20 Emotionen
20 Emotionen
In den letzten Jahrzehnten hat es ein verstärktes Bemühen darum gegeben, Emotionen als zentrale Dimension der menschlichen Existenz philosophisch zu
verstehen, ihre Vollzugsformen zu beschreiben und
sie zu zentralen Fragen der Philosophie in Beziehung
zu setzen – etwa zu hemen der Ethik (moralische
Motivation und Realität von Werten), der Epistemologie (axiologische Erkenntnis), der Philosophie des
Geistes (afektive Intentionalität) und der heorie der
Person (Emotionen und praktisches Selbstverständnis). Zeichnet man die theoretische Entwicklung in
der Philosophie der Emotionen über die letzten Jahrzehnte nach, so kristallisiert sich ein für die Handlungstheorie interessantes Bild heraus: Fühlen und
Handeln sind sich in der philosophischen heorie mit
der Zeit immer näher gekommen. Das geht so weit,
dass Emotionen heute mitunter unmittelbar als Handlungen verstanden werden. Insofern bietet es sich für
die Zwecke dieses Beitrages an, Emotionen vor allem
unter dem Blickwinkel ihrer Nähe zu Verständnissen
des menschlichen Handelns zu betrachten.
Zunächst geht es daher um die Grundidee der kognitiven Emotionstheorie, die ab den 1960er Jahren
für das erneute philosophische Interesse an den Emotionen maßgeblich wurde. Anschließend wird die
Weiterentwicklung des Kognitivismus zu Positionen,
welche die afektiven und leiblichen Dimensionen des
Emotionalen in ein kognitives Emotionsverständnis
integrieren betrachtet, ehe kurz jüngere Ansätze
handlungsorientierter Emotionstheorien beleuchtet
werden, insbesondere der Enaktivismus. Für die philosophische Handlungstheorie relevant ist vor allem
der allmähliche Wandel im Verständnis von Emotionen von mentalen Handlungs-Antezedenzien zu unmittelbaren Handlungsvollzügen. Daneben rückt aber
auch die Rolle der Emotionen für den umfassenden
›Hintergrund‹ von Handlungserklärungen insgesamt
in den Blick. In dieser Perspektive zeigt sich, dass speziische Handlungsgründe und motivationale Faktoren auf einen größeren Kontext eines Gelechts aus
Einstellungen, Charakterzügen, Habitualitäten verweisen. Menschliche Emotionen können nur dann als
valide Erklärungsfaktoren für Handlungserklärungen
herangezogen werden, wenn man sie als Teilmomente
eines solchen umfassenden personalen Selbstverständnisses bzw. einer praktischen Perspektive auf die
Welt versteht (vgl. Hartmann 2009; Rorty 2004; Slaby
2008). Von hier aus öfnet sich das Feld sowohl der
Emotions- als auch der Handlungstheorie in den Be-
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reich umfassender Explikationen des menschlichen
Selbstverständnisses.
Das Folgende kann nicht mehr sein als ein selektiver Zugrif auf ein verzweigtes Forschungsfeld (zur
Übersicht: Deonna/Teroni 2012; Döring 2009; Hartmann 2009). Ich beschränke mich weitgehend auf Positionen, die dem emotionsphilosophischen Mainstream zuzurechnen sind. Hier wurde erst in den letzten Jahren wieder verstärkt an ältere Einsichten der
Phänomenologie, etwa an Überlegungen Schelers,
Heideggers, Sartres oder Merleau-Pontys angeschlossen. Insofern ließe sich die Geschichte emotionsphilosophischer Positionen im 20. Jahrhundert auch anders herum erzählen: ein handlungsorientiertes Verständnis der menschlichen Emotionen, das ich hier als
Endpunkt einer theoretischen Entwicklung darstelle,
kann mit gleichem Recht als ein bereits vor längerer
Zeit erreichter Forschungsstand betrachtet werden,
der im Zuge wechselnder philosophischer Moden ins
Abseits geriet, ehe er nun erneut erarbeitet wird. In einem Exkurs werde ich daher auf Heideggers Verständnis von ›Verstehen‹ und ›Beindlichkeit‹ eingehen und verdeutlichen, dass es in einigen Punkten
mit heute virulenten Aufassungen des Zusammenhangs von Fühlen und Handeln übereinkommt und
somit helfen kann, einige bedeutende Einsichten zu
gewinnen.
Ausgangspunkt Kognitivismus
Was sind Emotionen? Es handelt sich dabei um eine
Untergruppe jener Phänomene, die mit dem breiten
alltagssprachlichen Ausdruck ›Gefühl‹ bezeichnet
werden. Als Emotionen werden in der Philosophie gerichtete, d. h. speziisch auf Objekte, Personen oder Situationsaspekte bezogene Gefühle bzw. afektive Episoden genannt, die sich unter (jeweils in einem Kulturraum auf eine bestimmte Weise etablierte) Kategorien wie Furcht, Freude, Trauer, Ärger, Stolz, Scham,
Eifersucht, Neid und dergleichen gruppieren lassen.
Diese kategoriale Formierung zu einer Vielzahl von
sprachlich unterscheidbaren Emotionstypen liefert einen wichtigen Anhalt für die philosophische heoretisierung von Emotionen. Es kann sich bei den so
benannten Episoden nicht einfach um unspeziische
physiologische Erregungen und auch nicht um bloße
qualitative Empindungen – bloße feelings – handeln,
denn dann wäre nicht ersichtlich, aufgrund welcher
im Phänomen selbst liegenden Kriterien sich die zahlreichen Emotionstypen voneinander unterscheiden
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lassen. Man spricht diesbezüglich vom Problem der
Individuation (vgl. Slaby 2008; Deonna/Teroni 2012,
Kap. 3–4). Es gibt ofenbar robuste inhaltliche Kriterien, anhand derer wir zielsicher Furcht von Zorn,
Stolz von Neid oder Trauer von Eifersucht unterscheiden. Bei diesen Kriterien – und das ist die zentrale
Einsicht der kognitiven heorien – muss es sich um
die unterschiedlichen Weisen handeln, in denen sich
Emotionen jeweils konkret und in einer bestimmten
Hinsicht auf die Welt beziehen. Wer sich fürchtet, bezieht sich afektiv auf eine Gefahr; wer trauert, ist affektiv auf einen schmerzlichen Verlust orientiert; wer
sich ärgert, bezieht sich afektiv auf eine vermeidbare
Schädigung; wer jemanden beneidet, ist afektiv auf
ein Gut im Besitz eines Anderen fokussiert, usw. Ob
sich Furcht auch auf charakteristische Weise anfühlt,
ob Ärger mit bestimmten Formen körperlicher Erregung einhergeht, ob sich bei Trauer gewisse wiederkehrende Muster von Hirnaktivität messen lassen – all
das ist zunächst nebensächlich angesichts des zentralen Aspekts, dass Emotionen Formen des evaluativen
Weltbezugs sind, die sich hinsichtlich ihrer evaluativen Gehalte – technisch gesprochen: hinsichtlich ihrer
formalen Objekte – präzise diferenzieren lassen (vgl.
Kenny 1963). Die kognitiven heorien haben diese
Einsicht ausbuchstabiert, indem sie diese kognitive
Dimension – die evaluativen intentionalen Gehalte der
kategorial unterscheidbaren Emotionstypen – zur
maßgeblichen Bestimmungsgröße der Emotionen erklärt haben.
Die verschiedenen Spielarten der kognitiven heorie unterscheiden sich dann vor allem darin, wie dieser intentionale Kern einer emotionalen Episode präziser gefasst wird. Als Kandidaten kommen Überzeugungen, Urteile oder Wahrnehmungen in Frage, auch
ist die Kombination von Überzeugungen und Wünschen vorgeschlagen worden. Als besonders einlussreich hat sich die Urteilstheorie der Emotionen erwiesen: Bei Emotionen handele es sich um emphatisch
gefällte Werturteile, die sich auf existenziell bedeutsame Angelegenheiten beziehen (Lyons 1980; Solomon 1993; Nussbaum 2001). So wäre meine Furcht
mein Urteil, dass ich mich in akuter Gefahr beinde;
meine Trauer wäre mein Urteil, dass ich einen unwiederbringlichen Verlust erlitten habe; mein Ärger mein
Urteil, dass mich jemand absichtlich geschädigt hat,
usw.
Diese kruden Formulierungen zeigen an, dass der
Kognitivismus eine Extremposition ist. Seine Vertreter legen nicht viel Wert auf Phänomenbeschreibungen. Vielmehr handelt es sich um einen theoretisch
motivierten Ansatz, der ein spezielles Erklärungsziel
verfolgt, eben die Ausbuchstabierung der Einsicht,
dass die bekannten Emotionstypen durch die Speziizierung ihrer formalen Objekte individuiert werden.
Dieses Unterfangen ist vor allem durch das Ziel der
Abgrenzung gegen einlussreiche Gegenpositionen
motiviert: insbesondere gegen physiologisch orientierte Empindungstheorien, wie sie in der Nachfolge
William James vor allem einige Psychologen und Physiologen vertreten haben, außerdem gegen die dezidiert non-kognitivistische Position des Emotivismus
in der Ethik. Diese Gegenpole zum Kognitivismus haben gemeinsam, dass sie Emotionen als lediglich qualitative Gefühlszustände (feelings) ohne intentionalen
Gehalt verstehen. Emotionen sind nach dieser Aufassung arationale Regungen, die ihre Träger aufgrund
einer qualitativen Lust- oder Unlust-Komponente auf
rein subjektive Weise zu Handlungen tendieren lassen
oder zur Annahme von Einstellungen geneigt machen. Rationale Kritik, Anfechtungen dieser Geneigtund Motiviertheiten im Lichte von Gründen, wären
somit zwecklos. Die gleichwohl weit verbreitete Praxis, uns wechselseitig für situativ unangemessene
Emotionen zu kritisieren und auf unser Fühlen mit
vernüntigen Gründen einzuwirken, müsste somit als
ein de facto außerrationales Beeinlussungsgeschehen
– nach Art der Androhung von Strafe oder dem Locken mit Belohnung – revisionär neu beschrieben
werden.
Mit dieser knappen Skizze der wichtigsten theoretischen Konliktlinie um 1960 ist die Relevanz für die
Handlungstheorie bereits angezeigt. Der emotionstheoretische Kognitivismus weckt Zweifel an der von
Hume stark gemachten und von Neo-Humeanern bis
heute vertretenen strikten Trennung zwischen kognitiven und non-kognitiven Komponenten unter den
Handlungsantezedenzien (vgl. Smith 1994, Kap. 1; s.
auch Kap. III.B.3). Humes Standardaufassung der
Handlungserklärung, das klassische belief/desire-Modell, trennt zwischen einer rationalen Überzeugungskomponente und einer arationalen Motivationskomponente (Wunsch, Neigung, Pro-Einstellung oder
ähnliches), wobei, wie es scheint, die Emotionen gemeinsam mit Wünschen, sinnlichen Regungen, Trieben und Impulsen auf die Seite der ›blinden Antreiber‹ (Robert Musil) geschlagen werden. Im Kognitivismus ändert sich dieses Bild. Wenn Emotionen
selbst kognitive Zustände sind und als solche der rationalen Kritisierbarkeit unterliegen, dann zeichnet
sich eine Aufweichung der dichotomischen Auteilung zwischen rationalisierender aber motivational
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inerter Erkenntnis einerseits und arationaler aber affektiv-antreibender Motivation andererseits ab.
Allerdings ist dieser Stand in den frühen Versionen
des Kognitivismus noch nicht erreicht. Vielmehr
kommt es zunächst zu einer schlichten Neueinordnung der Emotionen unter Beibehaltung des Humeschen Schemas: Aufgrund ihrer kognitiven Natur gehören Emotionen auf die Seite der rationalen Handlungsantezedenzien, nicht auf jene der arationalen
Motivationen. Emotionen sind im Lichte von Gründen gefällte wertende Urteile, keine blinden, körperlich-triebhaten Impulse. Doch wie sich schon bald
nach dem Aukommen der frühen kognitivistischen
Emotionstheorien zeigen sollte, hat die Neubewertung von Emotionen im Rahmen des Kognitivismus
gewichtigere Konsequenzen für die Handlungstheorie. Es wird am Ende das Humesche Schema selber
sein, das im Lichte von Einsichten in die Natur der
Emotionen unter Druck gerät. Eine wichtige Lehre
der neueren Philosophie der Emotionen ist, dass eine
strikte Trennung zwischen kognitiven und non-kognitiven motivationalen Aspekten in der Handlungserklärung problematisch ist, weil Emotionen ein Musterbeispiel eines Zustandstyps sind, bei dem sich nicht
mehr sauber zwischen kognitiven und konativen ›Anteilen‹ unterscheiden lässt.
Theorien der affektiven Intentionalität
Bevor wir uns dieser potenziellen Umjustierung
grundlegender Parameter des handlungstheoretischen Denkens im Detail zuwenden, ist zunächst die
zweite Phase der heorieentwicklung in der Philosophie der Emotionen seit den 1960er Jahren zu betrachten. Hier erst wird sich jene Konstellation ergeben, mit der sich die Bedeutung der Emotionen für
die Handlungstheorie umfassend ermessen lässt.
Auch wenn die Kerneinsicht des Kognitivismus alternativlos scheint, lassen die frühen Fassungen der
kognitiven heorien vieles zu wünschen übrig. Wenn
Emotionen tatsächlich nichts anderes als Urteile wären, was unterschiede sie dann noch von nicht-emotionalen, ohne afektive Beteiligung gefällten Urteilen? Während Urteile und Überzeugungen im Lichte
besseren Wissens normalerweise aufgegeben werden,
tendieren Emotionen dazu, auch im Angesicht konträrer Evidenzen bestehen zu bleiben – meine Furcht
vor dem Abgrund hält an, auch wenn ich einsehe, dass
mich ein robustes Geländer vor dem Absturz bewahrt.
Man muss hier nicht auf den pathologischen Sonder-
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fällen wie Flugangst und Spinnenphobien herum reiten, um anzuerkennen, das Emotionen häuig eine kognitive Trägheit aufweisen, die gewöhnlichen Urteilen
und Überzeugungen nicht zukommt (vgl. Döring
2007, 380 f.). Zudem lässt sich bereits auf Basis der intuitiven Phänomenologie des emotionalen Erlebens
ein Einwand gegen den Kognitivismus formulieren:
Ist es wirklich plausibel, jedwede körperliche Erregung,
jegliches qualitative Empinden, jegliche Intensität des
Erlebens zu belanglosem Beiwerk eines essentiell kognitiven Kernprozesses zu erklären? Kann eine Emotion wirklich ohne jegliche körperliche Dynamik, phänomenale Fühlbarkeit und dergleichen mehr ablaufen? Im Lichte dieser und ähnlicher Einwände erscheinen die frühen kognitiven heorien als
›Kopfgeburt‹ – als einseitige Fixierung auf etwas, das
bei all seiner Relevanz bestenfalls einen Teilaspekt des
emotionalen Geschehens ausmachen kann (vgl.
Deonna/Teroni 2012, Kap. 5).
Damit ist die Aufgabe für eine Weiterentwicklung
des Kognitivismus umrissen. Jene Merkmale von
Emotionen, die nicht auf Anhieb als kognitiv verstanden werden können, die aber dennoch grundlegend
für die emotionale Erfahrung zu sein scheinen, müssen so in den Ansatz integriert werden, dass die zentrale Einsicht des Kognitivismus nicht verloren geht.
Nun gab es im Umkreis der frühen kognitiven
heorien immer schon Versuche, sämtliche prima facie relevanten Eigenschaten von Emotionen zu berücksichtigen – im Rahmen so genannter Mehr-Komponenten-heorien (z. B. Lyons 1980). Hier wurden
Emotionen schlicht zu Syndromen aus separaten Teilaspekten oder Teilprozessen erklärt: im Kern steht
weiterhin die Überzeugungs- bzw. Urteilskomponente, daneben werden als weitere Komponenten etwa
hedonische Empindungen, körperliche Veränderungen, Handlungstendenzen und ähnliches mehr postuliert. Doch dieser Ansatz hilt nicht wirklich weiter.
Das Problem ist, dass die kognitive Komponente, die
ja nach wie vor die kriteriale Essenz eines Emotionstyps ausmachen soll, sich weiterhin nicht von solchen
kognitiven Zuständen unterscheidet, die ohne emotionale Beteiligung ablaufen. Der emotionale Kernprozess weist auch in dieser Multi-KomponentenSichtweise nichts auf, das ihn von einem nüchtern gefällten Urteil unterscheidet (vgl. Helm 2001, 38–42).
Somit bleibt der zentrale Einwand gegen den frühen
Kognitivismus bestehen. Der Multi-KomponentenAnsatz erscheint aber auch aus einer breiteren theoretischen Perspektive als unbefriedigend: Emotionen
werden gegen alle Evidenz weiterhin in das etablierte
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belief/desire-Modell des Geistes gezwängt, dem dann
lediglich einige nicht-intentionale Empindungen und
körperliche Aufwallungen als deskriptiver Zusatz beigesellt werden – Peter Goldie spricht despektierlich
von einem add-on view der Emotionen (Goldie 2000,
Kap. 3). Die starken vortheoretischen Intuitionen, wonach wir es bei der emotionalen Erfahrung mit einer
eigenständigen Dimension unserer Existenz zu tun
haben – mit einem Erfahrungsbereich sui generis –
hängen weiterhin in der Lut.
Damit ist der nächste heorieschritt vorgezeichnet:
Zu zeigen ist, dass die Intentionalität der Emotionen
und das leiblich gespürte, mit Erregung, Intensität und
upheaval einhergehende hedonische Empinden in der
emotionalen Erfahrung eine unaulösliche Einheit bilden. Eine Emotion liegt dann vor, wenn wir einen evaluativen intentionalen Gehalt nicht lediglich, wie bei einem nicht-emotionalen Urteil, neutral airmieren,
sondern unmittelbar afektiv erleben. So fürchten wir
eine Gefahr nicht schon dann, wenn wir ihr Bestehen
lediglich konstatieren, sondern erst dann, wenn sie uns
spürbar aiziert, d. h. wenn uns die Gefahr unmittelbar
an- und nahe geht. Die für Trauer charakteristische Erfahrung eines Verlustes wird nicht von einem unangenehmen Empinden begleitet sondern ist selbst ein solches afektives Empinden – es ist der Verlust der geliebten Person, ihr nun unwiederbringliches Fehlen,
der uns schmerzlich nahe geht. Wir fühlen den Verlust
selbst – und nicht bloß physiologische Begleitefekte eines den Verlust airmierenden Urteils.
Peter Goldie prägt in diesem Zusammenhang den
Ausdruck »feeling towards« – gemeint ist ein intentionales Empinden (Goldie 2000, Kap. 2; locus classicus
dafür ist die Gefühlstheorie Max Schelers). Robert C.
Roberts erläutert das damit Gemeinte informativer als
afect-imbued concern-based construal: eine im Lichte
eines unserer Anliegen erfolgende Aufassung von etwas (Roberts 2003). Bennett Helm schlägt mit seinem
Konzept der felt evaluations in dieselbe Kerbe – im
Falle der Trauer handelt es sich für Helm um ein
schmerzhates Gewahren des Verlustes, was als eine unmittelbar im Empinden liegende Bewertung einer für
die fühlende Person bedeutsamen Begebenheit zu verstehen ist (vgl. Helm 2001). Nach Helm bestehen
Emotionen aus systematisch verknüpten Mustern
von intentionalen pleasures and pains – d. h. lust- oder
unlustvolle Erfahrungen von etwas konkret für den
Fühlenden Bedeutsamen. Auch Sabine Döring (2007)
verortet sich in diesem Lager, wenn sie Emotionen als
»afektive Wahrnehmungen« betrachtet und damit die
Unaulöslichkeit von Afekt und Gehalt, von Phäno-
menalität und Intentionalität der Emotionen betont,
insofern bei Wahrnehmungen intentionaler Gehalt
und phänomenaler Aspekt nicht trennbar sind (zur
Kritik an der Wahrnehmungsthese vgl. Deonna/Teroni 2012, Kap. 6). Mit Blick auf all diese Konzeptionen
und ungeachtet der Diferenzen im Detail ist die Rede
von einer speziisch afektiven Intentionalität angebracht. Der in den Emotionen liegende Welt- und
Selbstbezug ist von grundlegend anderer Art als derjenige, welcher sich in nicht-afektiven Überzeugungen,
Urteilen und, falls es sie denn gibt, in nicht-afektiven
Erfahrungen, manifestiert. Wir haben es mit einem
Intentionalitätstypus sui generis zu tun (vgl. Slaby
2008 sowie die Beiträge in Slaby et al. 2011).
Implikationen für die Handlungstheorie
Es ist höchste Zeit, nun die handlungstheoretischen
Implikationen dieser Sichtweise zu skizzieren. Am
deutlichsten hat Döring ihre Emotionstheorie auf eine
handlungstheoretische Kerneinsicht zugeschnitten,
daher sind die folgenden Ausführungen vor allem an
ihrem Ansatz orientiert. Döring zufolge durchschlagen
Emotionen aufgrund ihrer intentional-afektiven Doppelnatur den gordischen Knoten der handlungstheoretischen Standardaufassung des belief/desire-Modells.
Das Kardinalproblem in dieser klassischen Sichtweise
liegt kurz gesagt darin, dass Überzeugungen nicht motivieren, während Wünsche nicht rationalisieren, wir
aber beides benötigen, wenn wir den starken Intuitionen des Internalismus bezüglich praktischer Gründe
Rechnung tragen wollen (vgl. Döring 2007, 367–369).
Im Standardmodell klafen die Einsicht in das, was in
einer gegebenen Situation zu tun ist, und das tatsächliche Motiviertsein, dieser Einsicht entsprechend zu
handeln, unweigerlich auseinander. Michael Smith
spricht vom »Problem der Moral«, das er in Form eines
Trilemmas formuliert (vgl. Smith 1994, 12; zum Problem der Moral s. auch Kap. V. A.6): Moralische Urteile
drücken Überzeugungen darüber aus, was objektiv der
Fall ist (Objektivismus). 2) Wer urteilt, dass eine Handlung moralisch geboten ist, ist krat dessen auch motiviert, diese Handlung zu vollziehen (Internalismus). 3)
Eine Handlungsmotivation besteht aus einem entsprechenden Wunsch sowie einer instrumentellen Überzeugung darüber, wie sich der Wunsch verwirklichen
lässt, wobei Überzeugung und Wunsch strikt getrennte
mentale Vorkommnisse sind (Humeanismus). Diese
drei Sätze können nicht zugleich wahr sein. Falls Satz 1)
wahr ist, wovon Smith ausgeht, müssten unsere mora-
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lischen Urteile als kognitive Zustände gedeutet werden,
könnten dann aber aufgrund von Satz 3) nicht motivational wirksam sein (weil Urteile bzw. Überzeugungen
keine motivationale Krat haben), also kann Satz 2)
nicht stimmen. Die Erkenntnis des moralisch Richtigen wäre durch eine Klut getrennt von der Motivation,
im Sinne dieser Einsicht moralisch zu handeln (Smith
1994; vgl. Döring 2007).
Dörings Lösung, die ich hier nur stark verkürzt
wiedergeben kann, basiert auf der eben skizzierten
Konzeption einer genuin afektiven Intentionalität,
die sie als grundlegende Alternative zum Humeschen
belief/desire-Modell in Stellung bringt. Als rational
evaluierbare intentionale Zustände, die als solche aufgrund ihrer afektiven Natur unmittelbar motivational
wirksam sind, handelt es sich bei Emotionen um Ausübungen von praktischer Vernunt – um ein rationales
Erfassen des situativ Bedeutsamen. Zugleich aber sind
Emotionen unmittelbar motivational wirksam – nicht
etwa, weil sie ›blind antreiben‹ wie arationale Wünsche, sondern weil ihre afektive Dimension ein intentionales Empinden ist. Emotionen lassen uns das in
einer Situation evaluativ Relevante fühlend erfassen,
d. h. wir erfahren eine Situation unmittelbar im Lichte
unserer genuinen Anliegen und Bestrebungen. Das ist
laut Döring gleichbedeutend damit, dass uns Emotionen zum entsprechenden situativ rationalen Handeln
motivieren. Afektive Intentionalität ist motivational
wirksame Intentionalität. Durch sie wird die fühlende
Person zu solchen Eingrifen in das situative Geschehen motiviert, die nach Maßgabe des im Fühlen als
Bedeutsam Erfassten angemessen sind. Das emotionale Erfassen des Bedeutsamen und die motivationale
Krat, die von einem afektiven Zustand ausgeht, sind
somit nicht das jeweilige Werk separater Komponenten, sondern erfolgen aus ein und derselben Quelle.
Für Döring sind Emotionen als afektive Repräsentationen des situativ Bedeutsamen untrennbar sowohl
evaluativ-erschließend als auch rational motivierend.
Abweichend von Döring lässt sich dieser Zusammenhang auch im Sinne des Realismus deuten: Das bedeutsame Objekt selbst wirkt, vermittelt über seine affektive Erfassung, sowohl rationalisierend als auch
motivierend (bei Döring ist es dagegen ausdrücklich
der mentale Zustand, die afektive Wahrnehmung, die
motiviert und – vermittelt über darauf gründende Urteile – auch rationalisiert; vgl. Döring 2007). So oder
so kann die heorie der afektiven Intentionalität der
Moraltheorie einen wichtigen Dienst erweisen, indem
sie einen Schlüssel zur Lösung des besagten Problems
der Moral liefert. Emotionen fundieren Ausübungen
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praktischer Vernunt, insofern sie als afektive Wahrnehmungen bzw. als afektives Ofensein zur Welt evaluative – bzw. in diesem Fall: moralische – Urteile
rechtfertigen. Diese emotionsbasierten Urteile haben
motivierende Krat, weil ihre Inhalte in den Anliegen
der fühlenden Person gründen und insofern genuin
afektive Inhalte sind. Anders gesagt: Diese Urteile ›erben‹ die motivationale Krat von den afektiven Vollzügen, auf denen sie gründen. In diesen emotionsbasierten Urteilen fällt daher Rationalisierung und
Erklärung des moralischen Handelns ineins (vgl. Döring 2007, 386 f.).
Die Relevanz dieser Position für ein Verständnis
des menschlichen Handelns reicht aber natürlich über
den Bereich der Moral hinaus. Bennett Helm, dessen
Aufassung in diesem Punkt derjenigen Dörings recht
nahe kommt, konstatiert angesichts des beschriebenen Zusammenhangs, dass emotionale Inhalte das
Humesche Dogma einer strikten Trennung von kognitiven und konativen Zuständen – die so genannte
cognitive-conative divide – insgesamt obsolet machen
(Helm 2001, 4 f.). Emotionen lassen diese klassische
Trennung als artiiziell erscheinen, so dass es ratsam
erscheint, die Rede von kognitiven und konativ-motivationalen ›Anteilen‹ der Emotionen überhaupt fallen
zu lassen. Die afektive Intentionalität ist eine Form
des Weltbezugs sui generis – es handelt sich um eine
Intentionalität, die eine fühlende Person zugleich und
ineins die Welt als bedeutsam erfassen lässt und sie zu
solchen Eingrifen in das uns umgebende Geschehen
motiviert, die der afektiv erfassten Bedeutsamkeit im
Lichte der jeweiligen Anliegen und Bedürfnisse der
Person Rechnung tragen. Auch wenn sich die hier
dargestellten Konzeptionen in Detailfragen unterscheiden – etwa darin, ob die Emotionen selbst Handlungen rationalisieren oder ob sie dies, wie Döring
meint, nur vermittelt über Urteile tun – besteht Einigkeit darin, dass eine angemessene heorie der Emotionen die theoretische Landschat in der Handlungs-,
Moral- und Vernunttheorie signiikant verändert.
Exkurs zu Heidegger
Heidegger, daran sollte man an dieser Stelle erinnern,
operiert in Sein und Zeit auf der Basis einer vergleichbaren Einsicht, die anders als bei Döring konsequent
anti-repräsentationalistisch und anti-mentalistisch
orientiert ist. Heideggers in diesem Zusammenhang
zentraler Ausdruck, der ihn vor den in der Rede vom
Kognitiven, Konativen, und selbst in der von Bewusst-
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III Grundlagen
sein und Intentionalität angelegten unangemessenen
Trennungen bewahren soll, lautet Erschlossenheit. Erschlossen ist dem menschlichen Dasein all das, dem es
im Handeln (bzw. in seinem Sein) auf angemessene
Weise Rechnung tragen muss. Ich habe die Welt nicht
kognitiv im Blick oder in Form von Vorstellungen,
Ideen oder Repräsentationen ›vor dem Geist‹, so dass
es dann immer noch eine ofene Frage ist, wie ich auf
Basis dieser mentalen Gehalte zum Handeln komme.
Vielmehr bewege ich mich kompetent in der Welt,
d. h. ich agiere aus einem Verständnis heraus, das
mich die jeweilige Bedeutsamkeit des mir in der Welt
Begegnenden praktisch bewältigen lässt. Es wäre
künstlich und führte zu vergegenständlichenden Fehlbeschreibungen, würde man einen separaten Akt des
Erfassens des Bedeutsamen postulieren. Denn es liegt
im Handeln selbst, das ich dem dafür jeweils Relevanten situativ Rechnung trage. So verwendet Heidegger
insbesondere den Ausdruck ›Verstehen‹, der die primäre Vollzugsform der Erschlossenheit benennt, im
Sinne eines ›etwas Könnens‹. Darin schwingt die kognitive Bedeutung des Wortes Verstehen noch mit,
nun aber im Sinne einer in den praktischen Vollzug
eingelagerten Dimension. Zugleich ist das Verstehen
immer schon als solches afektiv fundiert, insofern
sein Vollzug jeweils einen speziischen Gefühlstonus
aufweist, der dem Agieren ein qualitatives Wie aufprägt (»Verstehen ist immer gestimmtes«; Heidegger
1927/1986, 142). Damit ist zum einen eine vorrelexive Orientiertheit auf das situativ Bedeutsame gemeint,
zum anderen ein Verwiesensein auf etablierte Bestände des Bedeutsamen, hergebrachte Routinen und Üblichkeiten, die für den jeweiligen praktischen Kontext
maßgebend sind. Die dem Verstehen als praktischer
Kompetenz eingelagerte habitualisierte Afektivität
fungiert als ein Reservoir des Bedeutsamen, des
Schicklichen, des Tradierten, wobei sich darin der Bezug auf aktuale bereichsspeziische Relevanzen mit
den individuell erworbenen Kompetenzen und Routinen vermengt, insofern diese im situativen Handlungsvollzug aktiviert werden.
Heideggers Tendenz, die auf scharfe Trennungen
von Zustandsarten ausgerichtete Terminologie der
Tradition zu revidieren und dagegen die Verwobenheit personaler Vermögen zu betonen, gibt uns einen
Fingerzeig für die nächste Entwicklungsstufe philosophischer Emotionstheorien. Es ist noch nicht das letzte Wort, wenn Emotionen in Folge der hier nachgezeichneten Einsichten als ausgezeichnete Handlungs-Antezedenzien betrachtet werden, da sie, wie gezeigt, rational motivieren. Auch diese Sichtweise
könnte noch einer übermäßig auf Zergliederung personaler Vermögen orientierten Einstellung geschuldet
sein; die Trennung zwischen Handlungen und ihren
vermeintlichen Antezedenzien könnte das Resultat einer fehlgeleiteten Ontologisierung von zu Analysezwecken eingeführten Kategorien sein. So mag uns
das Beispiel der Emotionen noch mehr lehren als das
bis hierhin Festgestellte, nämlich die Vorzüge einer
Konzeption der personalen Existenz, die eine scharfe
Trennung zwischen dem Handeln einerseits und seiner rationalisierenden und erklärenden Vorgeschichte
andererseits unterläut. Hier konvergiert die Philosophie der Emotionen mit kritisch-revisionistischen
Beiträgen zur philosophischen Handlungstheorie
(vgl. Taylor 1985; Rorty 1988).
Handlungsorientierte Emotionstheorien
Schon bei einer oberlächlichen Betrachtung fällt auf,
dass das Verhältnis von Emotionen und Handlungen
ein sehr enges sein muss. Ist Furcht wirklich trennscharf von Flucht- und Vermeidungshandlungen separierbar? Ist Scham wirklich etwas substantiell anderes als das aktive Bestreben, sich den Blicken der anderen zu entziehen? Kann man sich Zorn ganz getrennt
vom zornerfüllten Agieren, vom Trachten nach Konfrontation oder Vergeltung vorstellen? Selbst eine
›lähmende‹ Trauer geht mit einem speziischen Trauerverhalten, mit einem charakteristischen Gebaren
und Agieren einher. Auch aus der anderen Richtung
lässt sich eine enge Verbindung zwischen Fühlen und
Handeln aufzeigen. Welches Handeln ist in seinem
Vollzug gänzlich frei von begleitenden bzw. ihm innewohnenden Afekten? Zahllose Tätigkeiten gehen mit
Lust oder Frust einher und wären ohne diese afektive
Dimension nicht annährend das, als was wir sie kennen. Das menschliche Handeln wäre bei weitem nicht
so faszinierend, wenn es nicht wahlweise von Ängstlichkeit, Aggression, Liebe oder Hass geprägt wäre,
wenn es nicht zornerfüllt, liebevoll, mit Freude und
Hingabe oder aber widerwillig, missmutig oder gereizt vollzogen würde. Kurz: Das afektive Wie lässt
sich nur um den Preis großer Künstlichkeit vom aktiven Was einer Handlung trennen, während umgekehrt ein emotionales Fühlen ohne ein entsprechendes Agieren oder zumindest die starke Tendenz dazu
allenfalls einen seltenen Extremfall darstellt. Fühlen
und Handeln gehören auf das Engste zusammen.
Wie aber lassen sich diese Befunde auch theoretisch einholen? Heideggers eben skizziertes Konzept
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des beindlichen Verstehens ist ein Ansatz, der die
grundlegende Verwobenheit von Erkennen, Fühlen,
Handeln philosophisch ausbuchstabiert. Es gibt aber
auch in der gegenwärtigen Debatte der Emotionsphilosophie handlungsorientierte Positionen, beispielsweise den Ansatz des Enaktivismus, der im Umfeld
kognitionswissenschatlicher Arbeiten zur Verkörperung des Geistes entstanden ist (vgl. Colombetti
2013; Colombetti/hompson 2009). Auch hier geht es,
wie bei Heidegger, nicht um isolierte handlungs- bzw.
emotionstheoretische Überlegungen, sondern um eine allgemeine heorie des Weltbezugs von Organismen bzw. Personen. Im Enaktivismus wird das Mentale insgesamt als aktives Vollzugsgeschehen aubauend
auf grundlegenden Organismus-Umwelt-Interaktionen verstanden. Das Mentale ist in dieser Sichtweise
keine separate Struktur, sondern Teilmoment der
adaptiven, lebenserhaltenden Aktivität eines Organismus bzw. der Existenzbewältigung einer Person.
Wahrnehmung beispielsweise ist untrennbar verwoben mit Formen explorativer Aktivität, in deren
Verlauf sich erst die Konturen des Wahrgenommenen
in Form einer systematischen Kovarianz von Umweltgegebenheiten mit dynamischen Eigenschaten des
wahrnehmenden Akteurs herauskristallisieren. Die
Welt kommt entsprechend nicht zuerst als eine neutrale Ansammlung von Objekten in den Blick, sondern
primär als ein Zusammenhang von afordances, d. h.
von konkreten Handlungs- und Seinsmöglichkeiten,
die sich einem Akteur situativ bieten. Emotionen passen gut in das enaktivistische Bild, insofern sie plausibel als Sequenzen einer auf afordances bezogenen aktiven Orientiertheit verstanden werden können. Was
oben als afektive Intentionalität beschrieben wurde –
die Untrennbarkeit von intentionalem Gehalt und Gefühlsqualität – wird dann konkreter als ein aktives Erschließen des situativ Bedeutsamen erkennbar. Gemeint sind die verschiedenen Formen der afektiven Situationsbewältigung (coping): das Vermeiden oder
Vereiteln von Gefahren, das Anstreben und Aneignen
des Zuträglichen, das Bekämpfen des Verhassten, das
Geringschätzen des Verächtlichen oder das Verehren
des Bewundernswerten. Der afektive Weltbezug ist ein
aktives Erschließen, ein umfassendes Sich-zur-WeltStellen und in-der-Welt-Agieren – im Gegensatz zu einem lediglich gefühlsmäßigen ›Registrieren‹ von isolierten Werteigenschaten. Wenn es bei manchen dieser
situativen afektiven Vollzüge eher um evaluative Einstellungen (›Bewundern‹) als um manifeste Handlungen (›Flucht‹, ›Konfrontation‹) zu gehen scheint, so
sind dies graduelle Abstufungen in einem aufs Ganze
191
gesehen aktiven Weltverhältnis. Gut bringen das Begrife wie Haltung oder Verhaltung zum Ausdruck
(Merleau-Ponty spricht von comportment): es geht um
umfassende Formen eines sich zur Welt Stellens, um
aktive Orientierungen, die letztlich das gesamte bewusste Existieren einer Person umfassen (vgl. Slaby/
Wüschner 2014). Dass es dann bei oberlächlicher Betrachtung situativ mal aktiver, mal weniger aktiv zugeht, ist angesichts der grundlegenden aktiv-strebenden Orientiertheit der personalen Existenz von zweitrangiger Bedeutung. Hilfreich am Begrif der Haltung
ist zudem der Umstand, dass er nicht losgelöst von der
Dimension des Stils, der Art und Weise der personalen
Vollzüge funktioniert – es kommt bei Haltungen immer auch auf das Wie des Sich-zur-Welt-Stellens an,
und nicht einzig auf die nackten Inhalte ihrer Einstellungen oder Absichten. Genau das ist ein wichtiges
Charakteristikum sowohl der Emotionen als auch der
menschlichen Handlungen, sofern man sie behutsam
genug speziiziert.
Neben dem Enaktivismus, dessen Ausarbeitungen
meist auf vergleichsweise einfache Vollzüge der Lebensbewältigung beschränkt bleiben, gibt es noch andere Spielarten eines handlungsorientierten Emotionsverständnisses. Klassisch und nach wie vor einschlägig
ist die heorie des Psychologen Nico Frijda, der Emotionen als gefühlte Handlungstendenzen bestimmt
(Frijda 1986). In der Sozialpsychologie und bei Vertretern evolutionsbiologisch orientierter Ansätze sind
Emotionen nicht nur als primäre Formen der Umweltbewältigung, sondern auch als Formen sozial-kommunikativer Verhaltensweisen beschrieben worden
(vgl. Griiths/Scarantino 2009; Parkinson/Fischer/
Manstead 2005). Emotionen sind nicht nur primär auf
ihre intentionalen Objekte bezogen, sondern auch lateral auf den sozialen Kontext: Ein hetiger Wutausbruch
lößt den Personen in der Umgebung Furcht ein und
fungiert insofern als soziale Machtdemonstration;
Scham und Vermeidungsverhalten signalisieren den
Mächtigeren Unterwürigkeit, während ofensives
Furchtverhalten eine kommunikative Signalfunktion
erfüllt – als gut sichtbare Warnung vor einer nahenden
Gefahr. Emotionen spielen insofern immer auch auf
der Klaviatur der jeweils maßgeblichen Sozialordnung.
Fazit und Ausblick
Emotionen und afektive Einstellungen sind ausgezeichnete Kandidaten, um in rationalisierende
Handlungserklärungen einzugehen. Krat ihrer inten-
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III Grundlagen
tionalen Gehalte liefern Emotionen Handlungsgründe
und tragen insofern zur rationalen Rechtfertigung von
Handlungen bei. Krat ihrer afektiven Natur wirken sie
motivierend, und da die rationale und die afektiv-motivationale Dimension einer Emotion nicht trennbar
sind, sondern bloß unterschiedliche Aspekte desselben
Vollzugsgeschehens bezeichnen, handelt es sich um eine Form der rationalen Motivation. Zudem lässt sich
zwischen dem motivationalen Wirken der Emotion
und dem Beginn des Handlungsvollzugs selbst ot nicht
trennen, so dass die emotionale Erfahrung und der Beginn des durch die Emotion rationalisierten und motivierten Handelns in vielen Fällen in eins fallen. Emotion und Handlung gehen dann ebenso nahtlos ineinander über, wie innerhalb einer Emotion rationalisierende
und motivierende Faktoren innig verschmolzen sind.
Das verdeutlicht, dass und wie die grundlegenden personalen Dimensionen ›Handeln‹ und ›Fühlen‹ miteinander verwoben sind. Das eine kann letztlich nur
um den Preis von Verzerrungen und Einseitigkeiten
ohne das andere thematisiert werden.
Diese Verwobenheit lässt sich auch noch aus einer
anderen Richtung verdeutlichen. Sowohl einzelne
Handlungen als auch einzelne Emotionen sind keine
isolierten Sequenzen, sondern ihrerseits Teilmomente
einer umfassenden personalen Perspektive bzw. eines
aktiven personalen Selbstverständnisses. Die intentionalen Gehalte der Emotionen sind vielfältig und vor
allem konstitutiv verwoben mit einem Hintergrund an
Einstellungen, Überzeugungen, Projekten und Anliegen, Geneigtheiten, Verständnissen, Deutungen und
Fehldeutungen, Einsichten und Vorurteilen, Üblichkeiten und Extravaganzen – in der je speziischen Gestalt eines individuellen Selbstverständnisses (Hartmann 2009 mit Bezug auf Taylor 1985; vgl. auch Slaby
2008). Und selbst diese weitreichende Einbettung der
einzelnen intentionalen Episoden in ein individuelles
Selbstverständnis ist noch nicht das letzte Wort. Individuelle Selbstverständnisse sind ihrerseits konstitutiv
eingelassen in den Verständnisrahmen einer Kultur in
einer jeweiligen historischen Epoche. Dies gilt in einem grundlegenden Sinn sowohl für die paradigmatischen Inhalte intentionaler Verhaltungen, als auch für
die Vollzugsformen und Prozessmodi des Erfahrens,
Fühlens, Denkens und Handelns, da diese ihrerseits
auf einen von kulturellen Mustern, Ordnungen, herrschenden Stilen, den Anforderungen zentraler Institutionen, maßgebender Praktiken und sozio-ökonomischer Konstellationen geprägt sind und sich vermutlich auch nur in Austausch und Interaktion mit
den soziokulturellen Praktiken und Interaktionsmus-
tern überhaupt stabilisieren lassen (Rorty 2004; vgl.
Scheer 2012).
Das bedeutet, dass isolierte Handlungsbestimmungen und Erklärungen, die in wenigen Sätzen den vermeintlichen Primärgrund einer Handlung angeben,
jeweils nur einen kruden Auszug aus einem umfassenden Geschehen herausgreifen. De facto steht eine umfassende Vorgeschichte aus Einstellungen, Geneigtheiten, Denkmustern und Dispositionen im Hintergrund und ebenso ein konkreter praktisch-normativer Kontext, der individuelle Verhaltungen situativ
rahmt und stabilisiert (Beispiele für solche praktischnormativen Kontexte: das Militär, die Schule bzw. das
Bildungssystem, eine Partei, ein Arbeitsumfeld im
Rahmen eines herrschenden Wirtschatssystems, eine
wissenschatliche Disziplin, ein handwerkliche Zunt,
etc.). Nur mit hinreichend informiertem Bezug auf
diesen Hintergrund, auf die umfassende diachrone
und synchrone Einbettung, lassen sich einzelne intentionale Gehalte und somit einzelne personale Vollzüge
einigermaßen adäquat individuieren und hinsichtlich
ihrer speziischen Vollzugsweisen verständlich machen. So wird auch nachvollziehbar, warum verschiedene Personen unter äußerlichen und ›innerlich‹ vermeintlich identischen Umständen mitunter sehr unterschiedlich fühlen, denken und handeln. Es sind
umfassende kultur- und epochenspeziische Selbstverständnisse – gelebte Weltsichten, mit all ihren Idiosynkrasien, Konfusionen, dunklen Provinzen – die im
Hintergrund stehen, wenn es darum geht, emotionale
Weltbezüge zu speziizieren und Handlungen rational
zu erklären. Abkürzende Zugrife sind natürlich möglich und können im Rahmen provisorischer Rechtfertigungs- und Erklärungsbestrebungen ihren Zweck
erfüllen. Aber wir dürfen nicht überrascht sein, wenn
wir mit diesen groben Charakterisierungen in den interessanteren Fällen nicht sonderlich weit kommen.
Das Feld der Emotionen ist einer jener Bereiche, in
denen sich die immense Komplexität, die profunde
Kultur-, Zeit- und Bereichsgebundenheit sowie der
zutiefst intersubjektive Charakter personaler Vermögen besonders deutlich zeigen. Somit eignen sich
heorien der Emotionen gut als Instanz der Komplexitätserhöhung, wenn es darum geht, die Vielfalt des
menschlichen Handelns unverkürzt in den Blick zu
bringen.
Literatur
Colombetti, Giovanna: he Feeling Body. Afective Science
Meets the Enactive Mind. Cambridge, Mass. 2013.
Colombetti, Giovanna/hompson, Evan: he Feeling Body:
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Jan Slaby
193
21 Praktisches Wissen
Diskussionen um praktisches Wissen
Die Vorstellung, dass Menschen neben theoretischem
oder kontemplativem Wissen auch über eine Vielfalt
von praktischem Wissen verfügen, reicht bis in die
Antike zurück und spielt in zahlreichen philosophischen Teilgebieten eine bedeutende Rolle. Zum einen
wird ein solches praktisches Wissen weithin als ein
speziisches Selbstwissen Handelnder aufgefasst. Dies
drückt sich in der im Alltag und in der Philosophie
verbreiteten Überzeugung aus, dass menschliches
Handeln in einem wesentlichen Sinne mit Wissen einhergeht. Wir gehen davon aus, dass eine Person, die
etwas absichtlich tut, weiß, was sie tut. Zum anderen
schreiben wir Personen in vielfältigen Situationen ein
praktisches Wissen in Form eines ›Wissen-wie‹ (knowing how) zu. Ein solches Wissen ist eng an praktische
Fertigkeiten, etwa an das Fahrradfahren, Klavierspielen oder Bruchrechnen, gebunden und unterscheidet
sich in vielerlei Hinsicht von theoretischem Wissen.
Seit Anfang des 21. Jahrhunderts sind diese beiden
Vorstellungen des praktischen Wissens Gegenstand
zweier intensiver und kontroverser Debatten: In der
ersten geht es um die Frage, welche speziischen Merkmale dem Wissen zukommen, welches Handelnde
von ihren Handlungen haben. Wichtigster Bezugspunkt dieser Debatte ist Elizabeth Anscombes Konzeption des praktischen Wissens. Die zweite Debatte
wurde in der Erkenntnistheorie insbesondere durch
die Zurückweisung von Gilbert Ryles Unterscheidung
zwischen ›Wissen-wie‹ als Disposition oder Fähigkeit
und ›Wissen-dass‹ als Faktenwissen angestoßen. Im
Mittelpunkt steht hierbei die Frage, ob sich ein solches
Wissen-wie auf propositionales Wissen reduzieren
lässt.
Praktisches Wissen als ein Selbstwissen
Handelnder
Anscombe über praktisches Wissen
Anscombe führt ihr Konzept des praktischen Wissens
in ihrer Monographie Intention (1957) ein und weist
diesem eine Schlüsselfunktion für die Charakterisierung absichtlichen Handelns zu. Die Reichweite praktischen Wissens ist ihr zufolge nicht auf speziische
Fertigkeiten beschränkt. Vielmehr versteht sie praktisches Wissen als eine Form von Selbstwissen, die Handelnde im Allgemeinen über ihre Handlungen haben.
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