer Existenz zu tun haben – mit einem Erfahrungsbereich sui generis – hängen weiterhin in der Lut. Damit ist der nächste heorieschritt vorgezeichnet: Zu zeigen ist, dass die Intentionalität der Emotionen und das leiblich gespürte, mit Erregung, Intensität und upheaval einhergehende hedonische Empinden in der emotionalen Erfahrung eine unaulösliche Einheit bilden. Eine Emotion liegt dann vor, wenn wir einen evaluativen intentionalen Gehalt nicht lediglich, wie bei einem nicht-emotionalen Urteil, neutral airmieren, sondern unmittelbar afektiv erleben. So fürchten wir eine Gefahr nicht schon dann, wenn wir ihr Bestehen lediglich konstatieren, sondern erst dann, wenn sie uns spürbar aiziert, d. h. wenn uns die Gefahr unmittelbar an- und nahe geht. Die für Trauer charakteristische Erfahrung eines Verlustes wird nicht von einem unangenehmen Empinden begleitet sondern ist selbst ein solches afektives Empinden – es ist der Verlust der geliebten Person, ihr nun unwiederbringliches Fehlen, der uns schmerzlich nahe geht. Wir fühlen den Verlust selbst – und nicht bloß physiologische Begleitefekte eines den Verlust airmierenden Urteils. Peter Goldie prägt in diesem Zusammenhang den Ausdruck »feeling towards« – gemeint ist ein intentionales Empinden (Goldie 2000, Kap. 2; locus classicus dafür ist die Gefühlstheorie Max Schelers). Robert C. Roberts erläutert das damit Gemeinte informativer als afect-imbued concern-based construal: eine im Lichte eines unserer Anliegen erfolgende Aufassung von etwas (Roberts 2003). Bennett Helm schlägt mit seinem Konzept der felt evaluations in dieselbe Kerbe – im Falle der Trauer handelt es sich für Helm um ein schmerzhates Gewahren des Verlustes, was als eine unmittelbar im Empinden liegende Bewertung einer für die fühlende Person bedeutsamen Begebenheit zu verstehen ist (vgl. Helm 2001). Nach Helm bestehen Emotionen aus systematisch verknüpten Mustern von intentionalen pleasures and pains – d. h. lust- oder unlustvolle Erfahrungen von etwas konkret für den Fühlenden Bedeutsamen. Auch Sabine Döring (2007) verortet sich in diesem Lager, wenn sie Emotionen als »afektive Wahrnehmungen« betrachtet und damit die Unaulöslichkeit von Afekt und Gehalt, von Phäno- menalität und Intentionalität der Emotionen betont, insofern bei Wahrnehmungen intentionaler Gehalt und phänomenaler Aspekt nicht trennbar sind (zur Kritik an der Wahrnehmungsthese vgl. Deonna/Teroni 2012, Kap. 6). Mit Blick auf all diese Konzeptionen und ungeachtet der Diferenzen im Detail ist die Rede von einer speziisch afektiven Intentionalität angebracht. Der in den Emotionen liegende Welt- und Selbstbezug ist von grundlegend anderer Art als derjenige, welcher sich in nicht-afektiven Überzeugungen, Urteilen und, falls es sie denn gibt, in nicht-afektiven Erfahrungen, manifestiert. Wir haben es mit einem Intentionalitätstypus sui generis zu tun (vgl. Slaby 2008 sowie die Beiträge in Slaby et al. 2011). Implikationen für die Handlungstheorie Es ist höchste Zeit, nun die handlungstheoretischen Implikationen dieser Sichtweise zu skizzieren. Am deutlichsten hat Döring ihre Emotionstheorie auf eine handlungstheoretische Kerneinsicht zugeschnitten, daher sind die folgenden Ausführungen vor allem an ihrem Ansatz orientiert. Döring zufolge durchschlagen Emotionen aufgrund ihrer intentional-afektiven Doppelnatur den gordischen Knoten der handlungstheoretischen Standardaufassung des belief/desire-Modells. Das Kardinalproblem in dieser klassischen Sichtweise liegt kurz gesagt darin, dass Überzeugungen nicht motivieren, während Wünsche nicht rationalisieren, wir aber beides benötigen, wenn wir den starken Intuitionen des Internalismus bezüglich praktischer Gründe Rechnung tragen wollen (vgl. Döring 2007, 367–369). Im Standardmodell klafen die Einsicht in das, was in einer gegebenen Situation zu tun ist, und das tatsächliche Motiviertsein, dieser Einsicht entsprechend zu handeln, unweigerlich auseinander. Michael Smith spricht vom »Problem der Moral«, das er in Form eines Trilemmas formuliert (vgl. Smith 1994, 12; zum Problem der Moral s. auch Kap. V. A.6): Moralische Urteile drücken Überzeugungen darüber aus, was objektiv der Fall ist (Objektivismus). 2) Wer urteilt, dass eine Handlung moralisch geboten ist, ist krat dessen auch motiviert, diese Handlung zu vollziehen (Internalismus). 3) Eine Handlungsmotivation besteht aus einem entsprechenden Wunsch sowie einer instrumentellen Überzeugung darüber, wie sich der Wunsch verwirklichen lässt, wobei Überzeugung und Wunsch strikt getrennte mentale Vorkommnisse sind (Humeanismus). Diese drei Sätze können nicht zugleich wahr sein. Falls Satz 1) wahr ist, wovon Smith ausgeht, müssten unsere mora- XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 20 Emotionen lischen Urteile als kognitive Zustände gedeutet werden, könnten dann aber aufgrund von Satz 3) nicht motivational wirksam sein (weil Urteile bzw. Überzeugungen keine motivationale Krat haben), also kann Satz 2) nicht stimmen. Die Erkenntnis des moralisch Richtigen wäre durch eine Klut getrennt von der Motivation, im Sinne dieser Einsicht moralisch zu handeln (Smith 1994; vgl. Döring 2007). Dörings Lösung, die ich hier nur stark verkürzt wiedergeben kann, basiert auf der eben skizzierten Konzeption einer genuin afektiven Intentionalität, die sie als grundlegende Alternative zum Humeschen belief/desire-Modell in Stellung bringt. Als rational evaluierbare intentionale Zustände, die als solche aufgrund ihrer afektiven Natur unmittelbar motivational wirksam sind, handelt es sich bei Emotionen um Ausübungen von praktischer Vernunt – um ein rationales Erfassen des situativ Bedeutsamen. Zugleich aber sind Emotionen unmittelbar motivational wirksam – nicht etwa, weil sie ›blind antreiben‹ wie arationale Wünsche, sondern weil ihre afektive Dimension ein intentionales Empinden ist. Emotionen lassen uns das in einer Situation evaluativ Relevante fühlend erfassen, d. h. wir erfahren eine Situation unmittelbar im Lichte unserer genuinen Anliegen und Bestrebungen. Das ist laut Döring gleichbedeutend damit, dass uns Emotionen zum entsprechenden situativ rationalen Handeln motivieren. Afektive Intentionalität ist motivational wirksame Intentionalität. Durch sie wird die fühlende Person zu solchen Eingrifen in das situative Geschehen motiviert, die nach Maßgabe des im Fühlen als Bedeutsam Erfassten angemessen sind. Das emotionale Erfassen des Bedeutsamen und die motivationale Krat, die von einem afektiven Zustand ausgeht, sind somit nicht das jeweilige Werk separater Komponenten, sondern erfolgen aus ein und derselben Quelle. Für Döring sind Emotionen als afektive Repräsentationen des situativ Bedeutsamen untrennbar sowohl evaluativ-erschließend als auch rational motivierend. Abweichend von Döring lässt sich dieser Zusammenhang auch im Sinne des Realismus deuten: Das bedeutsame Objekt selbst wirkt, vermittelt über seine affektive Erfassung, sowohl rationalisierend als auch motivierend (bei Döring ist es dagegen ausdrücklich der mentale Zustand, die afektive Wahrnehmung, die motiviert und – vermittelt über darauf gründende Urteile – auch rationalisiert; vgl. Döring 2007). So oder so kann die heorie der afektiven Intentionalität der Moraltheorie einen wichtigen Dienst erweisen, indem sie einen Schlüssel zur Lösung des besagten Problems der Moral liefert. Emotionen fundieren Ausübungen 189 praktischer Vernunt, insofern sie als afektive Wahrnehmungen bzw. als afektives Ofensein zur Welt evaluative – bzw. in diesem Fall: moralische – Urteile rechtfertigen. Diese emotionsbasierten Urteile haben motivierende Krat, weil ihre Inhalte in den Anliegen der fühlenden Person gründen und insofern genuin afektive Inhalte sind. Anders gesagt: Diese Urteile ›erben‹ die motivationale Krat von den afektiven Vollzügen, auf denen sie gründen. In diesen emotionsbasierten Urteilen fällt daher Rationalisierung und Erklärung des moralischen Handelns ineins (vgl. Döring 2007, 386 f.). Die Relevanz dieser Position für ein Verständnis des menschlichen Handelns reicht aber natürlich über den Bereich der Moral hinaus. Bennett Helm, dessen Aufassung in diesem Punkt derjenigen Dörings recht nahe kommt, konstatiert angesichts des beschriebenen Zusammenhangs, dass emotionale Inhalte das Humesche Dogma einer strikten Trennung von kognitiven und konativen Zuständen – die so genannte cognitive-conative divide – insgesamt obsolet machen (Helm 2001, 4 f.). Emotionen lassen diese klassische Trennung als artiiziell erscheinen, so dass es ratsam erscheint, die Rede von kognitiven und konativ-motivationalen ›Anteilen‹ der Emotionen überhaupt fallen zu lassen. Die afektive Intentionalität ist eine Form des Weltbezugs sui generis – es handelt sich um eine Intentionalität, die eine fühlende Person zugleich und ineins die Welt als bedeutsam erfassen lässt und sie zu solchen Eingrifen in das uns umgebende Geschehen motiviert, die der afektiv erfassten Bedeutsamkeit im Lichte der jeweiligen Anliegen und Bedürfnisse der Person Rechnung tragen. Auch wenn sich die hier dargestellten Konzeptionen in Detailfragen unterscheiden – etwa darin, ob die Emotionen selbst Handlungen rationalisieren oder ob sie dies, wie Döring meint, nur vermittelt über Urteile tun – besteht Einigkeit darin, dass eine angemessene heorie der Emotionen die theoretische Landschat in der Handlungs-, Moral- und Vernunttheorie signiikant verändert. Exkurs zu Heidegger Heidegger, daran sollte man an dieser Stelle erinnern, operiert in Sein und Zeit auf der Basis einer vergleichbaren Einsicht, die anders als bei Döring konsequent anti-repräsentationalistisch und anti-mentalistisch orientiert ist. Heideggers in diesem Zusammenhang zentraler Ausdruck, der ihn vor den in der Rede vom Kognitiven, Konativen, und selbst in der von Bewusst- XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 190 III Grundlagen sein und Intentionalität angelegten unangemessenen Trennungen bewahren soll, lautet Erschlossenheit. Erschlossen ist dem menschlichen Dasein all das, dem es im Handeln (bzw. in seinem Sein) auf angemessene Weise Rechnung tragen muss. Ich habe die Welt nicht kognitiv im Blick oder in Form von Vorstellungen, Ideen oder Repräsentationen ›vor dem Geist‹, so dass es dann immer noch eine ofene Frage ist, wie ich auf Basis dieser mentalen Gehalte zum Handeln komme. Vielmehr bewege ich mich kompetent in der Welt, d. h. ich agiere aus einem Verständnis heraus, das mich die jeweilige Bedeutsamkeit des mir in der Welt Begegnenden praktisch bewältigen lässt. Es wäre künstlich und führte zu vergegenständlichenden Fehlbeschreibungen, würde man einen separaten Akt des Erfassens des Bedeutsamen postulieren. Denn es liegt im Handeln selbst, das ich dem dafür jeweils Relevanten situativ Rechnung trage. So verwendet Heidegger insbesondere den Ausdruck ›Verstehen‹, der die primäre Vollzugsform der Erschlossenheit benennt, im Sinne eines ›etwas Könnens‹. Darin schwingt die kognitive Bedeutung des Wortes Verstehen noch mit, nun aber im Sinne einer in den praktischen Vollzug eingelagerten Dimension. Zugleich ist das Verstehen immer schon als solches afektiv fundiert, insofern sein Vollzug jeweils einen speziischen Gefühlstonus aufweist, der dem Agieren ein qualitatives Wie aufprägt (»Verstehen ist immer gestimmtes«; Heidegger 1927/1986, 142). Damit ist zum einen eine vorrelexive Orientiertheit auf das situativ Bedeutsame gemeint, zum anderen ein Verwiesensein auf etablierte Bestände des Bedeutsamen, hergebrachte Routinen und Üblichkeiten, die für den jeweiligen praktischen Kontext maßgebend sind. Die dem Verstehen als praktischer Kompetenz eingelagerte habitualisierte Afektivität fungiert als ein Reservoir des Bedeutsamen, des Schicklichen, des Tradierten, wobei sich darin der Bezug auf aktuale bereichsspeziische Relevanzen mit den individuell erworbenen Kompetenzen und Routinen vermengt, insofern diese im situativen Handlungsvollzug aktiviert werden. Heideggers Tendenz, die auf scharfe Trennungen von Zustandsarten ausgerichtete Terminologie der Tradition zu revidieren und dagegen die Verwobenheit personaler Vermögen zu betonen, gibt uns einen Fingerzeig für die nächste Entwicklungsstufe philosophischer Emotionstheorien. Es ist noch nicht das letzte Wort, wenn Emotionen in Folge der hier nachgezeichneten Einsichten als ausgezeichnete Handlungs-Antezedenzien betrachtet werden, da sie, wie gezeigt, rational motivieren. Auch diese Sichtweise könnte noch einer übermäßig auf Zergliederung personaler Vermögen orientierten Einstellung geschuldet sein; die Trennung zwischen Handlungen und ihren vermeintlichen Antezedenzien könnte das Resultat einer fehlgeleiteten Ontologisierung von zu Analysezwecken eingeführten Kategorien sein. So mag uns das Beispiel der Emotionen noch mehr lehren als das bis hierhin Festgestellte, nämlich die Vorzüge einer Konzeption der personalen Existenz, die eine scharfe Trennung zwischen dem Handeln einerseits und seiner rationalisierenden und erklärenden Vorgeschichte andererseits unterläut. Hier konvergiert die Philosophie der Emotionen mit kritisch-revisionistischen Beiträgen zur philosophischen Handlungstheorie (vgl. Taylor 1985; Rorty 1988). Handlungsorientierte Emotionstheorien Schon bei einer oberlächlichen Betrachtung fällt auf, dass das Verhältnis von Emotionen und Handlungen ein sehr enges sein muss. Ist Furcht wirklich trennscharf von Flucht- und Vermeidungshandlungen separierbar? Ist Scham wirklich etwas substantiell anderes als das aktive Bestreben, sich den Blicken der anderen zu entziehen? Kann man sich Zorn ganz getrennt vom zornerfüllten Agieren, vom Trachten nach Konfrontation oder Vergeltung vorstellen? Selbst eine ›lähmende‹ Trauer geht mit einem speziischen Trauerverhalten, mit einem charakteristischen Gebaren und Agieren einher. Auch aus der anderen Richtung lässt sich eine enge Verbindung zwischen Fühlen und Handeln aufzeigen. Welches Handeln ist in seinem Vollzug gänzlich frei von begleitenden bzw. ihm innewohnenden Afekten? Zahllose Tätigkeiten gehen mit Lust oder Frust einher und wären ohne diese afektive Dimension nicht annährend das, als was wir sie kennen. Das menschliche Handeln wäre bei weitem nicht so faszinierend, wenn es nicht wahlweise von Ängstlichkeit, Aggression, Liebe oder Hass geprägt wäre, wenn es nicht zornerfüllt, liebevoll, mit Freude und Hingabe oder aber widerwillig, missmutig oder gereizt vollzogen würde. Kurz: Das afektive Wie lässt sich nur um den Preis großer Künstlichkeit vom aktiven Was einer Handlung trennen, während umgekehrt ein emotionales Fühlen ohne ein entsprechendes Agieren oder zumindest die starke Tendenz dazu allenfalls einen seltenen Extremfall darstellt. Fühlen und Handeln gehören auf das Engste zusammen. Wie aber lassen sich diese Befunde auch theoretisch einholen? Heideggers eben skizziertes Konzept XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 20 Emotionen des beindlichen Verstehens ist ein Ansatz, der die grundlegende Verwobenheit von Erkennen, Fühlen, Handeln philosophisch ausbuchstabiert. Es gibt aber auch in der gegenwärtigen Debatte der Emotionsphilosophie handlungsorientierte Positionen, beispielsweise den Ansatz des Enaktivismus, der im Umfeld kognitionswissenschatlicher Arbeiten zur Verkörperung des Geistes entstanden ist (vgl. Colombetti 2013; Colombetti/hompson 2009). Auch hier geht es, wie bei Heidegger, nicht um isolierte handlungs- bzw. emotionstheoretische Überlegungen, sondern um eine allgemeine heorie des Weltbezugs von Organismen bzw. Personen. Im Enaktivismus wird das Mentale insgesamt als aktives Vollzugsgeschehen aubauend auf grundlegenden Organismus-Umwelt-Interaktionen verstanden. Das Mentale ist in dieser Sichtweise keine separate Struktur, sondern Teilmoment der adaptiven, lebenserhaltenden Aktivität eines Organismus bzw. der Existenzbewältigung einer Person. Wahrnehmung beispielsweise ist untrennbar verwoben mit Formen explorativer Aktivität, in deren Verlauf sich erst die Konturen des Wahrgenommenen in Form einer systematischen Kovarianz von Umweltgegebenheiten mit dynamischen Eigenschaten des wahrnehmenden Akteurs herauskristallisieren. Die Welt kommt entsprechend nicht zuerst als eine neutrale Ansammlung von Objekten in den Blick, sondern primär als ein Zusammenhang von afordances, d. h. von konkreten Handlungs- und Seinsmöglichkeiten, die sich einem Akteur situativ bieten. Emotionen passen gut in das enaktivistische Bild, insofern sie plausibel als Sequenzen einer auf afordances bezogenen aktiven Orientiertheit verstanden werden können. Was oben als afektive Intentionalität beschrieben wurde – die Untrennbarkeit von intentionalem Gehalt und Gefühlsqualität – wird dann konkreter als ein aktives Erschließen des situativ Bedeutsamen erkennbar. Gemeint sind die verschiedenen Formen der afektiven Situationsbewältigung (coping): das Vermeiden oder Vereiteln von Gefahren, das Anstreben und Aneignen des Zuträglichen, das Bekämpfen des Verhassten, das Geringschätzen des Verächtlichen oder das Verehren des Bewundernswerten. Der afektive Weltbezug ist ein aktives Erschließen, ein umfassendes Sich-zur-WeltStellen und in-der-Welt-Agieren – im Gegensatz zu einem lediglich gefühlsmäßigen ›Registrieren‹ von isolierten Werteigenschaten. Wenn es bei manchen dieser situativen afektiven Vollzüge eher um evaluative Einstellungen (›Bewundern‹) als um manifeste Handlungen (›Flucht‹, ›Konfrontation‹) zu gehen scheint, so sind dies graduelle Abstufungen in einem aufs Ganze 191 gesehen aktiven Weltverhältnis. Gut bringen das Begrife wie Haltung oder Verhaltung zum Ausdruck (Merleau-Ponty spricht von comportment): es geht um umfassende Formen eines sich zur Welt Stellens, um aktive Orientierungen, die letztlich das gesamte bewusste Existieren einer Person umfassen (vgl. Slaby/ Wüschner 2014). Dass es dann bei oberlächlicher Betrachtung situativ mal aktiver, mal weniger aktiv zugeht, ist angesichts der grundlegenden aktiv-strebenden Orientiertheit der personalen Existenz von zweitrangiger Bedeutung. Hilfreich am Begrif der Haltung ist zudem der Umstand, dass er nicht losgelöst von der Dimension des Stils, der Art und Weise der personalen Vollzüge funktioniert – es kommt bei Haltungen immer auch auf das Wie des Sich-zur-Welt-Stellens an, und nicht einzig auf die nackten Inhalte ihrer Einstellungen oder Absichten. Genau das ist ein wichtiges Charakteristikum sowohl der Emotionen als auch der menschlichen Handlungen, sofern man sie behutsam genug speziiziert. Neben dem Enaktivismus, dessen Ausarbeitungen meist auf vergleichsweise einfache Vollzüge der Lebensbewältigung beschränkt bleiben, gibt es noch andere Spielarten eines handlungsorientierten Emotionsverständnisses. Klassisch und nach wie vor einschlägig ist die heorie des Psychologen Nico Frijda, der Emotionen als gefühlte Handlungstendenzen bestimmt (Frijda 1986). In der Sozialpsychologie und bei Vertretern evolutionsbiologisch orientierter Ansätze sind Emotionen nicht nur als primäre Formen der Umweltbewältigung, sondern auch als Formen sozial-kommunikativer Verhaltensweisen beschrieben worden (vgl. Griiths/Scarantino 2009; Parkinson/Fischer/ Manstead 2005). Emotionen sind nicht nur primär auf ihre intentionalen Objekte bezogen, sondern auch lateral auf den sozialen Kontext: Ein hetiger Wutausbruch lößt den Personen in der Umgebung Furcht ein und fungiert insofern als soziale Machtdemonstration; Scham und Vermeidungsverhalten signalisieren den Mächtigeren Unterwürigkeit, während ofensives Furchtverhalten eine kommunikative Signalfunktion erfüllt – als gut sichtbare Warnung vor einer nahenden Gefahr. Emotionen spielen insofern immer auch auf der Klaviatur der jeweils maßgeblichen Sozialordnung. Fazit und Ausblick Emotionen und afektive Einstellungen sind ausgezeichnete Kandidaten, um in rationalisierende Handlungserklärungen einzugehen. Krat ihrer inten- XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 192 III Grundlagen tionalen Gehalte liefern Emotionen Handlungsgründe und tragen insofern zur rationalen Rechtfertigung von Handlungen bei. Krat ihrer afektiven Natur wirken sie motivierend, und da die rationale und die afektiv-motivationale Dimension einer Emotion nicht trennbar sind, sondern bloß unterschiedliche Aspekte desselben Vollzugsgeschehens bezeichnen, handelt es sich um eine Form der rationalen Motivation. Zudem lässt sich zwischen dem motivationalen Wirken der Emotion und dem Beginn des Handlungsvollzugs selbst ot nicht trennen, so dass die emotionale Erfahrung und der Beginn des durch die Emotion rationalisierten und motivierten Handelns in vielen Fällen in eins fallen. Emotion und Handlung gehen dann ebenso nahtlos ineinander über, wie innerhalb einer Emotion rationalisierende und motivierende Faktoren innig verschmolzen sind. Das verdeutlicht, dass und wie die grundlegenden personalen Dimensionen ›Handeln‹ und ›Fühlen‹ miteinander verwoben sind. Das eine kann letztlich nur um den Preis von Verzerrungen und Einseitigkeiten ohne das andere thematisiert werden. Diese Verwobenheit lässt sich auch noch aus einer anderen Richtung verdeutlichen. Sowohl einzelne Handlungen als auch einzelne Emotionen sind keine isolierten Sequenzen, sondern ihrerseits Teilmomente einer umfassenden personalen Perspektive bzw. eines aktiven personalen Selbstverständnisses. Die intentionalen Gehalte der Emotionen sind vielfältig und vor allem konstitutiv verwoben mit einem Hintergrund an Einstellungen, Überzeugungen, Projekten und Anliegen, Geneigtheiten, Verständnissen, Deutungen und Fehldeutungen, Einsichten und Vorurteilen, Üblichkeiten und Extravaganzen – in der je speziischen Gestalt eines individuellen Selbstverständnisses (Hartmann 2009 mit Bezug auf Taylor 1985; vgl. auch Slaby 2008). Und selbst diese weitreichende Einbettung der einzelnen intentionalen Episoden in ein individuelles Selbstverständnis ist noch nicht das letzte Wort. Individuelle Selbstverständnisse sind ihrerseits konstitutiv eingelassen in den Verständnisrahmen einer Kultur in einer jeweiligen historischen Epoche. Dies gilt in einem grundlegenden Sinn sowohl für die paradigmatischen Inhalte intentionaler Verhaltungen, als auch für die Vollzugsformen und Prozessmodi des Erfahrens, Fühlens, Denkens und Handelns, da diese ihrerseits auf einen von kulturellen Mustern, Ordnungen, herrschenden Stilen, den Anforderungen zentraler Institutionen, maßgebender Praktiken und sozio-ökonomischer Konstellationen geprägt sind und sich vermutlich auch nur in Austausch und Interaktion mit den soziokulturellen Praktiken und Interaktionsmus- tern überhaupt stabilisieren lassen (Rorty 2004; vgl. Scheer 2012). Das bedeutet, dass isolierte Handlungsbestimmungen und Erklärungen, die in wenigen Sätzen den vermeintlichen Primärgrund einer Handlung angeben, jeweils nur einen kruden Auszug aus einem umfassenden Geschehen herausgreifen. De facto steht eine umfassende Vorgeschichte aus Einstellungen, Geneigtheiten, Denkmustern und Dispositionen im Hintergrund und ebenso ein konkreter praktisch-normativer Kontext, der individuelle Verhaltungen situativ rahmt und stabilisiert (Beispiele für solche praktischnormativen Kontexte: das Militär, die Schule bzw. das Bildungssystem, eine Partei, ein Arbeitsumfeld im Rahmen eines herrschenden Wirtschatssystems, eine wissenschatliche Disziplin, ein handwerkliche Zunt, etc.). Nur mit hinreichend informiertem Bezug auf diesen Hintergrund, auf die umfassende diachrone und synchrone Einbettung, lassen sich einzelne intentionale Gehalte und somit einzelne personale Vollzüge einigermaßen adäquat individuieren und hinsichtlich ihrer speziischen Vollzugsweisen verständlich machen. So wird auch nachvollziehbar, warum verschiedene Personen unter äußerlichen und ›innerlich‹ vermeintlich identischen Umständen mitunter sehr unterschiedlich fühlen, denken und handeln. Es sind umfassende kultur- und epochenspeziische Selbstverständnisse – gelebte Weltsichten, mit all ihren Idiosynkrasien, Konfusionen, dunklen Provinzen – die im Hintergrund stehen, wenn es darum geht, emotionale Weltbezüge zu speziizieren und Handlungen rational zu erklären. Abkürzende Zugrife sind natürlich möglich und können im Rahmen provisorischer Rechtfertigungs- und Erklärungsbestrebungen ihren Zweck erfüllen. Aber wir dürfen nicht überrascht sein, wenn wir mit diesen groben Charakterisierungen in den interessanteren Fällen nicht sonderlich weit kommen. Das Feld der Emotionen ist einer jener Bereiche, in denen sich die immense Komplexität, die profunde Kultur-, Zeit- und Bereichsgebundenheit sowie der zutiefst intersubjektive Charakter personaler Vermögen besonders deutlich zeigen. Somit eignen sich heorien der Emotionen gut als Instanz der Komplexitätserhöhung, wenn es darum geht, die Vielfalt des menschlichen Handelns unverkürzt in den Blick zu bringen. Literatur Colombetti, Giovanna: he Feeling Body. Afective Science Meets the Enactive Mind. Cambridge, Mass. 2013. Colombetti, Giovanna/hompson, Evan: he Feeling Body: XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016 21 Praktisches Wissen Toward an enactive Approach to Emotion. In: Willis F. Overton/Ulrich Mueller/Judith L. Newman (Hg.): Developmental Perspectives on Embodiment and Consciousness. New York 2008, 45–68. Deonna, Julien A./Teroni, Fabrice: he Emotions. A Philosophical Introduction. New York 2012. Döring, Sabine A.: Seeing What to do: Afective Perception and Rational Motivation. In: Dialectica 61/3 (2007), 364– 394. Döring, Sabine A.: Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 2009. Frijda, Nico: he Emotions. Cambridge 1986. Goldie, Peter: he Emotions. A Philosophical Exploration. Oxford 2000. Griiths, Paul E./Scarantino, Andrea: Emotions in the Wild. In: Philip Robbins/Murat Aydede (Hg.): he Cambridge Handbook of Situated Cognition. Cambridge 2008, 437– 453. Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaten sie erklären. Frankfurt a. M. 22009. Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 1986. Helm, Bennett W.: Emotional Reason. Deliberation, Motivation, and the Nature of Value. Cambridge 2001. Kenny, Anthony: Action, Emotion, and Will. London 1963. Lyons, William: Emotion. Cambridge 1980. Nussbaum, Martha C.: Upheavals of hought. he Intelligence of Emotions. Cambridge 2001. Parkinson, Brian/Fischer, Agneta H./Manstead, Antony S. R. (Hg.): Emotion in Social Relations. Cultural, Group, and Interpersonal Processes. New York 2005. Roberts, Robert C.: Emotions. An Essay in Aid of Moral Psychology. Cambridge 2003. Rorty, Amelie Oksenberg: Mind in Action. Essays in Philosophy of Mind. Boston, Mass. 1988. Rorty, Amelie Oksenberg: Enough Already with »heories of Emotion«. In: Robert C. Solomon (Hg.): hinking about Feeling. Contemporary Philosophers on Emotions. Oxford 2004, 269–278. Scheer, Monique: Are Emotions a Kind of Practice? In: History and heory 51 (2012), 193–220. Slaby, Jan: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Afetivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität. Paderborn 2008. Slaby, Jan/Stephan, Achim/Walter, Henrik/Walter, Sven (Hg.): Afektive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion der menschlichen Gefühle. Paderborn 2011. Slaby, Jan/Wüschner, Philipp: Emotion and Agency. In: Sabine Roeser/Cain Todd (Hg.): Emotion and Value. Oxford 2014, 212–228. Smith, Michael: he Moral Problem. Oxford 1994. Solomon, Robert C.: he Passions. Emotions and the Meaning of Life [1976]. Indianapolis 1993. Taylor, Charles: Self-interpreting Animals. In: Ders.: Human Agency and Language. Philosophical Papers, Bd. I. Cambridge 1985, 45–76. Jan Slaby 193 21 Praktisches Wissen Diskussionen um praktisches Wissen Die Vorstellung, dass Menschen neben theoretischem oder kontemplativem Wissen auch über eine Vielfalt von praktischem Wissen verfügen, reicht bis in die Antike zurück und spielt in zahlreichen philosophischen Teilgebieten eine bedeutende Rolle. Zum einen wird ein solches praktisches Wissen weithin als ein speziisches Selbstwissen Handelnder aufgefasst. Dies drückt sich in der im Alltag und in der Philosophie verbreiteten Überzeugung aus, dass menschliches Handeln in einem wesentlichen Sinne mit Wissen einhergeht. Wir gehen davon aus, dass eine Person, die etwas absichtlich tut, weiß, was sie tut. Zum anderen schreiben wir Personen in vielfältigen Situationen ein praktisches Wissen in Form eines ›Wissen-wie‹ (knowing how) zu. Ein solches Wissen ist eng an praktische Fertigkeiten, etwa an das Fahrradfahren, Klavierspielen oder Bruchrechnen, gebunden und unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von theoretischem Wissen. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts sind diese beiden Vorstellungen des praktischen Wissens Gegenstand zweier intensiver und kontroverser Debatten: In der ersten geht es um die Frage, welche speziischen Merkmale dem Wissen zukommen, welches Handelnde von ihren Handlungen haben. Wichtigster Bezugspunkt dieser Debatte ist Elizabeth Anscombes Konzeption des praktischen Wissens. Die zweite Debatte wurde in der Erkenntnistheorie insbesondere durch die Zurückweisung von Gilbert Ryles Unterscheidung zwischen ›Wissen-wie‹ als Disposition oder Fähigkeit und ›Wissen-dass‹ als Faktenwissen angestoßen. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, ob sich ein solches Wissen-wie auf propositionales Wissen reduzieren lässt. Praktisches Wissen als ein Selbstwissen Handelnder Anscombe über praktisches Wissen Anscombe führt ihr Konzept des praktischen Wissens in ihrer Monographie Intention (1957) ein und weist diesem eine Schlüsselfunktion für die Charakterisierung absichtlichen Handelns zu. Die Reichweite praktischen Wissens ist ihr zufolge nicht auf speziische Fertigkeiten beschränkt. Vielmehr versteht sie praktisches Wissen als eine Form von Selbstwissen, die Handelnde im Allgemeinen über ihre Handlungen haben. XHUB Print-Worklow | Metzler Verlag - Fr. Wachsmann | Kühler - Handbuch Handlungstheorie | 03.08.2016








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