Der Weltkampf Um Die Gemeinschaft

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Werner u.

Ursula
Der Haverbeck
Weltkampf
um die
Gemeinschaft
Die Entwicklung der
Demokratie zur
Volksordnung

Grabert-Verlag-Tübingen
Druck: Deile, Tübingen
Satz und Umschlaggestaltung: Grabert-Verlag, Tübingen
Fortsetzung zu >Der Weltkampf um den Menschen<
Tübingen 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Werner u. Ursula Haverbeck


Der Weltkampf um die Gemeinschaft:
Die Entwicklung der Demokratie zur Volksordnung /
Werner u. Ursula Haverbeck.-
Tübingen : Grabert-Verlag, 1996
ISBN 3-87847-154-8

ISBN 3-87847-154-8

© 1996 Grabert-Verlag
Postfach 1629, D-72006 Tübingen

Gedruckt in Deutschland

Alle Rechtc, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen,


vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages sind Ver-
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Inhaltsverzeichnis
7 Die Aufgabenstellung
8 Warum unsere Demokratie
kein Heilmittel bieten kann
1. Demokratie - Diktatur 8
2. Die Spielregeln der Demokratie 11
3. >Brot und Spiele< 14
20 O h n e geistige Erneuerung
keine Wiedergeburt
1. >Am Himmel wie auf Erden< 20
2. Die Sternenordnung 27
3. Der dreigliedrige soziale Organismus 32
4. Die Freiheit erwachte in Deutschland 46
50 Die Wirtschaft - unser Schicksal?
1. Von der Naturabhängigkeit zur
Naturgefährdung 50
2. Die naturferne Volkswirtschaft 52
3. Die menschengemachten Krisen sind
wirtschaftlicher und ökologischer Art 57
4. Die Suche nach dem Dritten Weg 60
5. Vom selbstbestimmten zum manipulierten
Menschen 63
6. Die Urproduktion als einzig möglicher Maßstab 70
7. Wirtschaftlich-produktive und
geistig-schöpferische Arbeit 79
85 »Wir sind das Volk« - auf der Suche
nach unserem Staat
1. Der Staat: Was ist er nicht - wie soll er sein? 85
2. »Der Staat ist der erscheinende Gott« (Hegel) 90
3. >Der Acker ist die Welt< 94
4. Das erste Deutsche Reich 100

5
5. »Ora et labora!« -
dem Geist und der Tat bist du verpflichtet! 106
113 Der Ordensstaat
1. Erwerbsgesellschaft - Ranggesellschaft 113
2. Vom Nothelfer zur Ordnungsmacht 117
3. Der preußische Ordensstaat 120
4. Mönchsgelübde und Ordensregel einst und heute 122
5. Nicht herrschen, sondern führen 131
6. Führen kann, wer dient 134
138 Epilog: Die Weissagung der Seherin
1. Endzeiterwartung und Weltuntergang 138
2. Der Nullpunkt als Voraussetzung
für einen Neubeginn 140
3. Von der Götterdämmerung
zur Menschendämmerung 146
155 Anmerkungen

6
Die Aufgabenstellung

Alle weltgeschichtlichen Veränderungen begannen und begin-


nen in der Seele eines einzelnen Menschen. Unzufriedenheit
mit einer bestehenden Situation erfordert ein änderndes Han-
deln des Unzufriedenen.
Auswirkungen in größerem Rahmen haben solche Handlun-
gen nur, wenn Verbündete gefunden werden.
Eine Verbindung oder ein Bund erhält Dauer und Wirksam-
keit durch verbindliche Regeln für seine Mitglieder.
Seit Beginn des geschichtlichen Menschen bestimmen zwei
zunächst unvereinbar erscheinende Tendenzen das Menschen-
leben: die Sehnsucht nach Geborgenheit sowie Ergänzung in
der Gemeinschaft und das Streben nach einer freien eigenstän-
digen Individualität.
Gemeinschaft und Eigensein - Wir und Ich - stehen einan-
der gegenüber. Erst wenn wir sie als die Brennpunkte einer
Ellipse begreifen, die jeder Mensch zu bilden vermag, läßt sich
der Gegensatz auflösen.
Der Mensch, zwischen Himmel und Erde gespannt in der
Vertikalen und pendelnd in der Horizontalen zwischen Gemein-
schaft und Individualität, erscheint im Symbol und Wahrzei-
chen für den Menschen seit alteuropäischer Überlieferung: im
Kreuz.

7
Warum unsere Demokratie
kein Heilmittel bieten kann

1. Demokratie - Diktatur
Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Im Jahre 1994 hatten die Bundesbürger beides reichlich. Insbe-
sondere dann, wenn sie meinten, zu den bestehenden politi-
schen Parteien eine Alternative selber bilden zu sollen. Vertre-
ter einer solchen echten Alternative, die eine andere Politik
für dieses Land anbieten wollten, mußten dies gegen jede mög-
liche Behinderung tun, bis hin zu Brandstiftung und Körper-
verletzung. Aus der Qual wurde ein langer Leidensweg. Denn
eine solche Alternative bestand wieder in einer Partei. Partei-
en stellen sich zur Wahl, Parteien machen und bestimmen die
deutsche Politik. Wer mit den vorhandenen Parteien nicht zu-
frieden ist, kann eine neue, nach seiner Vorstellung bessere
Partei begründen. Er braucht dazu allerdings einige Gleichge-
sinnte. In dieser Möglichkeit haben wir ein typisches Kennzei-
chen für Demokratie. Gerade dadurch unterscheidet sie sich
von einer Diktatur. >Multi< gegenüber >mono<. Demokratie und
Diktatur schließen sich dem herkömmlichen Verständnis nach
aus.
In einer Demokratie gibt es unantastbare Freiheitsrechte
für jeden Bürger, die Freiheit der Meinung in Wort und Schrift,
der Forschung und Lehre, der Versammlung, der Parteigrün-
dung, um nur die Hauptfreiheitsrechte zu benennen. In einer
Demokratie darf niemand eingesperrt werden, nur weil er eine
andere Meinung hat als die gerade herrschende Partei. Außer-
dem gibt es die sogenannte Gewaltenteilung, in der die Recht-

8
sprechung parteiungebunden ist und dem Bürger sogar die
Möglichkeit gibt, gegen staatliche Verordnungen vor Gericht
zu ziehen.
Soweit die Lehre, die Praxis sieht oft anders aus. Eins aber
trifft in jedem Fall zu: In einer Demokratie gibt es mehrere
Parteien und besteht die Möglichkeit, weitere Parteien zu grün-
den.
In der Diktatur fehlen diese Grundrechte. In ihr hat entwe-
der eine Partei oder die Kirche oder eine Ideologie immer recht,
und der andersdenkende Bürger kann sehr schnell ohne ein
Gerichtsverfahren hinter Gittern verschwinden. In einer Dik-
tatur blüht das Überwachungssystem der Bürger, die demzu-
folge in ständiger Angst leben. Welcher Bürger? Natürlich der-
jenigen, die mit dem herrschenden System nicht einverstan-
den sind. Anhänger und 100%ige Funktionäre erleben die Dik-
tatur anders.
Im Artikel 1 der Parteiengesetzgebung vom 24. Juli 1967
heißt es hinsichtlich der Parteien: »(1) Die Parteien sind ein
verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien,
dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des
Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende oder von
ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.« In Absatz 2 heißt es sogar:
»Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens
des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, in-
dem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Mei-
nung Einfluß nehmen, die politische Bildung anregen und ver-
tiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben
fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte
Bürger heranbilden. . .« Damit gehört zur Definition des Be-
griffes >Demokratie< im gegenwärtigen Verständnis die Par-
teienvielfalt. Während Parteien ursprünglich nach dem Grund-
gesetz an der politischen Willensbildung nur mitwirken soll-

9
ten, ist ihnen in der Wirklichkeit die volle politische Macht
übertragen worden. Zu den ursprünglich von den Siegermäch-
ten bestätigten Parteien, die im parlamentarischen Rat ver-
treten waren, gehörten die Fraktionsgemeinschaft der Christ-
lich-demokratischen und Christlich-sozialen Union mit 27 Ab-
geordneten, der Sozialdemokratischen Partei ebenfalls mit 27,
der Freien Demokraten mit 5 Abgeordneten und die Deutsche
Partei, das Zentrum und die Kommunisten mit je 2 Abgeord-
neten. Die erstgenannten drei Parteien sind bis heute die ent-
scheidenden Parteien für die politische Gestaltung Deutsch-
lands geblieben. Es wurden zwar immer wieder zusätzliche
Parteien gegründet, sie verbuchten auch hier und da Erfolge,
jedoch wurden diese sehr schnell wieder verspielt durch
Selbstzerfleischung, Unterwanderung, Verwässerung der ur-
sprünglichen Zielsetzung durch Druck von außen, so daß im-
mer wieder Sacharbeit blockiert wurde durch parteiinterne
Querelen und durch die Abwehr von unqualifizierten Verteufe-
lungen als >links-< oder »rechtsradikale Das gilt bis heute.
Wenn wir also feststellen können, daß für alle Parteien, auch
für diejenigen, die als alternativ antreten, sich nach ganz kur-
zer Zeit praktisch ein ähnliches Bild ergibt, dann stellt sich die
Frage, ob nicht etwas in den Strukturen selbst gegeben ist,
was immer wieder zu solchen Ergebnissen führt. Der Wille der
Menschen, die solche Parteien gründen - das gilt auch für die
alten Parteien -, ist es in der Regel nicht.
Wenn wir also politisch wirksam werden wollen in diesem
Land, dann müssen wir sorgfältig die Gegebenheiten der
Parteiendemokratie prüfen und uns fragen, ob sie es erlauben,
daß grundsätzliche Veränderungen vorgenommen werden, zum
Beispiel, ob wirklich deutsche Politik in diesen Strukturen er-
reicht werden kann.

10
2. Die Spielregeln der Demokratie
Um deutlicher zu machen, was gemeint ist, soll ein Bild als
Vergleich herangezogen werden: Wodurch wird ein Spiel zu dem,
was es ist? Was ist das Wesen eines Spieles? Bei einigem Nach-
denken werden wir sicher zu der Antwort kommen: die Spiel-
regeln. Sie machen Fußball zu Fußball, Handball zu Hand-
ball, Mensch-ärger-dich-nicht zu Mensch-ärger-dich-nicht usw.
Dazu kommen einige vorgegebene Kriterien. Findet das Spiel
im Freien statt, dann haben wir das Spielfeld und in der Regel
einen Ball. Ist das Spielfeld ein Brett auf dem Tisch, dann ha-
ben wir Figuren und Würfel. Aber neben diesen Vorgaben sind
die Spielregeln das Entscheidende, und sie bestimmen das We-
sen des Spieles. Wer Fußball spielt und nicht bereit ist, die
Regeln dieses Spieles anzunehmen und sich darin zu bewegen,
kann eben nicht Fußball spielen. Er möge dann Tischtennis
oder irgendein anderes Spiel ergreifen. Es ist also unabding-
bar, daß man sich den Spielregeln unterwirft.
Werfen wir nun einen Blick auf die Parteien: Wodurch wird
eine Gruppe von Menschen zu einer Partei? Partei ist etwas
Ideelles, man kann es nicht sehen oder anfassen, und doch sind
die Parteien eine Realität. Wodurch? Zunächst wird uns das
Programm einfallen, das von einer Gruppe von Menschen als
ihre Zielsetzung aufgestellt wird. Doch dieses Programm al-
lein reicht noch nicht. Es muß ergänzt werden durch eine Sat-
zung, deren Inhalt die Parteiengesetzgebung genau vorschreibt
und festlegt. In diesem Zusammenhang ist noch einmal daran
zu erinnern, daß diese Gesetzgebungen uns sozusagen von
außen auferlegt worden und nicht aus dem Volk heraus ent-
standen sind. Für die gesamte Parteienarbeit ist die Satzung
das bestimmende Wesensglied, das bindend ist.
Zwischen dem königlichen Schachspiel und dem brutalen
Rugby gibt es eine unendlich breite Palette von Möglichkeiten

11
(Spielarten), die repräsentative Demokratie ist sozusagen ein
übergeordnetes Spiel, das alle Möglichkeiten in sich vereinigt
und uns alle beteiligt. Keiner von uns, da wir ja heute den
Anspruch stellen, als mündige Bürger mitbestimmen zu wol-
len, ist ausgeschlossen, sondern wir alle sind irgendwie in die-
ses Spiel integriert, wenn auch nur als Wähler. Und in dem
Augenblick, da wir als eine Partei selbst das Spielfeld betreten
wollen, sind wir den Parteienstatuten genau so unentrinnbar
unterworfen wie der Ballspieler den Regeln des jeweiligen Ball-
spieles.
Was beinhalten nun diese Spielregeln der Parteiendemokra-
tie? Im Grunde das Gleiche wie beim Spiel. Es werden Wett-
kämpfe ausgeführt, genannt Wahlkampf<, möglichst hart. Ein
solcher Wahlkampf findet ständig statt: Kommunalwahlkampf,
Landeswahlkampf, Bundeswahlkampf. Es wird in der Regel
immer irgendwo gegeneinander angetreten mit dem Ziel zu
siegen. Dieses Ziel ist gekoppelt mit dem Besiegen des Geg-
ners. Zur Unterstützung gibt es alle möglichen Hilfsmittel von
Parteienfinanzierung bis an die Illegalität heran, Fernsehwer-
bung, Plakate, Zeitungsinserate, von Fraktionszwang und
Spendensammeln. Dem >Foul< entspricht die Unterwanderung
der Gegenpartei. Es ist ganz offensichtlich, daß bei diesem Spiel
Sachentscheidungen und der Nutzen für das Volk untergeord-
nete Gesichtspunkte sind. Den Nutzen des Volkes gibt es ledig-
lich noch in der Eidesformel der Minister, für die Partei selbst
spielt er kaum eine Rolle, sondern der Nutzen der Partei steht
im Vordergrund. Es ist auch belanglos, welchen Namen sich
eine solche Partei gibt, selbst wenn mit dem Namen ein Pro-
gramm gemeint ist. Statt derTore, Punkte oder Sekunden geht
es bei diesem Spiel um Stimmen. Alles, was an Programm und
hochgeistigen Überlegungen im voraus angestellt und aufge-
stellt wurde, um damit die Menschen und Wähler ansprechen
zu können, wird in dem Augenblick, in dem eine solche Partei

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in den Wahlkampf eintritt, zurückgestellt, denn sie muß zu-
nächst einmal gewinnen, und zwar möglichst 50 Prozent der
Stimmen. Erst danach könnte sie beginnen, Programme zu
verwirklichen. Und um dieses erreichen zu können, wird jede
Partei diejenigen Mittel anwenden müssen, die in dieser Par-
teienkratie allgemein angewandt werden, die in den Struktu-
ren verankert sind und die dann zu Korruption und Verwässe-
rung der ursprünglichen Ziele führen.
Immer dann, wenn einzelne oder einige Persönlichkeiten
versuchen, außerhalb der bestehenden Parteien sachliche Ar-
beit, die ihrem Volke zugute kommen könnte, einzubringen,
und sich abzeichnet, daß sie sich dafür und für die Ver-
wirklichung des Grundgesetzes persönlich einzusetzen bereit
sind, dann wird von der Gegenseite aus allen Rohren auf sie
geschossen und mit scheinlegalen Mitteln versucht, solche
ernsthaften Konkurrenten aus der politischen Arbeit auszu-
schließen. Wer sich dieses nicht deutlich macht, bevor er sich
entscheidet, auf dem Spielfeld Parteienkratie als Partei mitzu-
spielen, der ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. We-
der die Spielregeln noch die Parteiengesetzgebung werden von
den Spielenden selber gemacht, sie finden sie vor.
Es darfauch nicht übersehen werden, daß diese Parteistruk-
turen so gestaltet sind, daß sie nur einer bestimmten Men-
schenart die Möglichkeit zur Durchsetzung geben. Es sind dies
vornehmlich die Ellenbogenmenschen, mit gutem Gedächtnis
und Beredsamkeit, die ohne viel Skrupel und Rücksichtnahme
bereit sind, sich um jeden Preis durchzusetzen. Sie haben ein
ausgeprägtes Machtstreben und persönlichen Ehrgeiz. Ohne
dieses würde es ihnen gar nicht gelingen, eine Partei, und schon
gar nicht eine echte alternative Partei, auf die Beine zu brin-
gen. Parteiintern bedeutet eine solche Persönlichkeitsstruktur
jedoch die größten Schwierigkeiten für jede positive Zusam-
menarbeit. So kommt es auch von daher zu innerparteilichen

13
Auseinandersetzungen und Schwächungen, die schon manchen
hoffnungsvoll erscheinenden Neuansatz in kurzer Zeit zu zer-
stören vermochten.

3. >Brot und Spiele<


Als letztes ergibt sich die Frage, wie und wodurch konnte ei-
gentlich die Volksherrschaft ganz in die Hände der Parteien
abgleiten und schließlich sich genau zu dem entwickeln, was
mit >Parteienkratie< (Parteienherrschaft) zu bezeichnen ist. Hier
soll an das alte Rom erinnert werden. Aus seiner Verfallszeit
kennen wir den Slogan >Brot und Spiele<. Die Kaiser hielten
die Römer bei der Stange, indem sie ihnen Getreide und Zir-
kusspiele schenkten. Offensichtlich werden bis heute >Brot und
Spiele< von denjenigen, die im Hintergrund die Macht ausüben
und totale Herrschaft anstreben, immer noch als das beste und
wirksamste Mittel eingesetzt, um das Volk dahin zu bekom-
men, wohin sie es haben wollen. >Brot< heißt heute Wohlstand;
dieser ist ein wesentlich differenzierteres und weniger zu durch-
schauendes Verführungsmittel als Brot. Ein Mittel, das uns
alle abhängig gemacht hat. Es gibt kaum noch einen Haus-
halt, der nicht an die Wasser-, Gas-, Elektrizitäts-, Telefon-
leitung, an das Rundfunk- und Fernsehnetz angeschlossen ist,
wir hängen buchstäblich an einer Vielzahl von Drähten, ohne
die unser tägliches Leben gar nicht mehr funktionieren wür-
de. Es ist also ein Wohlstand, der zugleich mit einer größeren
Abhängigkeit als je zuvor verbunden ist, der uns außerdem
käuflich gemacht hat, so daß viele Menschen gar nicht mehr in
der Lage sind, ohne nach dem Geld zu schielen, das sie von
irgendeiner Seite bekommen, sich politisch zu engagieren. Dazu
gehören auch das soziale Netz und die Wahlgeschenke.
Und das zweite: >Spiele<! Damit sind nicht nur Fußball oder
die Olympiade gemeint, die wir bei jeder politischen Tagesschau

14
vorgesetzt bekommen, obwohl kein Mensch weiß, was das mit
den politischen Nachrichten zu tun hat, sondern gemeint ist
mit >Spiele< ein weit komplizierteres, ein Geheimspiel, das Ge-
sellschaftsspiel, das sich Demokratie nennt. Vielleicht erschien
es zunächst befremdlich, wenn die Demokratie, die, wie darge-
stellt, längst zur Parteienkratie geworden ist, mit Spiel gleich-
gesetzt wird. Doch bei genauerer Betrachtung können wir
feststellen, daß hier tatsächlich die Grundkriterien des Spieles
vorliegen: Spielregeln gleich Parteienstatuten, Parteiengesetz-
gebung, Wettkämpfe in großer Zahl gleich Wahlkämpfe und
schließlich das Hauptziel: gewinnen zu wollen. Wie es beim Spiel
ursprünglich unwichtig ist, ob es einen Preis gibt, so ist es im
Wettkampf der Parteien, überspitzt gesagt, auch unbedeutend,
was nach dem Wahlsieg kommt, ob zum Beispiel die Wahlver-
sprechen verwirklicht werden und die Politik dem Programm
entsprechend verändert wird. Dieses geht zumeist auch gar
nicht, da es auf allen Gebieten langfristig festgelegte Verträge
gibt, aus denen eine andere Partei nicht ohne weiteres ausstei-
gen kann.
Den Bürgern aber wurde und wird gesagt, daß dieses Sy-
stem ihn zum >obersten Souverän< mache, was bei jedem >im
Namen desVolkes< verkündeten Urteil zumAusdruck gebracht
wird und was ihm Mitbestimmung, Freiheit und Rechtsgleich-
heit gäbe. Schon 1974 sagte einer, der es wissen mußte, dazu:
»In den Staaten Westeuropas sei ein Regierungswechsel von
der einen zur anderen Partei kein wirklicher Machtwechsel
mehr, sondern nur noch ein Schauspiel, denn die wahren Macht-
haber säßen anderswo.« So Willy Brandt im Spiegel Nr. 10 vom
4. 3. 1974. Wir müssen uns also fragen, ob wir uns nicht jahr-
zehntelang haben auf der Parteienspielwiese mißbrauchen las-
sen. Die »wahren Machthaber« sind in keinem Fall das Volk.
Dieses wurde beschäftigt mit Wahlkämpfen und, sofern es po-
litisch engagiert war, mit Parteigründungen; regieren taten

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andere, ohne daß es überhaupt bemerkt wurde. Damit wäre
die Parteienstruktur ein Mittel zum Zweck, und zwar nicht für
das Volk, sondern um gegen das Volk herrschen zu können.
Willy Brandt gab dieser »repräsentativen Demokratie< schon
1974, wie aus demselben Spiegel-Bericht hervorgeht, keine gro-
ßen Chancen mehr. »Er sah«, so der Berichterstatter, »die klassi-
schen parlamentarischen Demokratien westlichen Musters am
Ende. Nach seinem Urteil werden sie mit ihren Problemen nicht
mehr fertig und können deshalb nicht die Endform des demokra-
tisch verfaßten Staates sein.« Und etwas weiter heißt es:
»Wenn der westliche Systemverfall nicht aufgehalten wer-
den könne, dann, so fürchtete Willy Brandt, sei der Parlamen-
tarismus in Europa höchstens noch 20 oder 30 Jahre am Le-
ben zu erhalten. Denn die Sozialdemokraten entwickelten sich
unter dem Eindruck der Misere immer weiter nach links, die
Nation in ihrer Mehrheit aber tendiert nach rechts und wen-
dete sich den Konservativen zu. Diese jedoch, so Brandt, seien
nicht in der Lage, die Probleme zu meistern, so daß am Ende
der radikale Kommunismus oder Faschismus - wie Brandt es
sieht - drohe.«
Das wirkliche Gegenbild zum Kommunismus wären aber
individuelle Volksordnungen. Es stehen sich letzten Endes ra-
dikaler Materialismus und eine geistig bestimmte Volksord-
nung gegenüber. Eine Volksordnung, in der die Würde des
Menschen< erklärt und lebendige Wirklichkeit ist, und nicht -
wie gegenwärtig - phrasenhafte Leerformel, in der die Men-
schen- und Grundrechte verbindlich für die Staatsführung sind,
und ein Verfassungsschutz, der diese Rechte vor Mißbrauch
schützt, nicht aber die Bürger im Gebrauch dieser Freiheits-
rechte behindert. Nur eine Grundrechtsbewegung kann noch
aus der Parteienkratie herausführen.
Fassen wir zusammen, so entsteht folgendes Bild: Die Herr-
schaft des einen Königs wurde abgeschafft, die Herrschaft ei-

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ner festen Gruppe - sei es einer Adelsschicht oder einer Besitz-
klasse - wurde ebenfalls theoretisch abgeschafft. Schon für
»Versailles* 1919 war es ein festes Ziel der Entente, die Throne
zu stürzen: Das galt dem österreichischen, dem deutschen und
dem zaristischen Thron. Alle drei Kronen rollten herab.
Als zukunftsträchtige und fortschrittliche Staatsform wur-
de die Demokratie eingeführt und sowohl nach 1919 als auch
nach 1945 den Deutschen insgesamt als die allein mögliche
Staatsform abverlangt. Aber auch beim Zusammenbruch des
Kommunismus 1990/91 wurde von allen >befreiten< Staaten des
Ostblocks als Voraussetzung für jegliche westliche Hilfeleistung
die Einführung eines Mehrparteiensystems, also der Demokra-
tie, verlangt.
Betrachten wir die verschiedenen Staatsformen, so ist es er-
staunlich, daß die griechischen Begriffe >Demokratie<, »Aristo-
kratie< bzw. >'Oligarchie< und >Monarchie< bis heute beibehal-
ten worden sind und es keine entsprechende einfache Überset-
zung im Deutschen gibt. Das gilt auch für >Diktatur< und >Ty-
rannis<. Wir müssen uns also fragen, welche Volksordnung und
Verfassung unserem Volk entspricht, offenbar doch die nur mit
Fremdwörtern zu bezeichnenden Formen nicht. Übersetzen wir
den Begriff »Demokratie< so heißt dies >Volksherrschaft<, also
die Herrschaft aller. Nun schließt aber der Begriff »Herrschern
die Anwesenheit von zu Beherrschenden ein. Wie kann jemand
herrschen, wenn niemand da ist, der von ihm beherrscht wer-
den könnte? Schon sprachlich ist also der Begriff »Volksherr-
schaft< ein Unding. Und so führt auch eine wirkliche Volksherr-
schaft notwendigerweise in die Anarchie. Es wurde also die
sogenannte Herrschaft aller im Grunde genommen wieder zu-
rückgenommen, und die repräsentative Demokratie entstand,
bei der jetzt Parteien den Bürger vertreten und seinen Auftrag
ausführen sollen. Diese Parteien verselbständigten sich, zum
einen, weil die Auftraggeber sich in der großen Mehrzahl gar

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nicht mehr um ihre Beauftragten kümmerten, zum anderen
aber auch, weil die geschaffenen Parteistrukturen so gestaltet
wurden, daß diese Entwicklung darin vorprogrammiert ist. Die
Kaste der Politinsider entstand. Sie umfaßt heute als Mitglie-
der etwa 2,5-4,5 Prozent der Gesamtwählerschaft. Geht man
aber von den tatsächlich Tonangebenden aus, dann sind diese
sicher nicht mehr als einige hundert Menschen. Diese herr-
schen mittels ihrer Partei und dem dort wiederum herrschen-
den Fraktionszwang. Das Ziel dieser Parteiführer ist es, im
Wettkampf zu gewinnen.
Es sei hier noch einmal an den Brandt-Satz erinnert: »Ein
Regierungswechsel von der einen Partei zur anderen ist kein
wirklicher Machtwechsel mehr, sondern nur noch ein Schau-
spiel, denn die wahren Machthaber sitzen anderswo.«
Es ist also lächerlich zu meinen, daß eine neue, grundsätz-
lich anders handeln wollende Partei mit 10 oder gar 15 Pro-
zent der Wählerstimmen tatsächlich eine andere, eben deut-
sche Politik machen könne. Keine der etablierten Parteien wird
mit dieser Partei koalieren. Es gibt immer die Ausweichmög-
lichkeit der großen Koalition!
Das deutsche Volk als Ganzheit kann auch keine Partei
vertreten, sie ist doch schon sprachlich immer nur Teil - pars
pro toto -, also Teil eines Ganzen. Von der einer Partei überge-
ordneten Ganzheit ist im Bewußtsein der Parteimitglieder oder
Parteiführer sehr wenig vorhanden. Im Gegenteil, jede Partei
hält ihren Aspekt für den allein richtigen und sich selber für
befähigt, das Ganze besser als die Gegenpartei zu ordnen. Wäre
der Teilcharakter oder der Gedanke, einen Aspekt unter meh-
reren zu vertreten, den Parteien bewußt, dann könnte es in
einem Wahlkampf gar nicht darum gehen, sich gegenseitig zu
besiegen. Dann wäre das eigentliche Anliegen, alle unterschied-
lichen Aspekte in gemeinsamen Konferenzen zu behandeln, um
die bestmögliche Lösung und Beantwortung einer Sachfrage

18
zu finden. So fragte bereits 1992 ein nicht unbedeutendes SPD-
Mitglied, der Oberbürgermeister von Pforzheim: »Wozu brau-
chen wir eigentlich Parteien?« (Unter dieser Überschrift in Die
Welt am 8. Februar 1992 zu lesen.)
Weil wir sie aber haben und noch dazu Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände, kommt zum Beispiel ein >Bündnis für
Arbeit< und anderes mehr nicht oder nur verwässert zustande.
Doch verlassen wir das Parteienspielfeld und wenden uns der
eigenständigen und vorgegebenen Volksordnung zu. Der Staat
im eigentlichen Sinne kann ja nichts anderes sein als die Form,
in der der Volksorganismus sich darstellt.

19
Ohne geistige Erneuerung
keine Wiedergeburt

1. >Am Himmel wie auf Erden <


Im Rahmen des Roten Kreuzes gibt es ein »Deutsches Komitee
für die Internationale Dekade für Katastrophenvorbeugung<.
Der 14. Oktober 1992 wurde - von der Öffentlichkeit wenig
bemerkt - als »Welttag der Katastrophenvorbeugung< begangen.
Es handelt sich hierbei zwar vornehmlich um Naturkatastro-
phen, doch diese werden in engem Zusammenhang gesehen
mit der durch den Menschen verursachten Umweltzerstörung,
den wachsenden Flüchtlingszahlen und mit den bereits erkenn-
baren Klimaveränderungen, die durch menschliches Fehlver-
halten verursacht oder beschleunigt werden.
Statt eines >Welttages< wäre allerdings eine bewußte Um-
orientierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens erforder-
lich. Unkenntnis kann heute von niemandem mehr angeführt
werden; dennoch handeln die verantwortlichen Politiker wei-
ter nach überholten Konzepten, die den gegenwärtigen Erfor-
dernissen in keiner Weise gerecht zu werden vermögen. Nicht
die Vielzahl der Bürger in den Ländern der Welt hat die Welt-
zerstörungskräfte entfesselt, sondern eine Minderheit in den
Machtzentralen. Die Völker mit ihren sogenannten Volks-
vertretern wurden in Abhängigkeit gebracht und zu Kompli-
zen gemacht. Das gilt es zu erkennen. Jegliche Veränderung
beginnt in den Köpfen der Menschen.
Schon der chinesische Weise Kungfutse (ca. 600 v.d.Z.) wies
daraufhin. Auf die Frage, was er für das Wichtigste im Staats-
leben halte, antwortete der Meister: »Was vor allem not tut,

20
ist, daß man alle Dinge beim rechten Namen nennen kann.«
Auf die erstaunte Miene des fragenden Fürsten hin erklärte
er: »Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte
nicht. Stimmen die Worte nicht, so ist das, was gesagt wird,
nicht mehr das, was gemeint ist, so kommen die Werke nicht
zustande. Kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen
Moral und Kunst nicht. Gedeihen Moral und Kunst nicht, so
trifft das Recht nicht. Trifft das Recht nicht, so weiß das Volk
nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man nicht, daß
in den Worten irgend etwas in Unordnung ist. Das ist es, wor-
auf es ankommt.«1
Um die richtigen Begriffe für die Ordnung eines Gemeinwe-
sens zu finden, bedarf es eines Überblickes über die Völker-
ordnungen in ihrer Entwicklung. Zugegebenermaßen aus ei-
ner subjektiv erscheinenden Sichtweise, doch liefert diese im-
merhin überraschende Ergebnisse.
Wir wissen inzwischen nicht nur aus mythischer Vorstellung,
sondern auch aus der Naturwissenschaft, wie eng das Leben
auf der Erde mit dem Gang der Gestirne verbunden ist. Offen-
bar gibt es aber auch einen Zusammenhang zwischen Staaten
und Himmelslichtern. Das klingt gewiß zunächst verblüffend,
doch lassen wir uns einmal auf diesen Gedanken ein.
Am Himmel erscheinen die Gestirne in dreifacherWeise, wie
es schon das Kinderlied singt: »Sonne, Mond und Sterne«. Be-
trachten wir nun die Namen, die wir diesen Gestirnen geben,
etwas näher, so stellen wir fest, daß die Sonne einen uralten
Eigennamen hat, der von nichts abzuleiten ist. Das gilt für
alle indogermanischen Sprachen, natürlich entsprechend den
Lautverschiebungen abgewandelt.
Der Mond - so meint die Etymologie - ist dagegen abgeleitet
von einer indogermanischen Verbalwurzel *me, was so viel be-
deutet wie >wandern<, >abschreiten<, >abstecken<, >messen<. Die-
ses Abschreiten, das sich aus dem Wandern ableiten läßt, wird

21
auch heute noch benutzt als ein Meßvorgang, um eine Strecke
abzumessen. So ist der wandernde und sich dabei verändern-
de Mond der Abschreitende und dann auch der Messende ge-
worden, was in dem Wort >Monat< als Zeitmaß zum Ausdruck
kommt. Wir kennen aber auch die >Monatsregeln<, die in der
Volksmeinung dem Mondwechsel zugeordnet werden.
Als drittes betrachten wir das Wort >Stern<, meist als Sterne
im Plural gebraucht, was die unendliche Fülle dieser Erschei-
nung widerspiegelt. Sprachwissenschaftlich wird das Wort
>Stern< mit Ausgestreutsein in Verbindung gebracht. Man könnte
sagen, das am Himmel ausgestreute, ausgesäte Licht.
Jeder dieser Begriffe >Sonne<, >Mond< und >Sterne< hat ein
Symbol, mit dem wir uns sofort verständigen können: das Zei-
chen der Sonne, das Zeichen des Mondes, den Fünf- bzw. Sechs-
stern als Symbol für den Stern schlechthin, wobei der Fünf-
stern auch für den Menschen steht, seit altersher >Pentagramm<
genannt, während der Sechsstern als >Davidsstern< zum jüdi-
schen Symbol geworden ist.2
Nachdem wir uns diese Dreiheit am Himmel vergegenwär-
tigt haben, betrachten wir die Menschenwelt und fragen uns:
Wie tritt der Mensch auf Erden in Erscheinung? Da sehen wir
zunächst die verschiedenen Völker. Sie unterscheiden sich von-
einander durch Geschichte, Kultur und insbesondere durch die
Sprache. Jeder Mensch wird in einen solchen Volkszusam-
menhang hineingeboren und durch ihn geprägt. Gleichzeitig
wird der Mensch aber auch in eine Familie hineingeboren, die
als eine blutsgebundene Einheit innerhalb des Volkes besteht.
In dieser Familie empfängt der Einzelmensch durch den Bluts-
strom, durch die Vererbung, aber auch durch die familien-
spezifischen Gewohnheiten eine weitere Prägung. Als letztes
und wiederum als drittes, tritt der Einzelmensch - wir spre-
chen heute von Individualitäten - in Erscheinung. Diese Ein-
zelmenschen haben trotz Familie und trotz Volk ihr ganz be-

22
stimmtes individuelles Eigensein, das sie untereinander un-
verwechselbar macht. Wie bereits dargestellt, lehrt seit Be-
ginn der europäischen Philosophie die Menschenkunde, daß
jeder Mensch aus Geist - Seele - Leib besteht. Dem Geist wird
das Denken zugeordnet, der Seele das Fühlen und dem Leib
das Willenselement, das Wollen. Wir haben also auch hier wie-
der eine Dreiheit, welche die Einzelmenschen als Ganzheit be-
stimmt.
Auch das Volk, das in der Regel danach strebt, in einem Staat
zu leben, tritt wiederum in drei deutlich voneinander zu un-
terscheidenden Bereichen auf: einmal in all demjenigen, was
wir unter >Kultur< oder >Geistesleben< zusammenfassen, dann
in demjenigen, was man mit dem Begriff >Rechtsordnung< oder
>Politik< kennzeichnen könnte, und schließlich und heute be-
sonders ausgeprägt in der >Wirtschaft<.
Schreiben wir diese >himmlischen< und irdischen Dreiheiten
einmal untereinander, um sie deutlicher vor Augen zu haben,
dann sieht das folgendermaßen aus:

Sonne Mond Sterne


Volk Familie Individualitäten
Geist Seele Leib
Geistesleben Rechtsleben Wirtschaftsleben

Aus der Geschichte wissen wir, daß die Volksordnungen in den


frühen Anfängen der Menschheit Theokratien waren, denken
wir zum Beispiel an Ägypten oder an Persien. Aber auch in
China herrschte der >Sohn des Himmels< in absoluter Macht-
vollkommenheit. Im Mittelpunkt derTheokratie stand der aus
Gott hervorgegangene Herrscher. Das bedeutete konkret für
Ägypten oder Persien >der aus der Sonne abstammende Son-
nensohn<, und die Sonnengottheit stand im Mittelpunkt des
religiösen und staatlichen Lebens. Dies galt bis in unser Jahr-

23
hundert hinein noch für den Tenno in Japan. Das ganze Leben
wird in solchen Volksordnungen durch diese religiöse Bindung
geprägt. Der Volkszusammenhang steht im Vordergrund, und
es werden unerhörte Gemeinschaftsanstrengungen zur Erhö-
hung der Volksrepräsentanten unternommen (zum Beispiel die
Pyramiden). Die Familie und der Einzelmensch treten dage-
gen in den Hintergrund und erscheinen weniger wichtig.
Doch auch aus der nordeuropäischen Frühzeit im keltisch-
germanischen Kulturraum kennen wir Sonnenheiligtümer, die
bis weit in die germanisch bestimmte Zeit hinein ihre Bedeu-
tung hatten: in England etwa die riesige Anlage von Stone-
henge und in Deutschland die Externsteine. Hier wurden der
Sonnengang des Jahres und die Gestirnskonstellationen beob-
achtet. Das läßt sich unschwer noch heute aus der Ausrich-
tung der Steine und ihrer Bearbeitung erkennen. Man könnte
sagen: eine gewaltige frühzeitliche Himmelswarte oder auch
eine erste, dem Universum gewidmete Universität und damit
Ort ältester Wissenschaft. Zugleich galten diese Stätten als
Kultstätten, die Universität war also zugleich Tempel oder
Kathedrale, von cathedra = »Lehrstuhle Und noch ein zweites
ging von diesen Sonnenheiligtümern aus: die sich aus dem
Sternenlauf ergebende Richtgebung für die Landwirtschaft. Die
Aussaat galt noch bis in dieses Jahrhundert hinein in unzer-
störten rein ländlichen Gegenden als heilige Handlung. Doch
auch ein drittes Glied des Volkslebens wurde von hier geord-
net: die Rechtsprechung. An den Externsteinen sehen wir er-
kennbar einen abgesonderten Felsen mit eingehauenen Stu-
fen, der wie eine große Kanzel wirkt, von der aus der Volks-
führer zu den auf dem davorliegenden weiten Feld versammel-
ten Menschen Gesetze verkündend und richtend gesprochen
haben mag.
Einen letzten, den erobernden Europäern noch erlebbaren
>Sonnenstaat< gab es im Inkareich Südamerikas bis in den An-

24
fang des 16. Jahrhunderts hinein. Der Herrscher dieses Lan-
des, der Inka, galt als Sohn der Sonne, und Kennzeichen der
Sonne war das Gold. Dieses wurde nicht zu Wirtschaftszwecken
genutzt, sondern galt als dem Inka geweihtes und zugehöriges
Metall, das nur zu seinem Schmuck und zu Kultgegenständen
verwandt wurde. Dieser Sonnenstaat der Inka ging 1533 mit
der Ermordung des letzten Inka durch die Spanier unter, wie
auch alle anderen, auf eine Sonnenheiligung zurückgeführten
Theokratien, soweit sie in unmittelbarer Beziehung zumAbend-
land standen. Für das ferne Japan trifft dies nicht zu: Noch
hatte es seinen Platz auf der Bühne des Welttheaters nicht
eingenommen, das blieb unserem Jahrhundert vorbehalten. Ein
schwacher Abglanz lebte — so könnte gesagt werden - in den
christlich absolutistischen Monarchien des Abendlandes fort.
Ein Ludwig XIV. nannte sich >Sonnenkönig< noch im 17. Jahr-
hundert. Doch der geistige Bezug war längst verlorengegan-
gen. In der Gotteskindschaft des Evangeliums, die nun für alle
Menschen gelten sollte, war aber bereits ein neuer Keim ange-
legt worden, der in die Zukunft weist.
Daneben erwuchs im 7. Jahrhundert eine ganz andere, auch
aus religiösem Impuls abgeleitete Volksordnung: der Islam. Er
ist auch eine »elitäre Laientheokratie< genannt worden. In sei-
nen Anfängen kannte er keinen Unterschied zwischen Rechts-
leben und Religion. Mit Khomeini fand in unserer Zeit in der
schiitischen Form des Islams eine Erneuerung dieser Einheit
von Religion und Rechtsleben statt. Die Gelehrten der Rechts-
schulen waren und sind die Hüter der Gesetze, und da diese
Gesetze aus dem Koran stammen, sind sie damit zugleich die
Vertreter und Hüter der Glaubenslehre. Ein riesiges Weltreich
konnte der Islam bereits in den ersten 150 Jahren seines Be-
stehens erobern. Es reichte von Innerasien bis nach Spanien,
wo unter seiner Herrschaft eine bedeutende Kultur entstand.
In den islamischen Völkern spielen die Blutsbande eine be-

25
sondere Rolle - gerade die Stammesfehden waren ein Anlaß
für den Aufbruch des Mohammed. Die von ihm verkündigte
Gemeinschaft der Gläubigen, die umma, übergreift zunächst
die Stämme, später auch die Völker. Der Mensch stammt nun
nicht mehr von Gott ab. Der ständig wiederholte Glaubens-
satz heißt: »Gott hat keinen Sohn.« Nach der ersten, in der
Nacht geoffenbarten Sure des Koran hat Gott den Menschen
aus geronnenem Blut erschaffen. Bei einigen asiatischen Stäm-
men der islamischen Welt spielt erstaunlicherweise die Blut-
rache bis ins 20. Jahrhundert hinein eine wesentliche Rolle.
Die arabisch-islamische Herrschaft wurde abgelöst durch die
islamische der turko-tatarischen Völker, die mit den Türken
ihre mächtigste Ausformung gewann. Mit dem Fall Kon-
stantinopels 1453 beginnt die Gefährdung des christlichen
Abendlandes und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation durch den Islam im europäischen Südosten immer be-
drohlichere Formen anzunehmen.
Während im fernen Westen, in Südamerika, ein christliches
Volk dem letzten Sonnenstaat begegnet und ihn zerstört, er-
steht im Südosten der >Antichrist< - so haben es die Christen
empfunden - unter dem türkischen Halbmond. In dieser Zeit
gewinnt das Osmanische Reich unter Süleiman II. (1520-1566),
genannt: >der Gesetzgeber^ die größte Ausdehnung und Macht-
fülle. 1529 erscheinen die Türken zum ersten Mal vor Wien,
dem Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na-
tion. Es ließe sich also sagen: Die Sonne geht unter, und der
Halbmond steigt auf. Es ist der Halbmond als Zeichen für den
türkisch geprägten Islam, der nun über Jahrhunderte in Süd-
osteuropa das politische und territoriale Erbe von Byzanz an-
tritt. In der arabischen Welt ist der Islam durch das in seinen
Gebieten in der Neuzeit entdeckte und allerdings durch den
Westen ausgebeutete Erdöl gegenwärtig wieder zu einem
Machtfaktor geworden. Dennoch wurde seine einstige Welt-

26
bedeutung längst abgelöst von einer dritten Ordnungsvor-
stellung, die zunächst Europa und USA, in unserem Jahrhun-
dert die ganze Welt, bestimmt.

2. Die Sternenordnung
Diese neue Volksordnung wird eigenartigerweise immer mit
dem Stern in Verbindung gebracht. Wir kennen das Sternenban-
ner der USA, die Europafahne mit dem Sternenkranz und den
Davidstern des israelischen Staates, aber auch den inzwischen
untergegangenen Sowjet-Stern. Die ersten drei Länder nen-
nen sich >Demokratien<. Theoretisch ist hier jeder einzelne
Bürger souverän und somit >König<. Die Individualität steht in
dieser Ordnungsvorstellung an oberster Stelle, und daneben
beobachten wir eine ausgeprägte Hinwendung zum Materialis-
mus. Das findet seinen Ausdruck in dem Übergewicht des Wirt-
schaftslebens. Dieses bestimmt sowohl in der kapitalistischen
wie in der kommunistischen >Demokratie< von gestern das Le-
ben der Menschen, die sich dieser Ordnung anheimgegeben
haben. Hier herrscht die Auffassung vor, daß der Mensch aus
Lehm, aus Erde also, gemacht worden sei. Das heißt, auch die
christlichen Völker übernehmen die Vorstellung des religösen
Erbes Israels, nach welcher der Mensch aus Lehm geschaffen
sei. Wer nur das Materielle als Realität anerkennt, für den ist
der Mensch durch seine Physis definiert, und diese ist tatsäch-
lich aus dem Stoff der Erde gebildet. Dennoch ist es ein großer
Unterschied, ob der Mensch sich als von der Sonne abstam-
mend empfindet oder ausschließlich vom Erdenstoff. Beides hat
jedoch eine Berechtigung, nur darf nicht übersehen werden,
daß damit immer nur eine Komponente des Menschseins er-
faßt wird und nie der ganze Mensch. Im Grablegungsritual der
Kirchen >Erde zu Erde< wird nur die Leiblichkeit des Menschen
angesprochen.
Werfen wir nun noch einmal einen Blick zurück auf unsere

27
aufgelisteten Dreiheiten, dann können wir sie zunächst er-
gänzen um drei Herrschaftsformen: >Monarchie< (Herrschaft
eines Einzigen, von Gott abgeleitet), >01igarchie< (Herrschaft
Weniger, auch als Aristokratie auftretend, blutsgebunden an
alteingesessene, vielfach reiche Familien) und drittens D e -
mokratie* (Herrschaft >aller<, des ganzen Volkes):

Statt der Querverbindungen haben wir jetzt die Reihen ver-


tikal verbunden, und stoßen dadurch auf ein sehr eigenartiges
Phänomen, das sich überraschenderweise ergibt. Was unter
der Sonne aufgelistet ist, stimmt in großen Zügen genau mit
dem überein, was als Kriterium für den Sonnenstaat genannt
werden konnte, und das Gleiche trifft für die anderen beiden
Reihen zu. Darüber hinaus haben die Demokratien, wie oben
bereits erwähnt, sich nun auch den Stern zum Symbol gewählt,
und bei vielen islamischen Staaten finden wir bis heute den
Halbmond in den Fahnen, so von Türkei, Ägypten, Pakistan
und Tunesien. Doch wird das Zeichen des Mondes jetzt ver-
bunden mit dem Stern. Das heißt: Auch die Mohammed
geoffenbarte irdische Rechtsordnung des Korans kann sich der

28
allgemeinen Entwicklung zur Mündigkeit des Menschen nicht
ganz entziehen und stellt das Pentagramm - das Zeichen des
Menschen - neben den Halbmond. Syrien und Marokko haben
nur den Stern, und Jemen und Saudi-Arabien zeigen Schwert
und Koranwort, bzw. Schwert und Stern und weisen damit in
ihrem Symbolgehalt auf den »Heiligen Krieg< als Auftrag hin.
Die Fahne Japans zeigt die Sonne im weißen Feld bis heute.
Natürlich ist dies keine vollständige Auflistung. Es soll nur
eine mögliche Denkrichtung aufgezeigt werden, die von jedem
Leser weiter verfolgt werden kann.
Wenn wir uns noch einmal alle drei Reihen vergegenwärti-
gen, dann können wir feststellen, daß sie jeweils sehr einseitig
einen bestimmten Aspekt des Menschseins herausgreifen und
in den Mittelpunkt ihrer Ordnung stellen. Wenn aber unsere
Dreiheit zurecht besteht, und zwischen Sonne, Mond und Ster-
nen jeweils ein verbindendes Pluszeichen zu setzen ist, wie bei
Volk und Familie und Individualität oder Geist und Seele und
Leib, und diese als Ganzheit verstanden werden, dann muß
diese einseitige, vertikale Ableitung zwangsläufig falsch sein
und in die Irre führen.
Am deutlichsten wird dies bei unserer gegenwärtigen >Ster-
nenordnung<. Hier sind wir inzwischen bei der Zerstörung der
Seele und der Erde als der Lebensgrundlage des Menschen
angelangt. Man könnte das bekannte Märchen vom Sterntaler
auch auf diese Reihe beziehen. Sicher ist dies eine sehr unge-
wöhnliche Interpretation, aber sie ist durchaus in dem von den
Brüdern Grimm uns übergebenen Text zu finden: Das Stern-
talerkind ist ein Kind ohne jeden menschlichen Bezug, seine
Eltern sind gestorben, es hat kein Heim, keine Heimat mehr,
es wird gesagt: kein Zuhause, kein Bettchen, in dem es schla-
fen könnte, es besitzt nur noch eine Mütze, das, was es auf
dem Leibe trägt, und ein Stück Brot. Die Kopfbedeckung ist
immer als Symbol für den Bezug zur geistigen Welt verstan-

29
den worden, zum spirituellen Sein des Menschen. Wir brau-
chen nur an die Tiara des Papstes, an die Kardinalshüte, an
die große Kopfbedeckung der Pharaonen oder auch an die Zip-
felmütze der Zwerge zu denken. Das Brot weist auf den Zu-
sammenhang mit der Natur hin, und das, was der Mensch als
Leibeshülle trägt, kann auch verstanden werden als das See-
lenhafte, die Seelenhülle. Das Sterntalerkind, das hinaus in
das Feld geht, gibt dem ersten, der ihm entgegentritt und sagt:
»Ich bin so hungrig. Kannst du mir nicht etwas zu essen ge-
ben?«, sein Stück Brot. Es zögert nicht, es denkt nicht, es gibt,
könnte man sagen, unbedenklich die Beziehung, die es noch
mit der Natur hat, weg. Dem nächsten Bittsteller gibt es, eben-
falls ohne Bedenken, seine Mütze, das heißt seinen spirituel-
len Bezug, ab. Und als letztes gibt es alle seine Seelenhüllen,
sein Leibchen, Hemd, Rock fort. So steht es ganz nackt da, nur
noch seine eigene Leiblichkeit besitzend. Und in diesem Au-
genblick, so heißt es bei Grimm: »Und wie es so stand und gar
nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel
und waren lauter harte, blanke Taler. Und obwohl es sein
Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war
vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hin-
ein und war reich für sein Lebtag.«
Nachdem der Mensch alle seelisch-geistigen Bezüge fortge-
geben hat und nur noch in seiner Physis existiert und sich of-
fenbar nur noch damit verbindet, da werden sogar die Sterne
zu harten blanken Talern, und der Mensch wird im Materiellen
reich sein Leben lang. Er hat alles umgewandelt in materiel-
len Besitz. Und dieses genau ist Kennzeichen unseres gegen-
wärtigen Zustandes, gegen den die Ökologiebewegung seit Jahr-
zehnten aufbegehrt und zur Rückbesinnung mahnt. Diese
Märchendeutung ist nur in einem materialistischen Zeitalter
möglich und tritt neben zwei andere, bisher bekannte esoteri-
sche Interpretationen. Die aus mythischem Vorstellen stam-

30
menden Märchenbilder erlauben in der Regel verschiedene Aus-
legungen. Es sei hier nur an Eugen Drewermann erinnert, der
meint, selbst noch beim Märchen vom Marienkind den Inhalt
als Darstellung der sexuellen Entwicklung und einer über-
starken Mutter-Kind-Bindung erklären zu können.3
Wenn wir also eine menschen- und erdengemäße - man könn-
te auch sagen himmelsgemäße — Ordnung schaffen wollen, dann
wird alles darauf ankommen, ob es uns gelingt, aus diesem
vertikalen Konzept herauszukommen und das dreigliedrige We-
sen in seiner Ganzheit zur Erscheinung zu bringen, auch in
unserer jeweiligen Volksordnung.
Hier soll noch einmal zurückgeblendet werden zum Sonnen-
staat. Wir wissen, daß 66 Jahre nach Ermordung des letzten
Inka ein Dominikanermönch, gebürtig aus Süditalien, das da-
mals spanisch war, einen 27jährigen Leidensweg durch die
Folterkammern der Spanier antrat, weil er eine als gefährlich
erscheinende neue Staatsordnung entwarf. Er gab 1602 zum
ersten Mal die Konzeption eines Sonnenstaates heraus, die er
dann während seines weiteren Lebens — er starb 1639 - noch
mehrfach überarbeitete und die 1623 gedruckt wurde.4
Dieser von Campanella konzipierte Sonnenstaat läßt un-
schwer seineAnlehnung an Piaton erkennen. Campanella sieht
entsprechend der damaligen Vorstellung der sieben Planeten
seinen Sonnenstaat in sieben Ringen angeordnet. Im Mittel-
punkt steht der Tempel mit den Zeichen der Gestirne und der
Darstellung der Erdkugel. Die staatlichen Angelegenheiten
werden von drei Hauptvertretern geordnet und geleitet: von
der Macht, der Weisheit und der Liebe, wobei die Macht zu-
ständig ist für den Schutz des Staates und die Aufrechter-
haltung der Ordnung. Dazu gehört auch die Außenpolitik. Die
Weisheit ist zuständig für Religion, Kultus und das gesamte
Bildungsleben. Zur Liebe, die vornehmlich für Zeugung und
Fortpflanzung steht, gehört das Wirtschaftsleben mit Land-

31
Wirtschaft, Handwerk und Handel. Diese drei kommen zusam-
men unter der Leitung des im Mittelpunkt stehenden Sol. Cam-
panella sagt: der Metaphysikus. Aber in der Auflistung der
Eigenschaften, die dieser Metaphysikus, genannt Sol (Sonne),
besitzen muß, wird erkennbar, daß hier kaum noch an ein Men-
schenbild gedacht ist. In diesem Sol vereinigt sich das gesamte
Wissen der Menschen, die Kenntnis aller Naturgesetze, aber
auch die Beherrschung aller praktischen Fähigkeiten, die von
den einzelnen Menschen ausgeübt werden. Er ist also wirklich
eine Art Übermensch und geht aus der Bevölkerung durch sei-
ne überragende Befähigung und Ausbildung hervor.
Bei Piatons Utopie bestand die Dreiheit in den Herrschern,
den Wächtern und den Arbeitenden, die nach Piatons Ansicht
die unterschiedlichen Befähigungen der Menschen verkörpern.
Die >Herrscher< waren den beiden anderen Gruppen überge-
ordnet. Hier, bei Campanella stehen die drei Bereiche neben-
einander, und eine andere Instanz, ein Metaphysikus, ist ih-
nen übergeordnet. Das bedeutet nichts anderes als ein über
das Physische hinausreichendes Wesen, Sol, also ein Sonnen-
wesen, ist der spiritus rector. Campanella räumt zwar die Mög-
lichkeit einer Ablösung durch eine noch höher befähigte Per-
sönlichkeit ein, doch spricht dies nicht gegen eine rein geistige
Wesenheit im Zentrum aller staatlichen Ordnung. Die im
>Sonnenstaat< dargestellten Einzelheiten sind zeitgebunden und
auch heute weder wünschenswert noch praktikabel. Wahr-
scheinlich waren sie aber auch schon damals verschlüsselte
Bilder und nicht wörtlich zu nehmen.

3. Der dreigliedrige soziale Organismus


Polaritäten als Ganzheiten zu verstehen, die sich gegenseitig
bedingen und nicht im Dualismus auseinanderklaffen, fällt
schon vielen Menschen sehr schwer. Wie viel schwieriger wird

32
es mit der Vorstellung von einer Dreiheit, insbesondere dann,
wenn die einzelnen Glieder in ihrer Eigenart stark ausgebildet
sind. Wir haben gesehen, wohin der Mensch kommt, wenn er
sich einer in sich durchaus folgerichtigen Gedankenreihe an-
heimgibt. Wie für den Einzelmenschen dargestellt, so wird auch
jeder Volksorganismus völlig aus dem Gleichgewicht gebracht,
wenn einem der veranlagten Wesensglieder Vorrang einge-
räumt wird.
Versuchen wir einmal, die jeweiligen Dreiheiten als Ganzes
- untrennbar miteinander verbunden und auf- und ineinander
einwirkend - darzustellen (Abb. 1). Wie die Naturwissenschaft
mit Diagrammen, Schaubildern, Kurven und Koordinaten-
system arbeitet, sollte es auch der Geisteswissenschaft zu-
gestanden werden, ihre Aussagen bildhaft anschaulich zu ma-
chen, allerdings in ihr angemessenen Bildern.
Beginnen wir beim Einzelmenschen. Dieser tritt mit seiner
Geburt physisch in Erscheinung. Die erste Frage gilt fast im-
mer dem Geschlecht: »Ein Junge oder ein Mädchen?« Es ge-
hört dies unmittelbar zur leiblichen Erscheinung, und weiter
gelten als für die Leiblichkeit kennzeichnend Größe und Au-
genfarbe, wie im Personalausweis vermerkt. Sein Geschlecht
hat der Mensch mit etwa der Hälfte der Menschheit gemein-
sam. Die Körperlänge und die Augenfarbe sind ebenfalls kein
Sondergut. Aber etwas weist schon der Körper auf, was nur
diesem einen Menschen zugehört, unverwechselbar: der
Fingerabdruck, der deshalb in der Kriminalistik eine so große
Rolle spielt. Und dieser individuelle Fingerabdruck wird be-
reits im Mutterleib ausgebildet, wie der Begründer der Hu-
manembryologie, Prof. Dr. E. Blechschmidt, festgestellt hat.5

33
34
Als nächstes muß das neugeborene Kind so schnell wie mög-
lich einen Namen erhalten. Das verlangt für die Volksordnung
das Standesamt. Damit wird bereits die Persönlichkeit ange-
sprochen, das noch unentwickelte Geistwesen des Menschen,
der dann später bei allen Angaben zur Person auch nach sei-
nem Beruf gefragt wird, also wieder nach seinen individuellen
Fähigkeiten, wobei er ein mittelmäßiger Lehrer, guter Hand-
werker usf. sein kann, aber auch auf seinem Gebiet ein Genie.
Und schließlich wird auch das genaue Geburtsdatum festge-
halten, am besten mit Stunde und Minute6; drückt sich doch
darin das Eingebettetsein in kosmische Zusammenhänge aus,
welche die Individualität wesentlich prägen.
Doch mit diesen Merkmalen ist der ganze Mensch noch im-
mer nicht erfaßt. Es gehört noch hinzu - und das steht dann
ebenfalls im Paß -, an welchem Ort und in welches Volk hinein
dieser Mensch geboren wurde und schließlich noch in welche
Religionsgemeinschaft. Diese letztgenannten Faktoren bestim-
men das Seelenleben, Empfinden und die menschlichen Bindun-
gen (Abb. 2).
Es handelt sich in dieser Abfolge nicht um Theorien oder
eigenwillige Konstruktionen, sondern um Selbstverständlich-
keiten, Lebenstatsachen, die auch deswegen bis in jeden Rei-
sepaß eingehen. In der Regel werden solche Dokumente nicht
bewußt erfaßt. Der Mensch geht mit unendlich vielen Lebens-
erscheinungen selbstverständlich um, ohne wirklich zu wissen,
was aus den einzelnen Begriffen und Tatsachen zu ihm spre-
chen will. Doch es könnte sein, daß sich dies gegenwärtig zu
ändern beginnt, wo immer mehr Menschen sich geistigen Übun-
gen zuwenden, sei es nun in Meditation, Selbsterfahrung oder
Yoga. Auch das dreigliedrige Symbol (Abb. 1), das in einer Li-
nie ohne Anfang und Ende zu ziehen ist, könnte als Meditations-
bild oder als Übungsaufgabe verstanden werden.
Der Begriff >Organismus< entstammt der Welt des Lebendi-

35
gen. Wir verstehen darunter immer eine mehrgliedrige Ganz-
heit, bei der die einzelnen Glieder aufeinander bezogen sind,
wobei ein jedes seine besondere Aufgabe wahrnimmt und doch
immer Teil des Ganzen bleibt. Neben dem einzelmenschlichen
Organismus gibt es den Volksorganismus. Auch er ist eine le-
bendige Ganzheit im Gegensatz zu Gesellschaft, Partei oder
Verein, die gebildet, begründet und wieder aufgelöst werden
können, je nach Bedarf der sich darin zusammenfindenden
Menschen. Volkstum, Volksseele und Volksgeist sind geistige
Wesenheiten, die unabhängig von einzelmenschlichem Willen
und Handeln existieren.
Die den Volksorganismus bildenden drei Wesensglieder wur-
den bereits genannt. Auch sie sind immer nur im Zusammen-
hang zu begreifen, haben aber ihre eigene Gesetzmäßigkeit.
Rudolf Steiner hat dies in seinen Vorträgen zur sozialen Frage
immer wieder dargestellt.7
Betrachten wir zunächst den eigentlichen Bereich der Po-
litik, das Rechtsleben. Für Demokratien gilt als Kernstück die
Gewaltendreiteilung: die Gesetzgebung (Legislative), die Ver-
waltung (Exekutive) und die Rechtsprechung (Jurisdiktion).
Für Verwaltung und Rechtsprechung sind die Volksangehörigen
mit gleichen Rechten geboren. Diese Rechte kann der einzelne
verspielen oder nicht in Anspruch nehmen, das ist zweitran-
gig. Zunächst einmal ist das herrschende Prinzip des Rechts-
lebens die Gleichheit der Bürger, wenn von dem selbstbestimm-
ten, mündigen Bürger ausgegangen wird. Die bei der Gewal-
tenteilung aufgeführte Gesetzgebung findet im Grunde gar
nicht hier, sondern im Bereich des Geisteslebens statt. Im Be-
reich des Staates geht es um die Gesetzesanwendung und um
innere und äußere Sicherheit, die besser statt der Legislative
diesem als dritter Bereich zugeordnet werden sollte.
Zum Geistesleben oder Kulturbereich gehört die gesamte
Erziehung und Ausbildung vom Kindergarten bis zur Universi-

36
tät. Weiter gehören hierhin Religion und Kunst, die jahrtausen-
delang eine Einheit darstellten, und selbstverständlich Wis-
senschaft und Forschung. Gerade in diesem letztgenannten
Teilgebiet finden die Gesetze ihre Formulierung und fließen
über in das Rechtsleben. Die Gesetzgebung steht also genau
auf der Grenze oder auch als Bindeglied zwischen beiden. In
das Geistesleben gehören alle Freiheitsrechte, denn das Prin-
zip des Geisteslebens ist die Freiheit.
Das Wirtschaftsleben ist geprägt durch eine Vielzahl von
>Dreiheiten<:
O Landwirtschaftskammer, Handwerkskammer und Indu-
strie* und Handelskammer,
O Produzent - Warenzirkulation - Konsument,
O Arbeitnehmer - Arbeitgeber - Banken
O Arbeit - Natur - Kapital
Für unser Bild (siehe Abb. 3) verwenden wir die umfassende
Dreiheit: Arbeit, die unmittelbar in Beziehung steht zu Er-
ziehung und Ausbildung, Natur als Rohstofflieferant und da-
mit Voraussetzung für alles Arbeiten und schließlich das
Tauschmittel Geld, welches im Staat seine Begründung und
Sicherheit hat. Silvio Gesell, der sich intensiv mit dem Tausch-
mittel Geld befaßte, kommt daher zu der Aussage: »Das Geld
braucht den Staat; ohne Staat läßt sich kein Geld denken, ja,
man kann sagen, mit der Einführung des Geldes beginnt die
Gründung des Staates.«8 Auch hier gibt es also einen fließen-
den Übergang vom einen Bereich in den anderen.
Fragen wir nach dem im Wirtschaftsleben geltenden Prin-
zip, so ist die Antwort wesentlich schwieriger als bei den ande-
ren beiden Wesensgliedern. Nach den drei Kategorien der de-
mokratischen Revolution Frankreichs »Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit fehlt noch die Brüderlichkeit, heute meist mit
dem Fremdwort >Soziales< benannt. Wir haben zwar eine so-
ziale Marktwirtschaft und ein soziales Netz und wissen, daß

37
die Wirtschaft der Lebenserhaltung zu dienen hat, doch ist sie
mehr und mehr zum Selbstzweck geworden. Sie wird beherrscht
vom Konkurrenzkampf, von Egoismus und Eroberungswillen,
von Großkonzernen und Tarifrunden. In den sogenannten Ta-
rifrunden, die eigentlich Verteilungskämpfe sind, bei denen je-
der möglichst noch mehr haben möchte, wird das Fehlen der
Solidarität - das brüderliche Verhalten untereinander - be-
sonders deutlich erlebbar. Der Widerspruch zwischen Soll- und
Ist-Zustand im Bereich der Wirtschaft ist offensichtlich.
Wenden wir nun unseren Blick noch einmal zurück auf die
einzelmenschliche Individualität mit ihren drei Wesensgliedern:
Geist, Seele, Leib. Diesen werden die drei Grundtätigkeiten
der Seele zugeordnet: das Denken, Fühlen und Wollen, mittels
derer der Mensch in die Welt mehr oder weniger bewußt ein-
greift. Schon Piaton erklärte die Notwendigkeit der harmoni-
schen Ausbildung dieser drei Seelenkräfte, um zu ihrer Ver-
vollkommnung zu gelangen. Sie müssen also entwickelt und
geführt werden. Diese Aufgabe übernimmt das Ich. Es ist so-
zusagen der Mittelpunkt, in dem sich alle drei verbinden und
von wo aus diese zusammengehalten werden (Abb. 4). »Ich
denke, ich fühle, ich will« sind grundlegende Aussagen des
Menschen über sich selbst.
Was aber steht in der Mitte des sozialen Organismus, diesen
steuernd und harmonisch zur Ausgestaltung bringend? Für die
Theokratie im >Sonnenstaat< ist diese Frage einfach zu beant-
worten: der Sonnensohn, der gottähnliche Pharao im Beispiel
Ägyptens. Im islamischen Staat ist es der Koran, >das von Gott
offenbarte Grundgesetz< an dem alles menschliche Tun gemes-
sen werden soll - wenn dies auch immer wieder gebrochen wird.
Doch wer oder was kann diese Aufgabe in einer Demokratie
übernehmen?
Bevor auf diese Frage eingegangen wird, soll das Zusam-
menwirken des natürlichen einzelmenschlichen und des sozia-

38
len Organismus angeschaut werden. Der Mensch steht nicht
außerhalb, sondern innerhalb der sozialen Ordnung. Sie bie-
tet ihm die Lebensvoraussetzung, den Schutz und durch die
Sprache die Möglichkeit zur geistigen Entwicklung sowie in
ihren Bildungsstätten alle Voraussetzungen für die persönli-
che Entfaltung durch ein eigenständiges Berufsleben. Umge-
kehrt wirkt der Mensch durch sein Denken, Fühlen und Wol-
len auf diesen Organismus ein. In großen Persönlichkeiten kann
durch einen einzelnen Menschen dieser Volksorganismus eine
starke Prägung erfahren. Bringen wir daher die in Abb. 2, 3
und 4 gezeigten >Kleeblätter< in Deckung, das heißt hier: legen
sie ineinander, dann ergibt sich die farbige Abbildung 5, farbig
deshalb, um das Bild zu veranschaulichen, das Willenselement,
die Gefühlsebene und das dem Geistigen Zugehörige jeweils
mit einer eigenen Farbe gekennzeichnet wurden: Wollen - Blau,
Fühlen - Rot, Denken - gelb. Zu unserer Überraschung zeigt
sich, daß jedes Wesensglied - bemerkenswerterweise - alle drei
Farben enthält.
Die physische Existenz des Menschen wird vom Staat (Rechts-
leben) geschützt, und die Beziehungen der Menschen werden
untereinander geregelt. Umgekehrt bedarf dieses Rechtsleben der
Anerkennung durch seine Bürger. Erheben diese denAnspruch,
als gleichberechtigt und mündig anerkannt zu werden, dann tra-
gen sie die volle Verantwortung für das Gemeinwesen mit, dem
sie daher ihr Denken zuwenden müssen.
Die Wirtschaft in einer modernen Industriegesellschaft ist
geprägt vom Erfindungsgeist der Menschen. Ihr Hauptzweck
ist die Versorgung der Bürger mit den lebensnotwendigen Gü-
tern, den »Lebensmitteln< Nur wenn hier ein ausgeprägtes
Gefühl für Bedürfnis und Not des Mitmenschen, aber auch für
die Lebensgrundlage Natur selber entwickelt wird, kann sie
im Gleichgewicht erhalten werden. Sonst entsteht tatsächlich
ein Kampf ums Leben, ein Kampf aller gegen alle.

39
Die im Sektor Geistesleben erscheinende Dreiheit macht im
ersten Augenblick stutzig. Wieso gehört hierher als Seelen-
tätigkeit das Wollen? Doch bei einigem Nachdenken tauchen
die ungeheuren Willensanstrengungen auf, die schon das Kind
im Erlernen der Sprache, des Schreibens und Lesens aufzu-
bringen hat. Nur wer immer wieder seinen Spieltrieb, seine
Bequemlichkeit, seine Lust am ziellosen Herumschweifen über

windet und - wie es so schön heißt - mit >eisernem< Willen den


einmal eingeschlagenen Pfad verfolgt, kann sein Ziel erreichen.
Am deutlichsten wird dies bei der Ausbildung eines Musikers.
Um ein Instrument mühelos zu beherrschen, bedarf es uner-
müdlicher Willensanstrengung in jahrelangem täglichen Üben.
Von dem seit dem frühen Mittelalter in den Klöstern geübten

40
Geistesleben mit seinen strengen Ordensregeln und lebenslan-
gen Verpflichtungen braucht gar nicht erst gesprochen zu wer-
den.
Es ist offenbar ein Wahrbild vor unseren Augen entstanden,
das uns genaue Anleitung gibt, um zu dem menschen- und er-
dengemäßen, harmonischen, sozialen Organismus zu gelangen.
Doch diese Harmonie oder Ausgewogenheit existiert zur Zeit
nur in der Idee, jedoch noch nicht in der Erdenwirklichkeit,
und darin liegt die Ursache für die überall aufbrechenden Ka-
tastrophen.
Das Wirtschaftsleben lastet wie ein ungeheurer Moloch auf
den anderen Bereichen. In ihm wirkt zur Zeit nicht Nächsten-
liebe oder Brüderlichkeit, sondern ein starker Willensimpuls,
und dieser wird unseligerweise verknüpft mit Liberalismus,
mit einer nur auf die Egoität bezogenen Scheinfreiheit. Der
schöpferische Mensch stellt seine Erfindungsgabe und techni-
schen Fähigkeiten in den Dienst des Materialismus und voll-
bringt tatsächlich großartige Leistungen, doch ohne Rücksicht
auf das Leben. So schwillt der Bereich der Wirtschaft immer
mehr an, überlagert das Rechtsleben, macht sogar mit Hilfe
des Kapitals den Staat zu seinem abhängigen Komplizen. Von
17 Ministerien (1988) dienen 10 dem Wirtschaftsleben und nur
5 dem eigentlich politischen Bereich. Ein verkümmertes An-
hängsel wird das, zwar die Forschung und Wissenschaft bei-
steuernde, Geistesleben, doch wir alle wissen, daß auch hier
das Kapital bestimmt, was geforscht, und die Wirtschaft ins-
gesamt, was gelehrt wird: nämlich alles dasjenige, was sie zu
ihrer weiteren Wucherung braucht (Abb. 6.)
Es ist also nicht nur der Mensch durch sein einseitiges ma-
terialistisches Weltbild seiner ursprünglichen Wesenheit ent-
fremdet, sondern genau so und durch dieselbe Ursache der
ganze soziale Organismus aus dem Gleichgewicht gebracht und
zu einer Karikatur seiner selbst gemacht worden.

41
42
Doch die Frage nach der Führung im innersten Kern des
sozialen Organismus ist damit nicht beantwortet. Nur die Rich-
tung ist gekennzeichnet, wo eine Antwort gefunden werden
könnte. Wird unter Demokratie eine Gemeinschaft mündiger
Bürger verstanden, die ein Volk darstellen, so kann weder ein
Monarch noch ein Diktator, aber auch kein Präsident diese
Stellung einnehmen, am allerwenigsten ein nicht einmal vom
Volk unmittelbar gewählter. Ohne daß die mit nachfolgendem
Begriff durch die geschichtliche Entwicklung verbundene Be-
lastung uns bei dieser Überlegung beirren darf, wäre nur ein
Pontifex maximus vorstellbar, der den Wortsinn dieser Bezeich-
nung durch seine über jeden Zweifel erhabene Persönlichkeit
zu erfüllen vermöchte: ein wahrhaft großer >Brückenbauer< zum
Volksgeist, zur spirituellen Wesenheit des jeweiligen Volkes hin
und damit zum Urbild des Menschen als höchster Instanz, das,
wie der Johannesprolog sagt, »bei Gott ist«. So wurde es einst
auch empfunden, wenn sich Friedrich Wilhelm I. als »Amtmann
Gottes« und noch seine späteren Nachfahren als »von Gottes
Gnaden« Berufene verstanden. Der >spiritus rector< des sozia-
len Organismus wäre somit der im ersten Band dargestellte
Christos-Logos, der große >Ich bin<, in dessen Wesenheit all die
kleinen >Ich bin< aufgehen und ihren Ursprung haben. Auch
das läßt unsere Abbildung 5 erahnen.
Campanellas >Sol< ist gelegentlich mit dem Papst gleich-
gesetzt worden. Der damalige scheint aber klug genug gewe-
sen zu sein, um zu durchschauen, daß darunter eine ganz an-
dere, höhere und ihn entmachtende Wesenheit zu verstehen
sei, sonst wäre kaum zu erklären, warum Spanien und die Kir-
che diesem Mönch eine so furchtbare 27jährige Kerkererfah-
rung zuteil werden ließen.
Wie verschafft sich eine solch rein geistige Wesenheit Hände
und Stimme, um sich erkennbar machen zu können? Nur durch
einzelne Menschen, die sich ihrem Dienst widmen. Könnte man

43
jetzt nicht einwenden, reiner Idealismus und völlig wirklich-
keitsfremd? Nun, wahrscheinlich wirklichkeitsgemäßer als die
Vorstellung eines dauernden Wirtschaftswachstums, das zu
Ende des 20. Jahrhunderts immer noch das Wunschbild von
Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern ist. Denn immer
noch gibt es integre Persönlichkeiten, die bei aller Erfahrung
in den >Erdenkünsten< sich das Wissen um ihre >Gotteskind-
schaft< bewahrt haben, für die >Opfer<, >dienen< und >Ehrfurcht<
keine leeren Worte sind und die als »Amtmann Gottes« die
schwere Bürde der Volksverantwortung auf sich nehmen könn-
ten als Siebener- oder Fünfer- oder auch Dreißiger-Kreis. So
verstanden ist Religion keine Privatsache, sondern höchste Ver-
pflichtung für verantwortlich handelnde Volksführer, auch und
gerade in ihrer Amtsführung.
Wie diese Persönlichkeiten vom Volk gefunden, gewählt und
beauftragt werden, ist hier nicht darzustellen. Es gibt hi-
storische und theoretische Beispiele, auf die wir nur zu-
rückzugreifen brauchen. Bereits seit Beginn unseres Jahrhun-
derts hat Rudolf Steiner sich um die Behandlung der »sozialen
Frage< bemüht9. Er hat die Struktur der einzelnen Glieder des
sozialen Organismus bis in Einzelheiten immer wieder beschrie-
ben. Er scheiterte nach eigener Aussage am Fehlen ganzheit-
lich denkender Menschen, die diese Vorstellung wirklichkeits-
bezogen und dynamisch in der Öffentlichkeit vortragen konn-
ten, aber auch an der Zeitlage und dem bereits materialistisch
verkümmerten Denken der Zeitgenossen. Ein fehlendes ganz-
heitliches Denken wird aber auch daran erkennbar, daß sich
Arbeitskreise für >Dreigliederung< entwickelten und es sogar
die Bezeichnung >Dreigliederer< bis heute gibt: Es geht aber
gar nicht so sehr um das Gliedern, das schnell zum Zerglie-
dern wird, sondern um den sozialen Organismus. Sicher muß
man genau wissen, wie ein einzelnes Glied dieses Organismus
»funktioniert, welche Aufgaben es für das Ganze hat, doch der

44
Schwerpunkt liegt immer bei der Ganzheit, die nicht aus dem
Blick verloren werden darf. Was für die Medizin gilt, scheint
auch hier zuzutreffen: Es entwickelten sich Spezialisten, die
sich vornehmlich mit einzelnen Organen befassen, über die sie
nun auch alles wissen. Bei den Dreigliederern stehen entspre-
chend immer wieder Einzelglieder im Vordergrund: das freie
Geistesleben oder die Wirtschaft; der Staat wird gern verges-
sen, weil er die Selbstverwirklichung beeinträchtigte und da-
her ungeliebt ist.
Es darf auch nicht überlesen werden, daß Steiner deutlich
darauf hinweist, daß die Gegebenheiten und die notwendigen
Maßnahmen zur Heilung des sozialen Organismus in wenigen
Jahrzehnten ganz andere sein könnten als zu der Zeit, in der
er lebte. Steiners Ausarbeitungen beziehen sich zudem auf ei-
nen »vorökologischen Zustand«, das heißt auf eine Epoche, in
welcher das »irdische Gleichgewicht« (Gruhl) durch die Hyper-
trophie der Wirtschaft noch nicht schwer gestört war. Schon
von daher müssen heute grundlegend andere Maßnahmen er-
griffen werden. Das gilt insbesondere für die ökologische und
wirtschaftliche sowie soziale Katastrophenlage, in der wir uns
zu Ende des zweiten Jahrtausends vornehmlich in den hochin-
dustrialisierten Ländern befinden.
Wie bereits mehrfach betont, ist ein Überleben, in welcher
Form auch immer gedacht, nur dann möglich, wenn ein wie-
der ganzheitlich denkender Mensch sich auf die ihm gewie-
sene Weltaufgabe besinnt und beginnt, den verlorengegangenen
Faden zur Geistigen Welt, zum Göttlichen oder zur spirituellen
Seinsweise - man mag das nennen, wie man will — wieder an-
zuknüpfen. Dazu bedarf es der Bildung im umfassenden deut-
schen Wortsinn.

45
4. Die Freiheit erwachte in Deutschland
Um diese volkbildende Aufgabe zu erfüllen, bedarf es eines
gemeinsam anerkannten Menschenbildes. Wie dies Menschen-
bild zu sehen ist, bitten wir dem ersten Kapitel des ersten Ban-
des zu entnehmen.
Die deutsche Geistesgeschichte ist ebenso wie der deutsche
Volkscharakter in seiner Ursprünglichkeit durch das Verlan-
gen nach Freiheit gekennzeichnet. So steht im Mittelpunkt der
bisher entwickelten Geschichte des deutschen Volkes die >Re-
formation<. Es wäre sehr begrenzt, diese lediglich als eine kon-
fessionelle Auseinandersetzung einzuordnen. Sie ist der Auf-
bruch in eine geistige Freiheit und entspricht der natürlichen
Entwicklung der Individualität, die nach Ablauf ihrer Kind-
heit im Reifealter der Jugend durch eigene Bewußtseinsbil-
dung nach Mündigkeit, das heißt nach Vollmacht über sich
selbst, strebt. Anthropologisch gesprochen ist dies das heute
von jedem gesunden Menschen erlebte Erwachen des Ich im
Willen zur freien Entscheidung und Selbstgestaltung des per-
sönlichen Lebens.
Aus der Geschichtsphilosophie von Karl Jaspers ist die von
ihm gewählte Bezeichnung »Achsenzeit« für jene Epoche be-
kannt, die er etwa für die Zeit vom 6.-4. Jahrhundert vor un-
serer Zeitrechnung ansetzt: In ihr begannen auf der nördli-
chen Erdhälfte von West bis Ost das Fragen nach dem Stand-
ort des Menschen im Kosmos und das Nachdenken über sich
selbst und die Erkenntnis seines Eigenseins: die Entdeckung
seines >Ich<. Bemerkenswert ist, wie im ersten Band bereits
dargestellt, der in den beiden führenden Sprachen der Antike
in jener Zeit einsetzende Gebrauch des persönlichen Pronomens
>ich< - im heutigen Englisch sogar großgeschrieben >I<. Im letz-
ten Kapitel des ersten Bandes beschrieben wir den Eingang
dieser hervortretenden Eigenbezeichnung in das religiöse

46
Selbstbewußtsein durch die Botschaft aus Galiläa. Unverkenn-
bar ging aus dieser die Mündigsprechung des Menschen her-
vor: >Ihr seid Götter!< (Joh. 10,34)
Was sich nahezu drei Jahrhunderte nach dem Ende der er-
sten deutschen Kaiserzeit in Deutschland ereignet hat: Die
Reformation hat nicht nur dem Thema nach, sondern als Fort-
setzung einer wesentlich früher bereits eingeleiteten jetzt fäl-
lig gewordenen Entwicklung mit der Achsenzeit zu tun.
Die Verheißung aus Galiläa lautete fundamental: »Die Wahr-
heit wird euch frei machen!« Diese Botschaft ist bis heute nicht
erfüllt worden. Für sie stritten in aufeinanderfolgenden Glau-
benskämpfen diejenigen, die Ketzer genannt worden sind. Es
ist dies ein Ehrenname, wenn von der ursprünglichen Wortbe-
deutung ausgegangen wird. Aus griechisch katharos, >rein<,
abgeleitet, kann damit der Anspruch, die >reine Lehre< zu ver-
treten, gemeint sein. Für diese stiegen Ungezählte auf den für
sie bereiteten Scheiterhaufen: »Die früh genug ihr eigenes Herz
nicht wahrten, hat man von je verketzert und verbrannt!« faß-
te Goethe zusammen. Der Vor-Reformator Johannes Huß, dem
dieses Schicksal auf Veranlassung der (damals kaiserlichen)
Reichsregierung widerfuhr, sagte als letztes Wort auf dem Schei-
terhaufen: »Die Wahrheit siegt!« Sie hat es bis heute nicht ge-
tan!
Dennoch gab es immer wieder Durchbrüche, die nach vorne
führten und Signale für die ganze Menschheit setzten.
Auch wenn die >Reformation< durch eine theologische Aus-
einandersetzung ausgelöst wurde, auch wenn sie zu einer re-
ligiösen Entscheidung führte und eine Spaltung der Christen-
heit in getrennte Konfessionen und Kirchen hervorrief, so war
sie weit darüber hinaus der Beginn eines Aufbruchs zur geisti-
gen Freiheit der Persönlichkeit in der Suche nach Wahrheit.
Nicht nur Luther (1483-1546), Zwingli(1484-1531) und Cal-
vin (1509-1564), sondern nicht weniger Kopernikus (1473-

47
1543), Giordano Bruno (1548-1600), Galilei (1564-1642) und
Kepler (1571-1630) müssen hier genannt werden.
Die Reformation und der sie begleitende Humanismus, die
Befreiung des Denkens, führten zum Aufbruch der neuzeitli-
chen Wissenschaft in allen Disziplinen, vor allem in die zeitge-
nössischen Naturwissenschaften jeder Art und damit auch in
die durch die Technik gewonnene Vollmacht der Menschheit.
Die Freiheit brach auf in Deutschland! Wird dessen Volk als
erstes sie wieder aufgeben, wie es gegenwärtig in vielerlei Hin-
sicht zu geschehen scheint? Wird das Recht auf die durch die
Weimarer Verfassung und das Bonner Grundgesetz beschwo-
rene Freiheit der Wissenschaft und der freien öffentlichen Mei-
nungsäußerung im Land der Reformation als erstes verleug-
net und wieder abgeschafft? Die von den Deutschen Martin
Luther und in unserem Jahrhundert von Rudolf Steiner pro-
klamierte Forderung nach einem freien Geistesleben als Vor-
aussetzung jeglicher kulturellen Erneuerung und insbesonde-
re der gegenwärtigen Menschheitsentwicklung einzig angemes-
sen, wird für bestimmte Bereiche wieder ausgesetzt.
Das deutsche Volk, das in seiner geschichtlichen Entwicklung
diese Stufe erreicht hatte, wurde im 16. Jahrhundert zum Bahn-
brecher für die Völker der Menschheit.
Heute hat es den Anschein, daß von Geistesfreiheit innerhalb
unseres Gemeinwesens kaum noch gesprochen werden kann.
Die Errungenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, eine freie
Wissenschaft, wird heute wieder in Frage gestellt, indem die
Veröffentlichung ihrer Ergebnisse durch eine entsprechende
Gesetzgebung eingeschränkt oder gar unterbunden wird. Es
bedarf hier nicht der Anführung von flagranten Beispielen,
welche die Öffentlichkeit beunruhigen durch Urteile, welche
von der obersten Justizbehörde der Bundesrepublik Deutsch-
land ausgehen und die im Widerspruch zum Grundgesetz un-
seres Staatswesens stehen.

48
Der deutsche >Idealismus<, als Geistesbewegung verstanden,
ließ durch Schiller im Don Carlos seine Stimme vernehmen:
»Geben Sie Gedankenfreiheit!« Ein deutscher König, dem Eu-
ropa den Ehrennamen >der Große< gab, der Hohenzoller Fried-
rich von Preußen, hat - vielleicht als erster - diesem Prinzip
den Weg geöffnet und konfessionelle Beschränktheit sowie phi-
losophisches und politisches condamnatur (er sei verdammt)
in die Schranken gewiesen. Trotz seines Rufes, dem jesuiti-
schen Prinzip eines >Kadavergehorsams< zu folgen, gehörte
Preußen zu den freiheitlichsten Staaten, die das friedliche Zu-
sammenleben unterschiedlicher Glaubensrichtungen schützten.
Der in der alten deutschen Kaiserstadt Frankfurt am Main
konstituierte erste deutsche Bundestag gab ein Beispiel auch
für die Duldung, ja Achtung auch entgegengesetzter politischer
Meinungen. Das alles ist im heutigen Deutschland Vergangen-
heit geworden. Die Deutschland in der Welt-Symphonie zuge-
wiesene Aufgabe wird damit verraten.
Nur ein freies Geistesleben ist der Garant für eine freie Ent-
wicklung des Menschseins. Deutschland sollte durch sein Bei-
spiel dieser Entwicklung vorangehen! Der Mensch ist von sei-
nem Ursprung an durch seine körperliche Veranlagung, durch
die Fähigkeit zum selbständigen Denken dank seines Sprach-
vermögens und durch die Befreiung seiner Hände mittels des
aufrechten Ganges vom schaffenden Weltengeist als einziger
zur Freiheit berufen! Sie zur Erscheinung zu bringen ist Auf-
gabe und Ziel - nicht in der Wirtschaft, sondern in Kultur und
Geistesleben eines jeden Volkes!

49
Die Wirtschaft -
unser Schicksal?

1. Von der Naturabhängigkeit zur Naturgefährdung


Zwei Gründe für die Fehlentwicklung, die zu einer drohenden
Weltkatastrophe geworden ist, wurden aufgezeigt: die Tren-
nung des Menschen von seinem Ursprung, der Verlust des
Rückbezuges {religio), und zweitens, daraus folgend, das ge-
störte Gleichgewicht des sozialen Organismus durch eine alles
andere überwuchernde Wirtschaft. Ein dritter Grund ergibt
sich aus einem innerwirtschaftlichen Fehler: aus der Vernach-
lässigung des Faktors >Natur<. Dies hängt unmittelbar zusam-
men mit der Entfremdung des Menschen von sich selbst, denn
er bleibt Glied innerhalb der Natur, diese hier verstanden im
Sinne von Spinozas »deus sive natura«, also »Natur als die an-
dere Offenbarung Gottes«, wie der Metropolit von Georgien
1983 als Beauftragter für den Umweltschutz im Weltkirchenrat
in einer persönlichen Audienz darstellte.
Betrachten wir unsere Wirtschaftsgeschichte, so steht ne-
ben der notwendigen Versorgung mit Lebensmitteln von Anbe-
ginn an das Bestreben der Menschen, sich von der Natur und
ihren Unbilden unabhängig zu machen, die eigenen Kräfte für
diese Auseinandersetzungen zu steigern und sich >cultura< zu
schaffen, das heißt eine nach eigenen Vorstellungen gestaltete
Umwelt, in der menschliches Leben sich gesichert zu entfalten
vermöchte.
Könnten wir die Menschheitsentwicklung im Zeitraffer von
einem Satelliten aus überblicken, dann würden vor unseren
erstaunten Augen Rodungen sich über den ganzen Globus in
die Urwälder vorfressen, und bald hier und dort würde das

50
Grün dem gelben Wüstensand zum Opfer fallen. Wir würden
sehen, wie die Straßen mit gehenden, reitenden, rollenden,
dahinrasenden Menschen sich über die Lande ziehen, immer
enger nebeneinander und immer mehr Kreuzungen, Brücken
und Überführungen bildend. Die Meere bevölkern sich immer
dichter mit immer größeren Schiffen, und schließlich heben sich
diese voraneilenden Menschen von der Erde ab und umkreisen
den Erdball in der Luft, immer schneller und in immer größe-
ren Höhen bis hinauf zum Mond. Desgleichen breiten sich die
Dörfer und Städte aus, gehen in Flammen auf, zerfallen, wer-
den wieder aufgebaut, immer mehr Steinberge drängen das
braungrüne Ackerland zurück, und Türme, Schornsteine und
Hochhäuser ragen daraus empor. Dann spannen sich Drähte
in beängstigender Geschwindigkeit von Ort zu Ort, werden in
dicken Strängen an einer Vielzahl von Masten aufgehängt,
überspannen die Flüsse und Täler und kriechen schließlich auch
über den Meeresboden dahin, bis endlich die ganze Erde in ein
Netz von Drähten eingefangen erscheint. Gleichzeitig wach-
sen auf und unter der Erde Rohrleitungen, werden immer län-
ger und umfangreicher, und unter heftigem Druck schießt Gas
oder Flüssigkeit durch diese Röhren und zischt immer wieder
irgendwo aus einem Leck in einer Fontäne empor.
Die Wohnhäuser der Menschen werden nun von den Stra-
ßen durchschnitten, müssen ihnen immer wieder weichen, ihre
Gärten, aber auch ganze Felder, verschwinden unter Beton und
Asphalt. Die Menschen flüchten an die Stadtränder, doch Stra-
ßen, Drähte, Fabriken, Lärm und Gestank folgen ihnen nach.
Jetzt sehnen sich die Menschen nach unzerstörter Natur, ja,
sie bemerken, daß die von ihnen selbst geschaffene Umwelt
entgegen allen Erwartungen wieder Unbilden, Bedrohungen
und neue Abhängigkeiten für den Menschen gebracht hat. Eine
zu große Entfernung vom natürlichen Leben läßt auch die Natur
im Menschen verkümmern, er wird krank, seine Physis und

51
seine Seele geraten aus dem Gleichgewicht. So wird die Bedro-
hung des Menschen durch die von ihm geschaffene Umwelt ge-
fährlicher, als es die Bedrohung durch die Natur sein konnte.

2. Die naturferne Volkswirtschaft


Friedrich Naumann schrieb bereits vor dem Ersten Weltkrieg
in seiner Neudeutschen Wirtschaftspolitik1(): »Im Grunde braucht
der Mensch heute dasselbe, was er zu allen Zeiten gebraucht
hat: einen Wohnplatz, eine Hütte, einen Acker, einen Viehbe-
stand, einen Wald und einen Bach. Wie verwickelt aber sind
diese einfachen Dinge heute für den Stadtmenschen. Sein
Wohnplatz ist sehr klein; seine >Hütte< liegt oft 12 oder 15 Me-
ter über der Erdoberfläche; von dem Vieh, dessen Fleisch und
Milch er genießt, weiß er gar nichts; sein Wald steht teils an
der Donau, teils in Schweden, und sein Bach heißt Wasserlei-
tung. Er lebt von der Natur, wie seine Ahnen auch, aber nicht
mit ihr. Deshalb ist er den Urgründen der Volkswirtschaft so
fern. Alles, was er sieht, ist verarbeitetes Produkt. Das erste
Stadium aller Volkswirtschaft, die Rohproduktion, liegt wie im
fernen Nebel. Deshalb ist der durchschnittliche Stadtmensch
bei aller formalen Bildung volkswirtschaftlich oft so anschau-
ungslos. Er sieht den Landmann nur als Menschen, der sich
das wunderliche Vergnügen macht, mit zwei Pferden auf den
Acker zu gehen, hat aber blutwenig Gefühl dafür, daß alle Städ-
ter einen Acker haben müssen, der für sie bearbeitet wird.«
Dieses Gefühl ist heute - 80 Jahre danach -, da der Agrar-
ingenieur mit dem Mähdrescher über die Felder lärmt, noch
weiter verkümmert, obgleich von dem, was auf den Feldern
geschieht, allenthalben gesprochen wird. Wachstum heißt das
Zauberwort, die Allparteienhoffnung, das Gebot der Stunde.
»Der Zuwachs soll mehr Energie und mehr Arbeitsplätze ga-
rantieren, auch ein höheres Sozialprodukt, das sich möglichst

52
alle 8 Jahre verdoppelt. Regierung, Opposition, Sozialpartner
scheinen sich darin einig - wer fragt noch nach den Grenzen
des Wachstums, nach Umwelt und Ökologie?« So war es schon
Ende der siebziger Jahre in der Zeit zu lesen11.
Doch das Wachstum, welches hier gemeint ist, heißt Ge-
winnmaximierung, mehr Industrie und steigender zivilisatori-
scher Wohlstand in Übereinstimmung mit einer von Menschen
aufgestellten Wirtschaftstheorie. Wenn Natur und Wirtschaft
in Widerspruch zueinander geraten, dann wurden wirtschafts-
politische Entscheidungen in Ost und West bisher vorwiegend
- wenn nicht immer - zugunsten der Ökonomie gegen die Ökolo-
gie gefällt. Wobei unter >Ökonomie< eine von Menschen aufge-
stellte Theorie zum Wirtschaften gemeint ist, und solange in
ihrem Rahmen gehandelt wird, alle Entscheidungen angeblich
auch im Interesse des Menschen gefällt werden - so die Fol-
gerung.
Diesem in sich geschlossenen Gedankengang liegt eine
Weltanschauung zugrunde, die den Menschen als Herrn aller
Dinge sieht, der im Mittelpunkt der Schöpfung steht und sich
selber als der Besitzer einer unerschöpflichen Schatzkammer
fühlt.
Es wird dabei übersehen, daß der Mensch gleichzeitig Glied
innerhalb der Natur ist und bleibt, daß diese ihm nicht nur zur
Gestaltung oder Ausbeutung anheimgegeben ist, sondern im-
mer auch seine Lebensgrundlage darstellt, sowohl für seine
Leiblichkeit als auch für sein ganzes Erdenleben.
Mensch und Natur bilden eine polare Einheit. Der Mensch
richtet sein Tätigsein auf die Natur, um aus ihr die für sein
Leben notwendigen Substanzen für Nahrung, Kleidung und
Behausung zu gewinnen. Die Natur findet ihren Ausdruck
durch die Sprache, das heißt, sie wird begrifflich erfaßt. Die
ihr innewohnenden Gesetze werden vom Menschen erkannt
und durch ihn zur Anwendung gebracht in einer sogenannten

53
»Zweiten Schöpfung<. Die Natur stellt sich dabei selbstlos die-
nend dem Menschen zur Verfügung.

Natur + Arbeit

Lebensmittel

In diesem unmittelbarenAufeinanderzugeordnetsein können


wir Ursprung und Ziel allen Wirtschaftens sehen. Natur und
menschliches Tätigsein sind seine beiden Grundpfeiler. Auf
Seiten der Natur läßt sich dabei als besonderes Kennzeichen
die Gesetzmäßigkeit, die Begrenzung, die ihren Ausdruck in
der Fülle der Gestaltungen findet und deren ausgewogenes
Zusammenspiel beobachten, während auf Seiten der Arbeit -
wie wir unser lebensnotwendiges Tun nennen — die Wahlfrei-
heit bis hin zur Willkür, das exponentielle Wachstum und die
Übersteigerung der Kräfte zu finden sind.
In diesem Dreiecksverhältnis läßt sich die Grundlage aller
Wirtschaft darstellen, wobei kein Glied willkürlich ist, sondern
alle drei sich gegenseitig bedingen. Durch das Freiheitsmoment
auf seiten der Arbeit — also des Menschen - beginnt die Ausbil-
dung besonderer Fähigkeiten, kommt Arbeitsteilung und Spe-
zialisierung im Verlauf der Menschheitsgeschichte auf. Das
Schwert aus der Hand des geschickten Schmiedes wird ge-
tauscht gegen den Tisch vom besseren Schreiner. Dieser häu-
fig schwerfälligen Tauschwirtschaft nimmt sich eine der geni-
alsten Erfindungen der Menschheit an: Es wird ein Tausch-
mittel, das Geld, erdacht. Das Geld, welches später zum be-
herrschenden Faktor allen Wirtschaftsdenkens wird, steht also
nicht am Anfang der Wirtschaft, sondern ist ein aus dem Den-
ken des Menschen hervorgegangener neuer Faktor, keine
Naturtatsache, sondern eine Menschenerfindung. Zunächst
dient es ausschließlich als eine Art Berechtigungsschein für

54
ein Produkt aus Natur undArbeit. Es wird zum durch den Staat
festgelegten, gesetzlichen Zahlungsmittel.
Hand in Hand mit der Spezialisierung geht eine erste Ur-
banisierung (das Wort >Verstädterung< ist hier nicht deckend)
einher. Doch auch hier erhält vorerst noch der Handwerker für
ein Erzeugnis aus Natur und Arbeit Geld zum Tausch für Le-
bensmittel. Erst mit der Ausbildung des Dienstleistungswesens,
kleinerer Manufakturen und der Verselbständigung des Han-
dels wird eine neue Beziehung ausgebildet: Für seine Arbeits-
leistung erhält der Mensch Lohn-Geld, wofür er die lebensnot-
wendigen Produkte kauft.
Indem das Produkt aus Natur undArbeit austauschbar wird
durch Geld und das Geld in eine direkte Verbindung zur Arbeit
tritt, verschwindet langsam die Erkenntnis aus dem Be-
wußtsein, daß Natur und Arbeit die Grundpfeiler allen Wirt-
schaftens sind. An ihre Stelle rücken Arbeit und Geld, welch
letzteres lange Zeit hindurch gleich Gold und Silber ist, also
wertbeständiges seltenes Edelmetall.

Ein weiteres psychologisches Moment tritt damit in Er-


scheinung, dessen Berücksichtigung für eine wirklichkeitsge-
mäße Beurteilung unseres Wirtschaftsverhaltens unerläßlich
ist. Mit dem Besitz von Geld wird gekoppelt das Sicherheits-
bedürfnis und das Streben nach Freiheit, deren konkretes Ziel
im Wirtschaftsleben Handlungsfreiheit ist. Der Besitz von Geld
gibt unwidersprochen seinem Besitzer eine größere Handlungs-
und Bewegungsfreiheit, als der Besitz von Produkten es ver-
möchte, von Waren, die vergänglich sind (besonders Lebens-

55
Mittel), die belasten und der Pflege bedürfen und deren Vér-
brauch persönlich begrenzt ist. Damit gibt es zugleich auch
mehr Sicherheit, auch in bezug auf die Arbeit, denn die mensch-
liche Arbeitskraft unterliegt Krankheit, Alterung und Tod.
So wird das Mittel zum Zweck des Wirtschaftens, das Geld,
selber zum Wirtschaftsziel, es wird die Hauptsache, das >Kapi-
tal<, wobei Kapital hier gemeint ist als >Geldkapital<12. Fortan
kreist das Wirtschaftsgeschehen um Arbeit, Produktion und
Kapital, wobei der Besitz und die Vermehrung von Kapital zum
eigentlichen Ziel des Wirtschaftens werden. Der Faktor >Natur<
tritt mehr und mehr zurück, wird vergessen. Naturkatastrophen
und Hungersnöte erinnern zwar immer wieder daran, daß der
Mensch von Geld allein nicht satt werden kann, aber selbst dann
vermag sich der reiche Geldbesitzer immer noch leichter Brot
zu beschaffen als der Arme. So konnte Herbert Gruhl mit Recht
auf den »vergessenen Faktor Natur« hinweisen.13
Genauso schwindet aber aus dem Bewußtsein die Grund-
bedeutung des Geldes als Tauschmittel. Das Geld verselbstän-
digt sich als Ware, deren Mangel zu seiner Vermehrung führt,
indem der Besitzer es gegen einen Preis - die Zinsen - an den
Geldlosen ausleiht. Alle Machtkonzentration und Besitzanhäu-
fung, aber auch die gigantischen Investitionen für technischen
»Fortschritt in der Neuzeit beruhen auf diesem kapitalistischen
System.
Doch nicht nur das Geld, auch die Arbeit erhält Warencha-
rakter. Sie wird auf dem Markt, jetzt genannt >Arbeitsmarkts
angeboten und ein möglichst hoher Preis dafür ausgehandelt.
Der Begriff erinnert peinlich an den Sklavenmarkt des Alter-
tums! Die menschliche Tätigkeit - Arbeit -, die Lebensmittel
für den Menschen erzeugt, welche durch die menschliche Er-
findung = Geld austauschbar werden, erfährt als Ware eine
völlige Entfremdung, die der Entfremdung des Geldes ent-
spricht.

56
3. Die menschengemachten Krisen sind wirtschaftli-
cher und ökologischer Art
So nimmt es nicht weiter wunder, daß dieses von Menschen
entwickelte und praktizierte Wirtschaftssystem von einer Kri-
se in die andere stolpert. Das heißt: Genau dasjenige, was die
Menschen damit verbanden, Sicherheit und Freiheit, erreichen
sie nicht, können sie auch auf diesem Wege nicht erreichen,
solange die Fehlentwicklungen nicht korrigiert werden. Wa-
ren früher die Wirtschaftskrisen primär >naturgemacht<, be-
dingt durch Mißernten, Naturkatastrophen, Seuchen, so ha-
ben sie jetzt ihre Ursache im System, sie sind >menschenge-
macht<, wenn dies auch immer wieder vertuscht wird. Das gilt
sowohl für die großen Weltwirtschaftskrisen als auch für die
meisten Kriege unseres Jahrhunderts - die furchtbarste Art,
Wirtschaftskrisen zu begegnen. Ob die Menschheit einen neu-
en Weltkrieg dieser Art zu überleben vermöchte, ist fraglich.
Eine fundamentale Kapitalismuskritik wird daher unausweich-
lich.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Aus einer Fehlentwick-
lung bei den beiden vom Menschen ausgehenden Faktoren »Ar-
beit und >Kapital< entstehen Wirtschaftskrisen - bis hin zu
Weltkriegen. Aus einer Fehlentwicklung im Verhältnis Arbeit-
Kapital zur Natur entsteht eine ökologische Krise - bis hin zur
Zerstörung der Lebensgrundlage des Menschen schlechthin.
Selbstverständlich gibt es auch gegenseitige Abhängigkeiten,
die jedoch zunächst unberücksichtigt bleiben müssen.
Mit der Korrektur des dem Kapitalismus zugrunde liegen-
den Geldsystems und damit des Verhältnisses Arbeit-Kapital
ist nicht zwangsläufig auch eine Korrektur des Fehlverhaltens
gegenüber der Natur gegeben. Dies beweist der Kommunis-
mus, ausgehend von der Kapitalismuskritik von Karl Marx.
Er beobachtete vor gut 150 Jahren bereits die Entfremdung

57
und Versklavung des arbeitenden Menschen. Die sozialen
Mißverhältnisse gaben seinem Denken den Anstoß. Marx un-
tersuchte die Wirtschaft, ausgehend von der Arbeit und damit
vom Menschen, und meinte, wenn in dem Dreiecksverhältnis
Arbeit-Kapital-Produktion die Arbeit statt des Kapitals die
Macht hätte, dann hätten die Menschen erreicht, was sie woll-
ten: Sie wären satt, sicher und frei; die Krisen würden ver-
schwinden. Die sozialistischen Gesellschaften, die konsequen-
terweise aus diesem Denken heraus gestaltet wurden, brach-
ten sicher ihrer Bevölkerung mehr soziale Sicherheit, aber auf
Kosten der Freiheit, und die Krisen blieben bestehen, bis zu
dem völligen Zusammenbruch dieses Systems in den Jahren
1990 bis 1992.
Auch das entfremdete Geld wurde Ausgangspunkt für eine
scharfe Kapitalismuskritik. Als zwei herausragende Persön-
lichkeiten sind hier Silvio Gesell und Rudolf Steiner zu nen-
nen, die stellvertretend für eine Vielzahl ihnen nachfolgender
Persönlichkeiten genannt seien. Während Marx sich vornehm-
lich mit den sozialen Auswirkungen befaßte, werden hier die
Ursachen der Fehlentwicklungen aufgezeigt und der Zusam-
menhang zwischen Krise und Geldsystem erkennbar gemacht:
Erst wenn das Geld wieder voll die Rolle des Tauschmittels
übernimmt, können Wirtschaftskrisen wie Inflation, Deflation
und Arbeitslosigkeit gebannt werden. So vertreten es insbe-
sondere die Freiwirte oder konsequenten Monetaristen, wäh-
rend Steiner von der Gesamtstruktur des sozialen Organismus
ausgeht.14 Beiden kritischen Ansätzen ist auch die Forderung
nach einem neuen Bodenrecht gemeinsam.
Neben dem Auf und Ab von Krieg und Frieden, Wirtschafts-
krise und Hochkonjunktur erleben wir gegenwärtig zusätzlich
eine ganz andere Krise, die nicht minder dramatisch sich zu-
spitzt. Der im Wirtschaftsleben vergessene Faktor >Natur< tritt
in Erscheinung. Wie auf einer begrenzten Erde kein unbegrenz-

58
tes Bevölkerungswachstum möglich ist, so auch kein dauern-
des Wirtschaftswachstum im Sinne von Produktionssteigerung
und Kapazitätenausweitung, aber auch keine unbegrenzten
Lohnsteigerungen. Entweder beachtet der Mensch dies jetzt
sofort und nimmt selbständig eine aus Einsicht in die Notwen-
digkeit - also freie - grundsätzliche Korrektur vor, oder es wird
ihm, im günstigen Fall durch schwere Katastrophen, eine Ver-
haltensänderung aufgezwungen, beziehungsweise im ungün-
stigen Fall, für alle Zeiten die Lebensgrundlage genommen,
das heißt die Erde unwirtlich gemacht. Dazwischen gibt es of-
fenbar nach allen Untersuchungen zu dieser Frage nichts.
Diese Erkenntnis hat zu der Untergangsstimmung geführt,
die gegenwärtig viele nachdenkliche Menschen befällt. Dies vor
allem deshalb, weil Wirtschaftspolitiker und -manager immer
noch von den unabdingbar notwendigen Zuwachsraten in der
Wirtschaft sprechen, deren Ausbleiben tödlich für die Wirtschaft
und deren Eintreten tödlich für die Erde und Menschen sein
könnte. Warum fehlendes Wirtschaftswachstum tödlich ist, wird
schon in dem vom Bundesforschungsministerium herausgege-
benen Argumente zur Energiediskussion erklärt: »Ein funktio-
nierendes kapitalistisches Wirtschaftssystem muß sich stän-
dig ausweiten. Jeder Rückgang in der Produktion löst eine
Wirtschaftskrise mit all ihren bedenklichen Folgen aus: Arbeits-
losigkeit, sinkende Einkommen, steigende Staatsverschul-
dung.« Fragen wir weiter, warum das so ist, dann heißt die
Antwort: »Jeder Kapitaleigner erwartet für seinen Kapitalein-
satz Gewinne beziehungsweise Zinsen, die meist weit über das
hinaus gehen, was er selbst zum Leben braucht, und die des-
halb wieder investiert werden und wieder Gewinne bringen
müssen, so daß das Kapital nach dem Zinseszins-System stän-
dig wachsen muß. . . So entsteht die Kapitalakkumulation, die
zu Monopolbildungen führt. Spätestens dann kann Wachstum
nur noch durch Ausdehnung des Marktes gewährleistet wer-

59
den. Im Zinssystem liegt also ein unabdingbarer Zwang zum
Wachstum.«15

4. Die Suche nach dem Dritten Weg


Da die Altparteien der Bundesrepublik Deutschland genau die-
ses kapitalistische Wirtschaftswachstum sozusagen als Rück-
grat eingezogen enthalten, es damit ihren Lebensnerv aus-
macht, wurde bereits Ende der siebziger Jahre klar, daß es für
die politische Durchsetzung ökologischer Ziele einer Partei mit
einem anderen wirklichkeitsgemäßen Wirtschaftskonzept be-
durfte. Die Suche nach dem »Dritten Weg< - von der Partei >Die
Grünem sehr schnell aufgegeben - begann.
Die konsequenten Monetaristen erklären bis heute: Wir kön-
nen genau das liefern, was gebraucht wird. Wir sind schon lan-
ge zu der Erkenntnis gekommen, daß der Kapitalismus in west-
licher und in östlicher staatsmonopolistischer Prägung die
Ursache aller Krisen ist. Wir brauchen endlich Geldwert-
stabilität, eine Indexwährung und Umlaufsicherung, dann gibt
es keine Krisen mehr, keine Arbeitslosigkeit, da durch eine
unbehinderte Produktion die Neigung zu Investitionen wächst
und der Wohlstand steigt.16
Das Geld regelt die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen
Menschen, zwischen den Produzenten und Konsumenten. Wenn
das Geldsystem fälsch ist, werden menschliche Verhältnisse
gestört. Da es sich beim Geld, wie gesagt, um eine menschliche
Erfindung handelt, dürfte es leicht sein, diese zu korrigieren
dort, wo sie zu unerwünschten Ergebnissen führt. Wenn dies
bis heute nicht geschehen ist - obwohl Ursache und Wirkung
inzwischen vielfältig beschrieben wurden -, dann lassen sich
dafür zwei Gründe vermuten:
O Weil für Kapitaleigner und Machthaber Krisen in der
Regel ein Gewinn sind, also bei ihnen kein Interesse für

60
eine Veränderung bestehen kann. Im Gegenteil verursa-
chen sie unter Umständen aus diesem Grund die Krisen
selbst. (Hier sind weder die Unternehmer noch die Politi-
ker gemeint).
O Weil für den arbeitenden Bürger seit Jahrhunderten der
Besitz von Geld und Boden immer noch am besten dem
Bedürfnis nach Sicherheit und Freiheit entgegenkommt.
AlleWirtschafts- und Währungszusammenbrüche dieses
Jahrhunderts bestanden gut nur die Menschen, die
Grundbesitz hatten.
Eine neue Geld- und Bodenordnung, wie von den konsequen-
ten Monetaristen, aber in gewisser Weise auch von Steiner
gefordert, läßt hier ein Vakuum entstehen. Solange nicht ein
konkreter und einsehbarer Ersatz für die Befriedigung dieses
Sicherheitsbedürfnisses angeboten werden kann, wird - trotz
allem — die gegenwärtige Ordnung, in der es >uns so gut geht
wie noch nie<, jeder Aussicht auf eine langfristige krisenfreie,
jedoch noch nirgends verwirklichte neue Wirtschaftsordnung
von der Mehrheit der Bürger vorgezogen werden. Das gilt ins-
besondere, wenn nach den Prinzipien der Demokratie sich eine
Partei mit einem solchen Programm zur Wahl stellen muß.
Doch hier muß zunächst die Frage untersucht werden, ob es
überhaupt einen >DrittenWeg< gibt, wobei gleich gesagt werden
kann, bei der Betonung auf einen ist mit >Nein< zu antworten,
denn es gibt mehrere sich so nennende >Dritte Wege<. Wie könn-
te das auch anders sein bei Individualisten! Die Beantwortung
dieser Frage hängt vom jeweiligen Standort des Fragenden ab,
wie so oft im Leben. Das heißt aber, daß es verschiedene sub-
jektiv richtige Antworten gibt oder geben kann. Geht man vom
äußeren Erscheinungsbild einer in Kapitalismus und Kommu-
nismus geteilten Welt aus, wie sie konkret bis 1990 bestand,
dann läßt sich natürlich historisch begründet von einem ersten,
dem kapitalistischen, und einem zweiten, dem kommunisti-

61
schen, Weg sprechen. Aus ökologischer Sicht haben beide Wege
zu katastrophalen Ergebnissen geführt, die notwendig, wenn
nach Heilung oder Rettung von Erde und Mensch gesucht wird,
einen ganz anderen, eben dritten Weg herausfordern.
Geht man dagegen von den inneren Gesetzmäßigkeiten des
Lebendigen und von einer den ganzen Menschen erfassenden
Menschenkunde aus, dann gibt es nur einen einzigen richti-
gen, nämlich natur- und menschengemäßen Weg und Abirrun-
gen hiervon. Eine dieser Abirrungen nennen wir Kapitalismus,
eine andere Kommunismus. Beide führen in eine Sackgasse.
Der Irrweg Kommunismus erreichte 1989 das Ende der Sack-
gasse, was nun unausweichlich zur Umkehr zwang. Das Ende
der zweiten Abirrung zeichnet sich bereits für den sehenden
und denkenden Menschen ab. Trifft der Zusammenbruch die
Menschen hier genau so unvorbereitet wie im ersten Fall, wird
die Katastrophe für alle ungleich schrecklichere Folgen haben.
Nun hat ein Weg, der vom Menschen beschritten wird, im-
mer eine rechte und eine linke Seite. Die eine Abirrung erfolgt
somit nach >rechts< und die andere nach >links<. Solange die
Verbindung zum Weg nicht gänzlich aus den Augen verloren-
ging, ist eine Umkehr noch möglich; geht sie verloren, dann
bleibt nur das Hineinstolpern in das bittere Ende: Verdursten
in der Wüste, Verhungern in den Bergen, Erfrieren im Eis.
Da der Menschheitsweg nicht geradlinig ins Nichts führt,
sondern spiralförmig auf ein Ziel zu, werden >links< und >rechts<
austauschbar, wieder gebunden an den jeweiligen Standort des
Wandernden. Nur so ist erklärbar, daß die gleiche Himmels-
richtung einmal links, einmal rechts erscheinen kann. Die heute
so häufig gebrauchte politische Zuordnung: >der ist links< oder
>der ist rechts<, sagt bei genauer Betrachtung nur etwas über
den Standort desjenigen aus, der sie gebraucht. Das wird meist
übersehen. Es läßt sich hier natürlich einwenden, daß die Be-
hauptung, den einzig richtigen Weg zu besitzen, immer schon

62
von den Weltanschauungen, aber auch von einzelnen Menschen
aufgestellt worden sei. So wollten ja sowohl der Kapitalismus
als auch der Kommunismus eine Weltherrschaft nach >ihrem
ausschließlich richtigem Welt- und Menschenverständnis, von
den großen Religionen ganz zu schweigen. Genau deshalb gibt
es auch mehrere Dritte Wege. Diese Verhaltensweise ist übri-
gens untrennbar verbunden mit einer Parteienkratie, wie sie
unser politisches Leben der vergangenen 45 Jahre prägte. Es
ist dies eine Herrschaftsform, in der immer die Teile, genannt
>Fraktion< = Bruchteil, sich selber für das Ganze und zumin-
dest das Richtige halten und in der Regel auf alle Mitglieder
Fraktionszwang ausüben.

5. Vom selbstbestimmten
zum manipulierten Menschen
Verlassen wir also die uns lieb gewordene Vorstellung verschie-
dener Wege und fragen: Gibt es nicht doch, außerhalb aller
Subjektivität, allgemeingültige Kriterien, die uns einen Maß-
stab geben für einen richtigen und einen falschen Weg der Wirt-
schaft?
Am Anfang allen Wirtschaftens stand die Notwendigkeit für
den Menschen, tätig sein zu müssen, um leben zu können. Die-
ses Tätigsein wird in einer arbeitsteiligen Welt zur Arbeit. Wir
arbeiten, um zu leben. Diese Arbeit richtet sich immer auf
Natur, ob wir nun Nahrungsmittel uns beschaffen, Wohnun-
gen bauen, Kleider und Hausgerät herstellen oder in Hochöfen
Eisen schmelzen und Chemieprodukte erzeugen; ohne die Nut-
zung von Natur geht nichts. Alle Rohstoffe sind begrenzt, wenn
wir sie auch für unerschöpflich halten. Das Schlaraffenland
gibt es nur im Märchen. Außerdem wirken in den Elementen,
aus denen alles erschaffen ist, Gesetzmäßigkeiten, die der
Mensch erkennen, aber nicht außer Kraft setzen kann.

63
Hinter der Arbeit steht der zur Freiheit veranlagte, ja beru-
fene Mensch. Wir haben dargestellt, aus welchen Wesens-
gliedern dieser Mensch besteht. Dieser Freiheitsimpuls kann
sich immer nur auf das Denken beziehen. >Die Gedanken sind
frei!< Sobald sie sich auf Natur (immer verstanden im weite-
sten Sinne) richten, müssen sie mit den in ihr wirkenden Ge-
setzmäßigkeiten rechnen. Dazu gehört heute als wichtigster
Faktor die Begrenzung. Die Natur dient unserer Lebenserhal-
tung, sie dient im wahrsten Sinne des Wortes selbstlos und
mit ihrer Fülle, doch sie dient auf Dauer nur dem, der es ver-
dient, der ihre Wesenheit und Bedingtheit erfaßt. Im Zu-
sammenwirken mit der Natur wird Freiheit zur Einsicht in die
Notwendigkeit.
Hier sind ganz eindeutige Maßstäbe gegeben. In diesen Punk-
ten sind sich heute viele Kritiker des Kapitalismus einig, aber
auch die Mehrzahl der Ökologen stimmt zu und inzwischen
auch eine große Anzahl von Bürgern. Warum verhält sich der
verantwortliche Politiker oder Wirtschaftsmanager anders,
warum steigt er nicht aus, aus dem offensichtlich irreführen-
den und inzwischen bereits unser aller, also auch sein Leben
bedrohenden Konzept des Kapitalismus? Wahrscheinlich sind
unter ihnen zu wenig Hausfrauen und ist überhaupt hauswirt-
schaftliches Denken fälschlich als unwissenschaftlich abgewer-
tet worden. Doch wenn auch nur noch wenige etwas von guter,
sparsamer Haushaltsführung verstehen, so viel ist doch sicher:
Eine Frau, die sich nicht davon abbringen läßt, jeden Tag ein
Mittagsmahl für zehn Personen zuzubereiten, obwohl ihre
Familie nur aus drei Personen besteht und selten ein Mittags-
gast zu Besuch kommt, nur weil ihre aufwendigen Haushalts-
maschinen sonst nicht voll ausgenutzt würden, die würde spä-
testens nach einem Monat für geistig unzurechnungsfähig er-
klärt, jedenfalls vom Ehemann, der das Geld für Nahrungs-
mittel und Betriebskosten erarbeiten und die Abfalltonne aus-

64
leeren muß. Wissenschaftlicher Sachverstand könnte allerdings
ausrechnen, wieviel Schweine mit den Überresten in welcher
Zeit gefüttert werden könnten, was ein Schweinestall kosten
würde und welche Sorte Schwein zu empfehlen sei bei Haus-
schlachtung oder Verkauf von Mastschweinen. Es wäre dann
allerdings wirtschaftlicher, für zwanzig Personen täglich zu
kochen. Und alle, die da wirtschaftswissenschaftlich tätig wer-
den, können es im Grunde genommen nicht ganz übersehen,
daß die Frau eigentlich verrückt ist, doch da sie daran gut
verdienen, bleibt das ihr Geheimnis. Nach außen erklären sie
den geplagten Ehemann für rückständig, der den Schweine-
stall verhindern will, weil der Geruch ihm unangenehm sei.
Welch emotionale, unqualifizierte Argumentation, als wenn es
dagegen nicht >preiswerte< Sprays gäbe! Hat nicht unsere Wirt-
schaftspolitik sehr viel Ähnlichkeit mit dieser verrückten Frau?
Schön wäre es, wenn es sich wirklich nur um > Verrücktes das
heißt doch: kranke Menschen, handelte. Da würden sich dann
schon eines Tages die Gesunden durchsetzen. Leider scheint
aber noch anderes mitzuspielen.
Sowohl die Freiwirtschaftslehre als die Darstellung des drei-
gliedrigen sozialen Organismus stammen aus der Zeit des Er-
sten Weltkrieges. Bei vielem Gemeinsamen gibt es auch sehr
Unterschiedliches, was schwer zusammenzudenken ist. Das gilt
insbesondere für das nach jeweiliger Ansicht in der Volks-
wirtschaft wirkende Haupt- oder Grundgesetz. Bei Silvio Ge-
sell heißt dieses: »Die wechselseitige Ausbeutung der Notlage
des Nächsten bildet die Grundlage unserer Volkswirtschaft, ist
das wirtschaftliche Grundgesetz. Nähme man diese Grundla-
ge fort, so würde unsere Volkswirtschaft in sich zusammen-
stürzen. . ,«17
Bei Rudolf Steiner heißt es soziales Hauptgesetz: »Das Heil
einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um
so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Lei-

65
stungen für sich selber beansprucht, d. h. je mehr er von die-
sen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je mehr er
seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen eigenen Leistungen,
sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt.«18
Während Gesell und mit ihm die Freiwirte den Egoismus als
Triebfeder der Wirtschaft sehen und anerkennen, sieht Stei-
ner die Gegenseitigkeit und die Brüderlichkeit als entschei-
dend für eine gut geordnete Wirtschaft an. Nun könnte man
natürlich sagen, daß bei wirklichem Egoismus, also der tat-
sächlichen Verfolgung eines echten eigenen Nutzens, dieser
immer dann erreicht wird, wenn er zugleich Nutzen der ande-
ren Menschen ist, denn nur die Bedürfnisbefriedigung aller
(Menschen meines Umkreises) erlaubt, daß ich ohne Angst um
die Gefährdung meines Besitzes mich daran erfreuen kann.
Dann dient letzten Endes brüderliches Verhalten meinem eige-
nen Nutzen. Doch in der Regel wird Egoismus anders verstan-
den und ausgelebt, so daß hier tatsächlich gegensätzliche Aus-
gangspunkte für eine Wirtschaftsordnung vorhanden sind.
Die Wirtschaftsrealität gibt Gesell recht. Unser kapita-
listisches Wirtschaftssystem, aber auch das überall erlebte ein-
zelmenschliche Verhalten, geht in der Regel vom Egoismus aus:
>Jeder ist sich selbst der Nächstes also sorgt jeder auch zuerst
für sich. >Ich will niemandem zur Last fallen<, ist gerade bei
älteren Menschen Lebensethos. Daraus spricht aber auch die
Selbstverantwortlichkeit als mündiger Bürger.
Festzuhalten ist, daß beide Alternativkonzepte ein be-
stimmtes Menschenbild zugrunde legen; von diesem wird ausge-
gangen oder darauf aufgebaut. Das geschieht völlig zu Recht.
Da die Wirtschaft dem Menschen dienen soll, muß sie auch
menschengemäß eingerichtet werden. Mit einiger Mühe las-
sen sich sogar Verbindungen zwischen den zunächst entgegen-
gesetzt erscheinenden Vorstellungen herstellen.
Aber was gilt am Ende dieses Jahrtausends? Wenn der

66
Mensch zunächst arbeitete, um leben zu können, und dann die-
sen Satz mit dem Heraufkommen der Industriegesellschaft um-
drehte, indem er nun lebt, um zu arbeiten, und dieses Arbeiten
gleichgesetzt wird mit Geldverdienen, dann könnte es doch auch
eine weitere Wandlung geben?
Hier sei noch einmal an Huxley und die Darstellung im er-
sten Kapitel des ersten Band erinnert. Vergleichen wir zudem
die Vielzahl der zeitkritischen Untersuchungen zum Thema,
so ergibt sich übereinstimmend: Der Mensch ist in der gegen-
wärtigen Wirtschaft im wahrsten Sinne des Wortes zum Ver-
braucher geworden. Er verlangt immer höhere Löhne, um mehr
verbrauchen zu können. Er wird durch eine Verbraucherzen-
trale beraten, seine Verbrauchsgewohnheiten werden soziolo-
gisch und psychologisch analysiert und werbepsychologisch
beeinflußt. Die große Mehrheit der Verbraucher verbraucht gar
nicht aus eigenem Antrieb, weder aus Egoismus noch aus Näch-
stenliebe, sondern weil sie so programmiert wurde. Wobei auf-
fällt, daß diesmal kein Fremdwort und auch keine beschö-
nigende Bezeichnung für den Vorgang eingeführt wurde, son-
dern ganz nackt die Endgültigkeit zugegeben wird, die immer
mit der Vorsilbe ver- verbunden ist - wie ver- trocknen, ver-dur-
sten, ver-derben, ver-treiben. Wir müssen also heute bei der
großen Masse ausgehen vom manipulierten Menschen, der so
handelt - aber auch schon denkt wie er im Interesse ande-
rer handeln und denken soll. Die gesellschaftliche Anerken-
nung verlangt von ihm Unterwerfung unter ein halbjährlich
sich veränderndes Modediktat. Der Mensch tut, was man tut,
was >in< ist.
Das gilt erstaunlicherweise auch für den sogenannten Al-
ternativen, also denjenigen Menschen, der das angepaßte Ver-
halten kritisiert und sich davon absetzen will, ohne zu be-
merken, daß er sich nun sehr schnell einem alternativen Mo-
dekonzept und Denkklischee genau so kritiklos unterwirft. In

67
den Regenwurm-, Gänseblümchen-, Löwenzahnläden riecht es
gleicherweise, sehen die Käufer und vielfach auch Verkäufer
ähnlich Jeans-gekleidet aus, wählen sie in der Regel >Die Grü-
nem, haben sie - obwohl vielfach erst Jahrzehnte später gebo-
ren - eine sehr genaue und übereinstimmende Vorstellung von
den dreißiger Jahren, vom Kriegsbeginn und den deutschen
Greueln im Krieg< usw. Wer anders denkt, darf nicht bei ihnen
sein Gemüse anbieten und sollte möglichst woanders einkau-
fen. Sie fühlen sich als Mensch und der Menschheit verpflich-
tet. Völker gelten als überholtes Relikt des Faschismus, doch
vehement fordern gerade sie Volksabstimmung oder Volksbe-
gehren. Die Unterscheidungen männlicher und weiblicher
Kennzeichen auch im Verhalten sind für sie Erfindungen des
Patriarchats, dennoch legen sie größten Wert darauf, bei Vor-
trägen mit >liebe Freunde, liebe Freundinnen< angesprochen
zu werden, und hätten im obigen Text >KäuferInnen< oder >Ver-
braucherlnnen< geschrieben, weil, so wie geschrieben, es eine
Diskriminierung von Frauen ist. Es geht also doch nicht um
den Menschen, sei es nun als Käufer, Freund oder Bürger, son-
dern um den männlichen oder weiblichen; ziemlich unlogisch,
doch >in<. Als dritte, leider wachsende Gruppe, gibt es dann noch
diejenigen, die sich vom sozialen Zusammenhang in jeder Hin-
sicht abwenden: die >Aussteiger<.
Damit ist ein völlig neuer Zustand eingetreten: Der im Inter-
esse des Kapitals manipulierte Mensch ist gegenwärtig Aus-
gangspunkt für eine neue Sozialordnung. Das ändert nichts
an der Richtigkeit der Darstellung von Gesell, daß ein kapi-
talistisches Zinssystem schwere Wirtschaftsstörungen verur-
sacht, und auch nichts an der Realität eines sozialen Orga-
nismus, der aus drei Wesensgliedern besteht. Ebenso wird die
mit dem Menschsein verbundene Idee der Freiheit davon in
keiner Weise berührt oder jene, daß der Staat oder das Rechts-
leben keine wirtschaftlichen Ziele zu verfolgen haben. Aber alle

68
konkreten Vorstellungen darüber, was im einzelnen zu tun wäre,
wie solche richtigen Gedanken in Praxis umgesetzt werden
können, müssen neu überdacht und in Beziehung gesetzt wer-
den zur gesamtpolitischen Wirklichkeit des ausgehenden 20.
Jahrhunderts.
Selbstverständlich gibt es immer noch selbstlose, sich für
die Allgemeinheit einsetzende Menschen, Menschen, die bereit
sind, gemeinsam nach dem rechten Weg zu suchen. Doch um
politisch wirksam werden zu können, müssen in unserem Herr-
schaftssystem Mehrheiten gewonnen werden, und zwar Mehr-
heiten der konkret vorhandenen Menschen, die jedoch mehr-
heitlich so sind, wie oben beschrieben.
Auch die Vorstellung vom freien Markt, den wir zwar nur
sehr bedingt haben, der aber als erstrebenswertes Ziel gilt und
bei dem die Preise aus Angebot und Nachfrage sich regeln, ist
nur noch teilweise aufrechtzuerhalten. Sie reicht zwar inner-
halb einer am Subjekt Mensch und seiner freien Entfaltung
orientierten Wirtschaftsordnung, doch sobald der andere Part-
ner im Wirtschaften, die Natur, gleichberechtigt miteinbezo-
gen werden soll, funktioniert dieses System nicht mehr. Ange-
bot ist im Gegensatz zur Nachfrage nicht nur eine menschli-
chen Verhaltensweisen unterworfene Größe. Jede Ware, die der
Produzent anbietet, beruht auf einem konstanten und mit Aus-
nahme der Landwirtschaft nicht regenerierbaren Natur-
angebot, ohne das wir überhaupt nichts anzubieten hätten und
welches bei jeder Industrieproduktion verringert wird. Diese
Tatsache wird in allen vorökologischen Wirtschaftskonzepten
übersehen. Bis zu einer bestimmten Bevölkerungszahl auf der
Erde und bis zu einem bestimmten Ausbeutungsgrad war dies
möglich. Wird diese Marke überschritten, zudem verbunden
mit steigenden Wohlstandsansprüchen, dann wird die Be-
achtung dieser Tatsache lebensentscheidend.
Erfolgt eine Preissteigerung auf Grund eines knapper wer-

69
denden Rohstoffes, dann verringert das nicht die Nachfrage,
jedenfalls dann nicht, wenn es sich um ein lebenswichtiges Gut
handelt. Die Menschen werden vielmehr die Nachfrage ver-
stärken, aus Angst, daß es morgen teuerer werden könnte (sie-
he Erdöl, Benzin usw.). Sollten nur noch wenige sich dies be-
gehrte Gut leisten können, dann erhöht sich deshalb doch nicht
das Angebot, wie nach den Regeln der Marktwirtschaft erwar-
tet, sondern es bleibt knapp und wird noch knapper werden.
Das haben wir bereits bei vielen Gütern erlebt bis hin zum
einst billigsten Nahrungsmittel der Armen, dem Hering, der
heute preislich gesehen zu einer Delikatesse geworden ist.
Durch die verringerte Nachfrage, weil es sich die Armen nicht
mehr leisten können, ist noch kein einziger zusätzlicher
Heringsschwarm in den Netzen der Fischer aufgetaucht.

6. Die Urproduktion als einzig möglicher Maßstab


Die letzte entscheidende Trennung des Menschen von der Na-
tur vollzieht sich in der Vernichtung des Bauerntums und ei-
ner eigenständigen Landwirtschaft. Dies wird an einigen Zah-
len besonders deutlich. So gehen seit Ende der siebziger Jahre
in der Bundesrepublik Deutschland täglich - es stimmt! -, täg-
lich rund 170 Hektar Ackerland verloren. Das heißt: auf die-
sen Flächen kann nichts Lebenserhaltendes und für den zu-
nehmenden Hunger in der Welt Überlebenswichtiges mehr
wachsen. Wo noch am Anfang des Jahrhunderts ein Bauer 4
Menschen ernährte, sind es heute in Deutschland 45. Die nicht
mehr benötigten Bauern arbeiten in Dienstleistungssektor und
Industrie vornehmlich an weiterer Umweltzerstörung und in
der Regel ohne unmittelbaren Bezug zur Natur. 1950 arbeite-
ten 20% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, 1985 7%
und gegenwärtig nur noch 3,4%, die nur 1,7% des >Bruttosozi-
alproduktes< erbringen19.

70
Die Tätigkeit in der Landwirtschaft erfüllt aber neben der
Erzeugung von Lebensmitteln und neben der Landschaftspflege
noch eine dritte, für den Menschen wichtige Aufgabe: die be-
wußte Hinwendung zur Natur und damit das immer neue Er-
leben der Einheit Mensch-Erde. Dies ist nicht einfach zu erset-
zen durch einen Urlaub im Schwarzwald oder bestenfalls auf
dem Bauernhof.
Während der Mensch in der Industrieproduktion sich als
Beherrscher der Natur, als >Macher< von allem Wünschenswer-
ten versteht, erfährt er in der Landwirtschaft immer wieder
seine Grenzen. Damit hat die Landwirtschaft, wie noch weiter
auszuführen sein wird, immer noch eine Sonderstellung im
Wirtschaften des Menschen. Daraufhat insbesondere der Land-
wirt und Maschinenbauer Ernst Weichel in seinen Vorträgen
nachdrücklich hingewiesen. Folgende drei, für manchen viel-
leicht provokativ klingende Hauptsätze stellte er auf:
O Die Landwirtschaft ist der einzigeWirtschaftsbereich,der,
volkswirtschaftlich gesehen, echte Erträge = Einkommen
produziert.
O Jede nicht erzeugte Ernte ist unwiederbringlich verloren
für die Volkswirtschaft.
O Volkswirtschaftlich gesehen kann es keine Überproduk-
tion in der Landwirtschaft geben.
Zunächst muß noch einmal daran erinnert werden, daß alle
Industrieproduktion und damit alle in diesem Sinn geleistete
Arbeit abhängig ist von der Natur. Selbst geistige Arbeit ist
darauf angewiesen, und wenn sie nur des Bleistiftes und des
Papieres bedarf, um flüchtige Gedanken festzuhalten und wei-
tergeben zu können. Ohne diese Folgewirkung wird Denken in
der Regel nicht zu Arbeit. Herbert Gruhl hat in Kapitel 4 sei-
nes Buches Ein Planet wird geplündert diese Abhängigkeit ein-
gehend untersucht.
Ist nun die Natur mit ihren Rohstoffen: Boden, Wasser und

71
Luft begrenzt, dann wird zwangsläufig die sich damit voll-
ziehende Arbeit auch nicht unbegrenzt sein können. Immer
mehr Menschen können nicht immer mehr Produktivkräfte ent-
falten. Auch hier sind Grenzen erkennbar.
Nur in einem Sektor besteht Arbeit nicht primär aus Ver-
brauch, sondern wird neben dem Ge- oder Verbrauch ein Zu-
wachs an >Rohstoffen< erzielt. Dies gilt immer dann, wenn in
der Landwirtschaft aus dem Ackerland mit möglichst wenig
Einsatz von Rohöl und technisch-chemischen Produkten ein
höherer Ertrag erzielt wird als derjenige, den die sich selbst
überlassene Natur hervorzubringen in der Lage wäre. Am größ-
ten ist dieser echte Zuwachs dort, wo Wüste oder Brachland
rekultiviert werden.
Und so paradox es klingt, gerade wenn wir einen Teil un-
serer Industrie retten wollen, werden wir die Landwirtschaft
fördern müssen, da nur ihre Produkte unserem rohstoffarmen
Land entweder als Ausgangsstoff für die Produktion dienen
oder als Tauschmittel gegen unentbehrliche Rohstoffe aus Län-
dern der Dritten Welt eingesetzt werden könnten, deren eige-
ne Agrarproduktion zum Beispiel aus klimatischen Gründen
nicht ausreicht, um die Bevölkerung zu ernähren.
Für dieAngehörigen der Industriegesellschaft, die ihren Wohl-
stand der Herstellung und dem Verkauf von Industrieprodukten
verdanken, ist eine solche Vorstellung schwer nachzuvollziehen.
Sie übersehen nämlich, daß es Industriegesellschaften, in de-
nen 96 Prozent der Bevölkerung von etwas anderem als der
Land-, Forst- oder Fischereiwirtschaft leben, erst seit wenigen
Jahrzehnten gibt, daß dies innerhalb der Gesamtentwicklung
der Menschheit ein lächerlich kleiner Spielraum ist und daß
schon heute erkennbar wird, daß dieser Zustand nicht mehr
sehr lange währen, also nie ein Dauerzustand sein kann. Es
ist ein reiner Ausbeutungszustand, der selbst für seine Been-
digung sorgt.

72
Demgegenüber ist die Arbeit in der Landwirtschaft ein im-
merwährendes Geschehen, solange Menschen nicht von Pil-
len, >Luft und Liebe< leben können. Sie muß jährlich die mögli-
chen Erträge hervorbringen, um das Einkommen der Gesell-
schaft zu vermehren und das Erbe zu erhalten, welches Gene-
rationen im kultivierten Acker geschaffen haben.
Die Industrieproduktion vermindert zwangsläufig das Erbe
der Gesellschaft, indem sie die nicht regenerierbaren Rohstoffe
abbaut und verbraucht. Das in unendlichen Zeiträumen ent-
standene Eisen wird zum Beispiel zum Bestandteil eines Atom-
reaktors, dort radioaktiv verseucht und wiederum für einen
sehr langen Zeitraum aller Nutzungsmöglichkeit entzogen. Da
Planung und Bau eines Reaktors etwa 10 Jahre beanspruchen
und er zwanzig bis dreißig Jahre in Funktion steht, meinen
wir für eine sehr langlebige Produktion zu arbeiten. Das Ge-
treide wird in einem Halbjahr >produziert< und umgewandelt
in Mehl und Brot. Die Ernte eines Feldes wird bei der Mahlzeit
eines einzigen Abends in einer Stadt verzehrt. Wir meinen, et-
was sehr Kurzlebiges zu produzieren. Das Gegenteil ist der
Fall, denn jede Ernte bietet neben dem als Lebensmittel die-
nenden Überschuß die Grundlage für die nächste >Produkti-
on<, ist also ein nahezu unendliches Geschehen.
Wenn an diesem Punkt der Einwand kommt, das klinge nach
Naturromantik oder nach einem >Zurück auf die Bäume<, dann
zeigt das nur, wie vollständig die Entfremdung des Menschen
bereits vollzogen ist. Der Weg, der in den Mittelpunkt wirt-
schaftlichen Geschehens wieder die Grundwahrheit stellt, daß
der Mensch von Brot, Wasser und Luft lebt, ist der einzige, der
vorwärts führt. Wer meint, von Geld und Industrieprodukten
zu leben, befindet sich in einer Sackgasse. Um aus einer sol-
chen heraus zu kommen, muß man allerdings zu ihrem An-
fang zurückkehren, nur so haben wir überhaupt die Chance,
einen weiterführenden Weg zu finden.

73
Damit unabdingbar verbunden, ist die Forderung nach dem
Verbot von Giften in der Landwirtschaft, notfalls mit Ver-
fassungsklage. Wir haben laut Grundrecht, Artikel 2, das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es kann niemand
mehr behaupten, daß die angeblich geringen Mengen von ver-
streutem und versprühtem Gift ungefährlich seien. Wir wis-
sen, was alles heute schon dadurch mit Giftstoffen belastet ist.
Spätestens seit Rachel Carsons Der stumme Frühling (1962)
liegt die wissenschaftlich begründete und seither nicht wider-
legte, sondern nur bestätigte Information über die Umweltbe-
lastung durch in der Land- und Forstwirtschaft verwendete
Gifte vor. Eine funktionierende alternative Anbaumethode ohne
Pestizideinsatz gibt es seit 70 Jahren.20
Dennoch wird weitergemacht. Rachel Carson wurde von der
chemischen Industrie hartnäckig bekämpft, wie später die US-
Wissenschaftler, die die Spraydosen mit Fluorchlorkohlenwas-
serstoff anprangerten. Die Biologin starb bereits im Alter von
57 Jahren. Aber ihre Erkenntnisse ließen sich nicht begraben,
heute erleben wir sie als bittere Wirklichkeit. Und wir alle wis-
sen, wenn es nicht sehr schnell gelingt, unsere gegenwärtig
vermehrten Erkenntnisse in politisches Handeln umzusetzen,
dann wird mit uns das Ökosystem untergehen. Eine politische
Konsequenz können wir naturgemäß nicht von den gegen-
wärtigen >Machern< erwarten, sondern nur von uns selbst, also
von denjenigen, die die Abirrungen vom rechten Weg erkannt
haben. Die Verantwortung liegt bei Ihnen, lieber Leser, genau
so, wie bei den Verfassern dieses Buches.
Dabei ist immer wieder die Frage zu prüfen, ob es sich tat-
sächlich um Abirrungen oder nicht um Irreführungen handelt.
Nehmen wir den Begriff >Sozialbrache< oder >Flächenstill-
legungsprämien< oder die aufwendige, aber angeblich unver-
meidbare Vernichtung von Agrarüberschüssen, die also wirt-
schaftlich ein Negativposten sein sollen, hinzu, dann kommen

74
angesichts der nicht enden wollenden Bilder in den Fernseh-
nachrichten über verhungerte Menschen auch dem Denkfaulen
Zweifel. Der denkende, mitleidende Bürger kann nur noch von
Verbrechen sprechen.
Auch die Forderung eines notwendigen, permanenten Wirt-
schaftswachstums muß neu überdacht werden, und zwar aus-
gehend von der Frage, was soll, was kann eigentlich wachsen?
Wachsen können Pflanzen,Tiere, Menschenkinder, jedoch auch
diese nicht unbegrenzt, sondern immer nur so lange, bis sie
reif, ausgewachsen oder erwachsen sind. Nach diesem Zeit-
punkt beginnen die Lebenskräfte im Physischen sich zurückzu-
ziehen, der Sterbeprozeß setzt langsam ein. Eine unwider-
sprochene Aufgabe für alle Politiker zu aller Zeit ist es, das
gesunde und geschützte Aufwachsen von Kindern zu gewähr-
leisten.
Auf die Frage, was soll wachsen, heißt somit die erste Ant-
wort: Unsere Kinder sollen wachsen. Da ihr Wachstum aber
abhängig ist von Pflanzen und Tieren, die für den Menschen
die Nahrungsquelle sind und deren Gesundheit wiederum die
Gesundheit der Kinder beeinflußt, müssen wir uns also auch
für ein gesundes Wachstum von Pflanze und Tier einsetzen.
Nullwachstum ist unter diesem Aspekt eine völlig lebensfremde
Forderung.
Wirtschaft und Industrie können nicht wachsen. Der Mensch
kann nur die industriellen Produktionsstätten immer weiter
ausdehnen, wie auch das Verkehrsnetz, die Städte usw. Jede
Vergrößerung einer Fabrik, einer Stadt greift zerstörend in den
Lebensbereich von Pflanze und Tier ein, behindert und ver-
nichtet ihr Wachstum. Wie auch jede erhöhte Produktion ir-
gendwo Verringerung von Lebensgrundlagen bedeutet.
Der Mensch ist ein auf Technik veranlagtes Wesen, ohne
technische Hilfsmittel kann und will er nicht leben. Entschei-
dend ist, welche Technik angewandt wird? E. F. Schumacher

75
prägte den Begriff >sanfteTechnik<. Die bestimmende Entschei-
dungfür eine mögliche menschen- und naturgemäße Wirtschaft
wird sein: Wie weit können Industrieanlagen, das heißt der
>Todesbereich<, ausgedehnt werden, ohne das Wachstum von
Pflanze und Tier, das heißt den Bereich des Lebendigen, so stark
einzuschränken, daß Leben und Wachstum der Menschen
gefährdet werden?
Aus Einsicht, Menschenliebe oder Verantwortungsgefühl
handelnde Mehrheiten sind nach der Verbreitung des mani-
pulierten Menschen kaum noch zu erwarten. Besonders nicht
im Zeitalter des philosophischen und praktizierten Materialis-
mus, der mit dem Zusammenbruch des >real existierenden
Sozialismus< keineswegs verschwunden ist, sondern im Gegen-
teil unter dem Deckmantel von >Demokratie< und >Humanität<
sowie einer schillernden Liberalität gefährlicher und absolu-
ter denn je herrscht.
Der Kapitalismus steht der ursprünglichen Zielsetzung des
Wirtschaftens diametral entgegen. So erscheint er auch nach
seinem eigenen Selbstverständnis in der objektiven wissen-
schaftlichen Interpretation als ein Wirtschaftssystem, dessen
oberstes Prinzip die Rentabilität oder Gewinnmaximierung ist.
Die Produktion von Gütern ist diesem Ziel als Mittel zum Zweck
untergeordnet.
Die Machtballung und Kapitalkonzentration in der Hand von
immer weniger Menschen ist das Ergebnis, das heute offen-
sichtlich einer Grenze zusteuert. Der Japaner Yoshito Otani
schreibt in seinem Buch Untergang eines Mythos: „Die Geld-
leute sind von den Arbeitenden abhängig. Die Arbeitenden er-
nähren die Geldbesitzer. Aber das System läßt die Vorzeichen
umgekehrt erscheinen und erzeugt die Fiktion, als ob die Arbei-
tenden von den Geldbesitzern abhängig wären. Gerade des-
halb haben die Arbeitenden die >Macht<, diese Fiktion zu
vernichten.«21

76
Haben immer weniger Geldbesitzer diese irrationale Macht
in Händen und werden immer mehr arbeitende Menschen sich
dieser Tatsache bewußt, dann sind die Tage des Kapitalismus
gezählt, und eine neue menschen- und naturgemäße Wirt-
schaftsordnung könnte entwickelt werden, wenn - wie von vie-
len befürchtet - es dazu nicht bereits zu spät ist. Doch erst
wenn wir die Hoffnung aufgeben und in Willenslosigkeit ver-
fallen, gibt es keine Hoffnung auf Rettung mehr.
Ein weiterer Einwand, der immer wieder gemacht wird, be-
ruft sich auf die »Freie Marktwirtschaft/ und bezeichnet durch-
greifende Maßnahmen des Staates als Dirigismus und Eingriff
in die persönliche Freiheit. Wer so argumentiert, übersieht, daß
ab einer gegebenen Bevölkerungsdichte eine Gesetzgebung für
Abwasser, Müllentsorgung, Umweltschutz und Verkehr uner-
läßlich wird und es nur die Frage ist, ob die Gesetzestexte ver-
ständlich abgefaßt oder ob sie durchsetzbar sind, aber nicht
ihre Notwendigkeit selbst in Frage gestellt werden kann.
Außerdem - und damit kommen wir zu einer entscheiden-
den Folgerung - wird eine ökologisch ausgerichtete National-
ökonomie nicht umhin können, sich einzugestehen und dies
auch auszusprechen, daß es im Wirtschaftsleben keine Frei-
heit geben kann. Was die Menschheit bisher an Freiheiten sich
nahm oder zu besitzen wähnte, war immer nur Abbau von Frei-
heit, nämlich Verringerung von Lebensmöglichkeiten. Es war
dies eine der kurzsichtigsten Lügen der Industriegesellschaft.
In der Landwirtschaft wußte der Bauer immer, daß die Frei-
heit allein darin besteht, auf die Natur zu hören und ihren
Gesetzen zu folgen und damit ein erfolgreicher Landwirt zu
sein, oder dies nicht zu tun und abzudanken. Übrigens ist be-
kannt, daß nur von demjenigen viel gesprochen wird, was der
Mensch verloren hat, sei es nun Gesundheit, Märchen oder
Religion. Noch nie ist so viel über Freiheit gesprochen worden
wie in unserer Demokratie.

77
Offenbar äußert sich auch hierin, dem einzelnen unbewußt,
der Verlust der Freiheit. Verloren deshalb, weil wir uns nicht
damit begnügten, sie im Geistesleben, wo sie unerläßlich ist,
zur Erscheinung zu bringen in freier Meinungsbildung und
-äußerung, in freier Forschung und Lehre, sondern weil wir
dem Wirtschaftsleben statt der dort geforderten Brüderlichkeit
absolute Freiheit - besser Liberalität - gestatteten. Das wirk-
te sehr schnell zurück, indem von nun an zum Beispiel umfas-
sende Sachinformationen und offene Kritik an Atomanlagen
im Geistesleben unterdrückt wurden - von Seiten der Wirt-
schaft. Der Staat aber wurde zum Sklaven dieser >freien< Wirt-
schaft gemacht. Und wie Sklaven entweder bemitleidet oder
verachtet werden, so auch dieser versklavte Staat.
Es fehlt nicht an Ausarbeitungen zur grundsätzlichen Um-
gestaltung unserer Wirtschaft.22 Fassen wir einige der wichtig-
sten Gedanken zusammen, so ergibt sich ein knappes, aber
verblüffendes Konzept, das in Ansätzen gelegentlich bereits
verfolgt wird, in jedem Fall aber ernstgenommen und durch-
dacht werden sollte. Oberstes Prinzip dieses Konzeptes ist: Die
Wirtschaft hat keinen Selbstzweck. Sie dient der physischen
Erhaltung der Menschen und liefert die Voraussetzungen für
deren geistige Entwicklung. Daraus ergibt sich:
O das Recht auf Arbeit und die Verpflichtung zur Arbeit für
alle.
O Arbeit besteht aus Arbeit für die Gemeinschaft (Produk-
tion, Dienstleistung, Soziales) und aus Arbeit an sich
selbst (umfassende Bildung, Meditation, künstlerische
Betätigung, Gymnastik und Staatsbürgerkunde). Jeder
Mensch ist an beidem beteiligt.
O Entkoppelung der Arbeit vom Lohn, gültig für alle, heute
bereits für Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner.
O Die Höhe des Grundeinkommens wird an den in einer
naturgemäßen Landwirtschaft möglichen Einkommen

78
ausgerichtet. Für den Einzellohn werden jedoch Leistung
und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, mit
veranschlagt.
O Wissenschaft und Forschung, Seelsorge und Heilkunst
sowie verantwortliche politische Tätigkeit unterliegen
einem Sonderstatus.
O Es gibt nur eine Steuerart, die dem, was gegenwärtig
Mehrwertsteuer genannt wird, entspricht. Werbung un-
terliegt einer besonderen Besteuerung und kann nicht
abgesetzt werden. Das trifft nicht zu für die Eintragung
einer Sachdarstellung aller Produkte und Innovationen
in allgemein zugänglichen Produktkatalogen.
O Eine Neuordnung von Währung und Geldwesen ist Auf-
gabe des Staates, das heißt des Rechtslebens. Die Wirt-
schaft braucht dringend ein verändertes Geldwesen.

7. Wirtschaftlich-produktive
und geistig-schöpferische Arbeit
Die beiden Jahrtausende nach Christus überblickend, darf
festgestellt werden, daß Idee und Verwirklichung der mensch-
lichen Tugend: Brüderlichkeit bereits vor 2000 Jahren der
Menschheit als Aufgabe vorgestellt wurden, beginnend mit dem
eindrucksvollen Bild des »barmherzigen Samariters<. Noch in
unserem Jahrhundert blieb der Ehrenname Samariter für die
Helfer in Kriegsnöten und in der deutschen Arbeiterbewegung
für freiwillige Dienstleistungen und erste Hilfe bei Betriebs-
unfällen. Als Lenin nach dem Ziel seiner kommunistischen Ideo-
logie gefragt wurde, antwortete er mit der Losung der »Praxis
der Apostel« (Luther sagt »Apostelgeschichte«): »Einem jeden
nach seinem Bedürfnis« - ein Wort, das er nicht nur christli-
chem Geistesgut entlieh, sondern auch dem Preußentum: >suum
cuique!<, was das gleiche bedeutet als kennzeichnende Ergän-

79
zung zu der von der Potsdamer Garnisonkirche seit der Preu-
ßenkönige Zeiten stündlich gespielten Glockenspielweise: »Üb'
immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und wei-
che keinen Fingerbreit von Gottes Wegen ab!«
Die soziale Bewegung begann mit dem Christentum und
wirkte durch die Zeiten fort, bis sie sich die >sozialistische< nann-
te, dies bereits unter einem ihrer abermals christlichen Neu-
gründer aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, Wil-
helm Weitling. Weitling gehört zu den eigentlichen Begründern
der deutschen Arbeiterbewegung, die den Impuls von Johan-
nes Chrysostomos und damit den Urimpuls der christlichen
Sozialbewegung wieder aufnahmen. Sein Name wurde aller-
dings verdrängt durch den radikalen Marxismus. Dort herrscht
der Klassenkampf, und statt Brüderlichkeit in der Wirtschaft
erleben wir bei knapper werdender Arbeit einen unbarm-
herzigen Konkurrenzkampf.
»Die Wirtschaft ist unser Schicksal«, das ist ein zum Allge-
meingut gewordener Glaubenssatz. Fürwahr, ein furchtbares,
erdrückendes Phänomen, das zugleich arm und reich macht
und uns bereits die Luft zum Atmen nimmt. Zuallererst muß
geprüft werden, ob der Moloch Industriegesellschaft noch wie
einst der Drache Fafnir besiegt werden kann. Er muß außeror-
dentlich schrumpfen, um für die Erde und den Menschen wie-
der erträglich zu werden. Es ist schon möglich, daß er dabei
ganz >draufgeht<, doch besser er stirbt, als wir und die Erde
mit ihm. Das größte damit verbundene Schreckgespenst, wel-
ches schon jetzt bedrohliche Ausmaße angenommen hat, ist
die dabei entstehende Arbeitslosigkeit.
Früher einmal arbeitete der Mensch, um zu leben, soviel und
nicht mehr. Wer meint, das heute für sich in Anspruch nehmen
zu können, wird sehr schnell zu einem >Südseeinsulaner< er-
klärt, einem unzivilisierten >Wilden<, denn der moderne Mensch
lebt, um zu arbeiten, und er arbeitet, um Geld zu verdienen,

80
möglichst schnell, möglichst viel. Es ist dabei unwichtig, was
gearbeitet wird. Und da am meisten beim Verkauf von über-
flüssigen Dingen verdient werden kann, wird soviel Schund
und Lebensunwichtiges produziert. Auch Atomreaktoren oder
Rüstungsgüter sind ein gutes Geschäft!
Leider lassen sich letztere nur verkaufen aus der Erwartung,
daß es Kriege gibt, und in der Hoffnung, daß daraus möglichst
viel Ersatz folgt. Also müssen immer wieder irgendwo Kriege
angezettelt werden. Krieg ist ein wirklich großes Geschäft! Man
sagt das nur nicht so gern. Allerdings kommen solche Geschäf-
te nur wenigen Kapitalisten zugute. Die überwältigende Mehr-
heit möchte lieber Frieden und ebenfalls nicht die lebensbe-
drohenden Atomreaktoren. Doch viel Geld verdienen wollen,
womit auch immer, die allermeisten Menschen.
Doch zurück zur Arbeitslosigkeit, die eigentlich eine Ver-
dienstlosigkeit ist. Hundert bis hundertfünfzig Jahre lang ha-
ben die Menschen ihre Intelligenz dazu benutzt, um sich ar-
beitssparende und arbeitserleichternde Maschinen zu erfinden
und zu bauen. Sie sind dabei sehr weit gekommen. Heute erle-
digt vielfach ein Knopfdruck, wozu hundert Menschen früher
Stunden harter Arbeit brauchten. Für den Arbeitgeber ist zu-
dem der arbeitende Mensch unbequem, der hat seine eigenwil-
ligen Vorstellungen, die Maschine ist da problemloser und bil-
liger. Für den Arbeitnehmer ist die Maschine ebenfalls ange-
nehmer, weil sie die Arbeit erleichtert und ihm mehr Freiräu-
me verschafft. Offenbar hat niemand bedacht, daß, wenn im-
mer mehr Maschinen den Menschen die Arbeit abnehmen kön-
nen, auch immer weniger Arbeiter gebraucht werden; daß so-
mit Arbeitslosigkeit im Konzept liegt. Bisher wurde das ver-
tuscht durch dieses lebensfeindliche Wirtschaftswachstum, das
1993 nach den Prognosen der >Wirtschaftsweisern erstmals ganz
auszubleiben drohte.
Gleichläufig gibt es immer mehr Arbeit für Landwirte, für

81
Mütter mit Kindern, für selbständige Handwerker, für Polizi-
sten, Krankenpfleger jeder Kategorie und für die Rettung un-
serer Umwelt. Diese Arbeitsberge können nicht auf viele Schul-
tern verteilt werden, weil die Arbeiter nicht zu bezahlen sind.
Das größte Arbeitsaufkommen aber würde entstehen, wenn
alle Bürger sich, ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung ent-
sprechend, kundig machen würden über die Welt, in der sie
leben, und über die Katastrophe, der sie gedankenlos zusteu-
ern.
Es gibt alsoArbeit in Hülle und Fülle, lebensnotwendige und
menschengemäße Arbeit, die um dieser Arbeit und nicht um
des Geldes willen zu leisten wäre. Das Jahr 1993 brachte eine
Rekordzahl von Firmenpleiten, von stillgelegten Bauernhöfen
und auch von gestrichenen Rüstungsaufträgen. Es gibt bereits
von allem zu viel: zu viel Stahl, zu viel Getreide, zu viel Milch,
zu viel Textilien, zu viel, zu viel! Wir sind ja auch eine Über-
flußgesellschaft! Aber immer noch wollen die allermeisten Men-
schen mindestens sieben Stunden lang am Tage arbeiten - um
Geld zu verdienen. Vielleicht aber auch, weil sie nichts mit sich
anzufangen wissen und ohne eine feste geregelte Arbeitszeit
zum Spielball von Lust und Laune würden, wobei der letzte
Rest von Lebenssinn verlorengeht. Die Lösung wäre doch so
einfach!
Schon 1980 schrieb Joachim Windelberg das herausfordern-
de Buch Der grüne Diktator. Darin wird als eine der ausgefalle-
nen Maßnahmen des grünen Diktators die Umwandlung der
Arbeitsämter in eine Art Volksbildungswerk beschrieben. Das
Arbeitslosengeld gibt es danach in Form eines Gehaltes oder
Lohnes mit allen entsprechenden Abzügen und der Auflage,
irgendeinen der angebotenen Kurse belegen zu müssen. Diese
Kurse sind ganztägig. Nur für diejenigen, die eine Halbtages-
arbeit suchen und also auch nur dementsprechend bezahlt wer-
den, gibt es Halbtagskurse. (Die Einzelheiten sind es wert,

82
gelesen zu werden.) Manches wird bereits heute von den Ar-
beitsämtern geleistet.
Zu diesem sinnvollen Vorschlag müßte aber noch eine weite-
re Maßnahme hinzukommen: die Unterteilung der Arbeitszeit
in produktive Tätigkeit und Bildungsarbeit am Arbeitsplatz.
Das Neue daran ist, daß nur noch eine begrenzte Zeit für den
Bereich Produktion gearbeitet werden kann, sagen wir einmal:
vier Stunden täglich. In der übrigen, gesetzlich festgelegten
Arbeitszeit muß vom Arbeitenden an einem der vom Betrieb
anzubietenden Weiterbildungskurse teilgenommen werden.
Dazu können je nach Befähigung der Mitarbeiter die unter-
schiedlichsten Themen angeboten werden. Unter Umständen
wird auch nur gemeinsam beispielsweise eine solche aktuelle
Veröffentlichung wie Herbert Gruhls Himmelfahrt ins Nichts
gelesen und besprochen oder eine TV-Sendung gemeinsam aus-
gewertet. Firmenschulden und Kredite werden eingefroren. Wir
können das auch bei den Schulden der Dritte-Welt-Länder
sowie bei Polen und Russen, warum nicht bei unseren eigenen
Betrieben, wenn diese dadurch ihre Menschen weiter beschäf-
tigen und bezahlen können, allerdings wohl kaum in der glei-
chen Höhe wie bisher, doch ausgehend von einem realen Grund-
gehalt, das nicht unterschritten werden darf. Wer einen Gar-
ten und ein eigenes Haus hat, kann die nicht der Produktion
gewidmete Arbeitszeit auch dort sinnvoll einsetzen, z. B. wie-
der Gemüse und Kartoffeln selbst anbauen. Dies kann eben-
falls in Kursen gelehrt werden. Vor allem müßten alle Bürger,
die das Wahlrecht und Mitbestimmung in Anspruch nehmen
wollen, politische und betriebswirtschaftliche Lehrgänge nach-
weisen.
Wer jetzt mit dem Einwand kommt: »Wo bleibt denn da die
freie Marktwirtschaft?«, der muß sich fragen lassen, wo diese
denn geblieben ist in der Preisbindung in unserer Landwirt-
schaft? Solange der Bauer nach EG-Richtlinien für die Mehr-

83
zahl seiner Produkte die gleichen oder geringere Preise als vor
40 Jahren bekommt, während er für alle Industriegüter, für
Arbeitslöhne und Energie das Mehrfache aufwenden muß, so-
lange kann doch nicht im Ernst von einer freien Marktwirt-
schaft gesprochen werden, abgesehen von allen Subventionen,
einengenden Vorschriften und Schuldenabwälzung der öffent-
lichen Hand auf die Bürger. »Weil unsere Landwirte zu viel
produzieren?« Aber auch das ist nicht zutreffend: Erstens sind
wir in Deutschland nicht in der Lage, uns hundertprozentig
selbst zu ernähren; zweitens hungert nach offiziellen Angaben
etwa eine Milliarde Menschen in der Welt. 12 bis 17 Millionen
Menschen sterben jährlich an Hunger oder Abwehrschwäche
durch Unterernährung. Was heißt da: »zuviel produzieren?«
Dennoch läßt sich sagen: »Das geht doch alles nicht; die Ge-
setze, die Betriebsgegebenheiten, die Tarifverträge und vieles
mehr lassen dergleichen einschneidende Veränderungen gar
nicht zu.« Das mag stimmen. Doch die Natur - auch die mensch-
liche Natur - läßt unser gegenwärtiges Verhalten ebenfalls
nicht mehr zu. Der Kollaps zeichnet sich bereits ab. Sollten
wir da nicht besser die Steuerung des Zusammenbruchs sel-
ber in die Hand nehmen und versuchen zu retten, was noch zu
retten ist?

84
»Wir sind das Volk« - auf der
Suche nach unserem Staat

1. Der Staat: Was ist er nicht - wie soll er sein?


Was rührt uns innerlich an, wenn wir das Wort >Staat< hören?
Vielleicht nichts anderes als die bekannte Redensart: >Damit
kann man keinen Staat machen!< Herkömmlich bedeutet das
mit einem Fremdwort umschrieben: >So können wir uns nicht
präsentierend Es sind also der Zustand und das Aussehen, das
ein Mensch sich gibt, gemeint. Das kann für den einzelnen wie
für das Ansehen einer Gemeinschaft gelten. Status gilt im La-
teinischen für >Stellung<, >Stand< und damit >Rang<, und davon
abgeleitet für >Würde< wie auch für die >Verfassung<, in der man
sich befindet, und schließlich für die Verfassung, welche sich
eine politische Gemeinschaft gibt. Doch zu welchem Zweck?
Ist der Staat, wie er im Zusammenhang mit einem Volk ge-
meint ist, eine Art Verkehrsordnung für den ungestörten Ab-
lauf des uns aufgegebenen Zusammenlebens? Ist er ein Büttel,
der Störenfriede abwehrt, ein Diener also, der nach seinen Ver-
diensten eingeschätzt wird? Oder stellt er sich als ein selbstän-
diger oberster Souverän dar, der denen gebietet, die ihm Un-
tertan sind? Ist er mithin Träger einer Macht, die ihre Gewalt
>von Gottes Gnaden< ableitet? Noch vor der die >Demokratie<
proklamierenden Französischen Revolution hatte Jean-Jacques
Rousseau den Staat als einen »contrat social«, einen Gesell-
schaftsvertrag., erklärt, den miteinander lebende, arbeitende
und handelnde Menschen schließen, nachdem sie den größten
gemeinsamen Nenner miteinander gefunden haben, die volonté
générale, den Allgemeinwillen.

85
Nach diesem Verständnis ist also ein Staat ein Verein, der
sich mit Verfassung oder Grundrecht eine Satzung gibt, wel-
che die Richtlinien für ein durch die Umstände erzwungenes
oder auch gewolltes Zusammenleben darstellt. Nach Heller:
»Ein durch repräsentativ aktualisiertes Zusammenhandeln von
Menschen dauernd sich erneuerndes Herrschaftsgefüge, das
die gesellschaftlichen Akte auf einem bestimmten Gebiet in
letzter Instanz ordnet.« 23 Soweit die in der Zeit des Ra-
tionalismus und Materialismus gängig gewordeneAnschauung.
Und entsprechend gestaltete sich das Verhältnis zum Staat
rational aus Zweckmäßigkeitserwägungen - eine Tatsache, die
man einsieht, jedoch ohne ein inneres Verhältnis zu ihr zu fin-
den. Diesem Staat gegenüber sind lästige Forderungen wie
unter anderem Steuern als sich beständig erhöhende >Vereins-
beiträge< zu erfüllen, die umgekehrt vom Bürger mit eigenen
Forderungen an den Staat erwidert werden, ein Verhältnis also
rein juristischer Art, in dem um Pflichten und Rechte gefeilscht
wird wie im Wirtschaftsleben um Preise.
Wer die Staaten in Südamerika aus eigener Anschauung ken-
nen lernen konnte - und dies nicht als Tourist, sondern mit
tieferen Einblicken in deren Infrastruktur erhielt mit einer
einzigen Ausnahme das Bild von Groß-Firmen, die in der Zeit
der Kolonisierung vor Jahrhunderten von wenigen, noch heu-
te herrschenden Familien gegründet und inzwischen erweitert
worden sind und sich mit der Ausbeutung der landeseigenen
Schätze und deren Export beschäftigen. Indem die für ihre Si-
cherheit und die Verwaltung der einheimischen Bevölkerung
erforderlichen Einrichtungen eingeführt sind, bedient man sich
einer Art von >Wach- und Schließgesellschaft<, der Vollmacht
und Ansehen eines Staates verliehen werden, indem diesem
Unternehmen statt des Generaldirektors ein Staatspräsident
vorsteht und die Aktionärsversammlung zum Parlament erho-
ben ist, dessen Befugnisse trotzdem nicht größer werden. Selbst-

86
verständlich verschafft eine eigene Armee die wünschenswer-
te Repräsentation und ebenso als Firmenzeichen eine Staats-
flagge, wie sie ohnehin heute von jedem großen Wirtschafts-
konzern, der auf sich hält, vor Verwaltungsgebäuden oderTank-
stellen gehißt wird. Läßt sich mit einer solchen GmbH, mit oft
sehr beschränkter Haftung, »Staat machen<? Weist nicht der
riesige Abstand zwischen einer dünnen, sehr reichen Ober-
schicht und den unter dem Existenzminimum lebenden Mas-
sen der Armen daraufhin, daß hier gerade das fehlt, was das
Wesen eines Staates ausmacht: die soziale Verantwortung ge-
genüber allen Bürgern?
Gerade die sogenannten Kolonialstaaten lassen erkennen,
daß offenbar eine gewichtige Frage zunächst gestellt werden
muß, die nach dem Staatsvolk. In allen Kolonialstaaten und
also auch in den USA fehlt ein einheitliches Volk, das sich sel-
ber seine ihm gemäße Verfassung gegeben hat. Eine Volks-
ordnung, die das ganze Volk einbezieht und nicht eine einge-
wanderte Oberschicht bevorzugt, mit welchen Abwandlungen
und Mischungen auch immer im Laufe der Geschichte solcher
Staatsgebilde. In diesen Fällen läßt sich sicher mit Rousseau
von einem Gesellschaftsvertrag sprechen. Es wurde eine funk-
tionierende und persönlichen Interessen dienende staats-
ähnliche Organisation eingerichtet. Von Volksherrschaft kann
hier keine Rede sein, allenfalls von besserer oder schlechterer
Volksbeherrschung. Hierbei ist Volk als Menschenmasse zu
verstehen, die weder ethnisch, noch kulturell, noch ursprünglich
in ihrer Sprache einheitlich ist. Ein multikulturelles Konglo-
merat!
Und genau diese Vorstellung bestimmt jetzt die Neuord-
nungspläne für das alte Europa mit seinen gewachsenen Volks-
staaten. Auch Europa soll zu einem Kontinent mit Kolonial-
verfassung werden. In wessen Auftrag? Wir erleben eine >Plu-
tokratie< (Reichtumsherrschaft), die mit Plutonium Riesenge-

87
schäfte macht und damit zugleich Weltzerstörung in Händen
hält. Wie hieß doch noch der Gott der Unterwelt bei den Grie-
chen? Hat er, Pluton genannt, sein Schattenreich verlassen,
um in der Oberwelt die Herrschaft über die Menschen, die er
zu >toten Seelen< macht, anzutreten?
Doch kehren wir zurück zu dem Volk, das sich eine Verfas-
sung gibt. Es stellt einen lebendigen Organismus dar, der sich
im ganzheitlichen Wachstum entwickelt und eine unterschied-
lich lange Biographie aufzuweisen hat: die Volksgeschichte. Ein
solcher sozialer Organismus trägt Menschenantlitz, denn er
ist der Kollektiv-Leib eines menschlichen Wesens, das sich als
Volk verkörpert. Völker, die sich ihrer Existenz und Eigenart
bewußt werden, suchen nach dem ihnen gemäßen Staat, um
sich behaupten und voll verwirklichen zu können.
Dessen waren sich die Menschen im alten Europa offenbar
noch bewußt und brachten das in ihrer Bildsprache zum Aus-
druck: Athene, die Tochter des himmlischen Vaters Zeus, ent-
springt dessen Haupte in Wehr und Waffen und überbringt als
Volksgeist die polis dem dazu auserwählten Volk. Auch die po-
lis ist also zunächst Idee, eine geistige Wesenheit, die sich auf
der Erde in Erscheinung zu bringen sucht durch Menschen.
Das war der Auftrag an die so Begabten, und fortan wurde es
Aufgabe der Menschen, das Staatswesen auszubilden und le-
bensfähig zu gestalten. Kein Gott konnte ihnen dies abneh-
men! Vielleicht läßt das Bild der vollgerüsteten Repräsentantin
der göttlichen Stadt uns erahnen, wie eng Staat und Krieg von
nun an miteinander verbunden sind.
Bis heute trägt die Gründung derTochter des Zeus, die Stadt
Athen, deren Namen: Athen. Bemühen wir uns als Menschen
der Moderne um ein Verständnis, so ist dies nacherlebbar. Schon
jede Erfindung ist auf einen genialen Einfall, wie es bezeich-
nend bis heute heißt, angewiesen; das heißt nichts anderes, als
daß wir, uns unbewußt, einem Urwissen Ausdruck geben, wie

88
der Mensch einen solchen realen Eingriff erlebte; wir nennen
das Intuition.
Jedes Wort ist mehr als ein Bündel von Lauten, und darum
fragen wir nun nach der ursprünglichen Bedeutung des uns
vertraut gewordenen europäischen Begriffes der polis. Er ent-
stammt einer Wortschöpfung unserer indogermanischen
Sprachfamilie, im indischen Sanskrit bezeichnet er als pur,
puram eine >Burg<, also eine befestigte Bergsiedlung. Im Grie-
chischen wurde das zu polis abgewandelte Wort zu dem erwei-
terten Begriff für >Vaterstadt<, >Heimat<, und näherte sich so,
der geschichtlichen Entwicklung entsprechend, der größeren
Einheit >Vaterland<, deren Ordnung in politischem Handeln, in
Politik, erfolgt.
Die Begründung des Gemeinwesens aus einer höchsten gei-
stigen Sphäre hat eine wenig beachtete Entsprechung im Evan-
gelium: Die Apokalypse des Johannes bringt gegen Ende ein
Bild der Verheißung für die Menschheitszukunft. Der Seher
erfährt die Schau der »heiligen Stadt« (polis hägia): »Aus dem
Himmel senkte sie sich herab, aus dem Bereiche der Gottheit
selbst. In ihrer Wohlgestalt glich sie einer Braut, zur Vermäh-
lung geschmückt. Und ich hörte vom Throne her eine mächti-
ge Stimme sprechen: Siehe die Hütte des Gottes bei den Men-
schen: Und er wird bei ihnen Wohnung nehmen und sie wer-
den sein Volk sein, und selbst der Gott wird in ihrer Mitte sein.«24
Meister Eckhart nennt ihn den »Gott in uns«.
Bei Martin Luther heißt es in seinem Bekenntnislied: »Eine
feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen!« Die »Stadt
von oben« wird von Johannes entsprechend geschildert: »Sie
hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore«, be-
wacht von Engeln. Ihre Mauern sind gemessen nach »dem Maß
des Menschen, das des Engels ist«. Das sagt genau das aus,
was auch aus dem Satz des Protagoras zu entnehmen ist, der
Mensch entspricht dem Maß eines geistigen Wesens. Die Burg-

89
stadt weist auf ein uranfängliches Bedürfnis des Menschen hin,
sich nicht zu vereinzeln, sondern zusammenzuschließen, denn
der Mensch ist, wie Aristoteles formulierte, ein zoon politikon
von Anfang an, ein auf polis veranlagtes Lebewesen, das be-
deutet, eine zur Gemeinschaft bestimmte Art, vergleichbar den
in Rudel, Schwärm oder Volk (Biene) lebenden sogenannten
Tieren. Offensichtlich verbindet sich diese Eigenschaft zudem
mit dem Bedürfnis nach Schutz = Bergung, was in der Burg
zum Ausdruck kommt und schließlich in die Staatsbegründung
einmündet.

2. »Der Staat ist der erscheinende Gott« (Hegel)


Wem ist die >Idee Staat<, von der Georg Wilhelm Friedrich He-
gel (1770-1831) sagt, daß sie aus dem Reich der Ideen, aus der
geistigen Welt empfangen sei, nun zugeordnet? Selbstverständ-
lich zunächst dem, der ihrer zu seiner Ergänzung, ja Verwirk-
lichung bedarf, denn »ein Volk ist zunächst noch kein Staat«,
sagt der Staatsphilosoph Hegel in Berlin: Zwar ist es ebenfalls
ein geistiges Wesen, eine »sittliche Substanz an sich«, doch fehlt
ihm ohne Staat die volle Realität, ein objektives allgemeingül-
tiges Dasein, das sich nicht nur in einem Selbstgefühl äußert,
sondern zu einer allgemein anerkannten Tatsache geworden
ist. Ohne »die formelle Realisierung«, die in Sitten und Bräu-
chen, in Gesetzen und eigener fester Ordnung und Gestalt für
es selbst und für andere erkennbar wird, ist ein Volk noch kei-
ne souveräne Größe. Erst die Begrenzung führt zur Gestalt.
Dieser Übergangszustand, auf den als Vorstufe eines Volks-
staates hinzuweisen Hegel erkennbar Wert legt, ist vergleichbar
einem noch nicht geborenen Kind. Auch in statu nascendi, im
Zustand des Werdens, ist es bereits individueller Mensch, je-
doch erst mit Namengebung, standesamtlicher Eintragung und
schließlich der Mündigsprechung findet es die volle Aufnahme

90
in die Gesellschaft, wird es Mitbürger. So gibt erst der Volks-
staat dem in Idee und Anlage vorhandenen Volk die zu seiner
Verwirklichung in der Geschichte - als seiner Biographie -
notwendige Voraussetzung. Der Nationalstaat ist die leibliche
Verwirklichung des Volkes. Nach Hegels Auffassung ist er noch
mehr: Er sieht den Staat im dargestellten Sinne als die dem
Irdischen nächststehende Verkörperung des Weltgeistes.
Darum kann Hegel die Aussage wagen: Der Staat ist »der
erscheinende Gott«. Wie ist diese überraschende Folgerung und
von vielen gewiß zunächst als absurd empfundene Aussage zu
verstehen? Für die philosophische Betrachtung bedeutet sie
nichts anderes, aber auch nicht weniger, als das Offenbarwerden
des Weltengeistes, mit dem griechischen Begriff Logos gleich-
bedeutend. In Übereinstimmung mit hellenischer Philosophie
und dem Prolog des Johannes-Evangeliums erkennen wir ihn
als den Impuls allen Lebens: »In ihm war das Leben, und das
Leben war das Licht der Menschen.« (Joh. 1,4-5) Wie früher
dargestellt, zielt die Evolution auf den Menschen als Träger
des vom Logos erleuchteten Bewußtseins.25 Die Menschheits-
geschichte wird zu einem Stufenweg fortschreitender Entwick-
lung, der noch nicht beendet ist. Hegel sieht die Verwirklichung
des Staates als die letzte Stufe der Inkarnation (Verleiblichung)
des Logos im Menschenreich.
Das ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Sie ist die letzte
insofern, als die Bewältigung dieser Aufgabe den vollendeten
Menschen bedingt. Sie ist aber auch die umfassendste, als durch
den Staat der Mensch sich mit den irdischen Gegebenheiten,
die in diesem geordnet werden sollen, ganz und gar verbinden
muß. Die Verwirklichung der - wie Hegel mit Piaton sagt -
göttlichen Idee Staat ist, wie wir aus eigener Erfahrung wis-
sen, die schwerste Aufgabe. Und das ist begründet in der zu-
nehmenden Schwierigkeit, die Polarität Gemeinwohl und per-
sönliche Freiheit miteinander in Einklang zu bringen. Die al-

91
lenthalben auf dem politischen Feld gegenwärtig auszutragen-
den Probleme zeigen dies in dramatischer Weise. Das, was wir
mit dem gegenwärtig verschwommenen Begriff >Politik< be-
zeichnen, erfordert für die Gestaltung der Zukunft größt-
mögliche Fähigkeit eines tiefgründenden Wissens und unbe-
irrbaren Charakters. Und die Formulierung Hegels zeigt zu-
gleich die Verantwortung an, vor welcher der Politiker steht:
nicht nur vor seinem Volk, sondern auch vor Gott. Das bringt
der von den höchsten Verantwortungsträgern bisher abzulei-
stende Eid unseres Grundgesetzes zu feierlichem Ausdruck,
wird jedoch im gegenwärtigen Werteverfall allgemein nicht
mehr ernstgenommen.
Selbstverständlich weiß auch Hegel um den möglichen Miß-
brauch und um den aus bitterster Erfahrung an der Praxis bis
in unsere Zeit sich erhebenden heftigen Widerspruch gegen den
Staat. Er greift dies auf:
»Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist; sein
Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Ver-
nunft. . . Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere
Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man
muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrach-
ten. Jeder Staat, mag man ihn auch nach den Grundsätzen,
die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene
Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er nament-
lich zu den ausgebildeten unserer Zeit gehört, die wesentlichen
Elemente seiner Existenz in sich. Weil es aber leichter ist,
Mängel aufzufinden, als das Affirmative (Bestätigende, d.V.)
zu begreifen, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne
Seiten den inwendigen Organismus des Staates selbst zu ver-
gessen. Der Staat ist kein Kunstwerk; er steht in der Welt,
somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums;
übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren (ver-
formen, d.V.). Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein

92
Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebendiger Mensch;
. . . das Leben besteht trotz des Mangels.«26
Das Goldstück in Verbrecherhand verliert ebenso wenig an
Wert, wie die in einen Misthaufen gefallene Münze.
Hat Hegel mit diesem Hinweis ahnungsvoll vorausgesehen,
welcher Mißbrauch mit dem von ihm gefeierten Staatsideal im
nachfolgenden Jahrhundert getrieben würde? Hat sein poli-
tisch wirksamster Schüler, Karl Marx, das gewollt, was in sei-
nem Namen geschah?
Wir haben erlebt - und erleben es noch -, zu welchen Folgen
eine Mißdeutung der von Hegel ausgesprochenen Würdigung
des Staates als »erscheinender Gott« verführen kann. Doch die
eingetretene Verabsolutierung, ja Vergötzung des Staates im
Marxismus war nur dort möglich, wo der Mensch statt des Logos
die »Göttin derVernunft<, und dies in der Verarmung materiali-
stischer Anschauungsweise, auf den Altar erhob, wie während
der Französischen Revolution buchstäblich geschehen. Wer
keine höchste göttliche Macht anerkennt, für den wird deren
Ziel, der Staat, nun selbst zum Gott. Und im Namen dieses
einzig anerkannten Pseudogottes glaubt er nach eigenem Gut-
dünken als dessen Diener handeln zu dürfen, ja sogar gegen
sein eigenes Gewissen handeln zu müssen. Der von Boris Pa-
sternak in seinem Epos der bolschewistischen Revolution Dr.
Schiwago geschilderte Kommissar hat auch seine Ideale, nur
stammen sie nicht aus der Sphäre des himmlischen Logos, son-
dern aus seelenloser Ratio, aus dem eindimensionalen Erfassen
der Welt.
Wir wissen um die Menschenopfer, die diesem Moloch So-
wjetstaat, mit dem kein Staat zu machen war und ist, gebracht
wurden. Sie gehen in die zweistellige Millionenzahl, von der
Verwüstung der Seelen und Schicksale ganz zu schweigen. Doch
darf nicht übersehen werden, daß sie nicht nur Folge menschen-
verachtender Brutalität waren, sondern auch aus Überzeugung

93
dargebracht wurden, in der Vorstellung, dadurch dem Glück
und Frieden der Menschheit insgesamt dienen zu können. So
wurde dieser Irrglaube zu einem mörderischen Verhängnis für
die ihm unterworfenen Menschen, entprechend jener Wahn-
vorstellung, die als Heilige Inquisition Jahrhunderte zuvor im
christlichen Abendland wütete.
Da ihr Vorgehen im Namen des Gottes der Liebe erfolgte,
muß die Inquisition als noch größere Verirrung der Menschen
bezeichnet werden, allerdings von einer noch unaufgeklärten
Menschheit erdacht. Doch so wenig das Christentum als kos-
mische Tatsache dadurch in Frage gestellt werden kann, wird
durch eine schreckliche Erfahrung mit dem geschichtlichen
Staat das Wort Hegels von der Erscheinung einer göttlichen
Idee und damit eines bleibenden Auftrages aufgehoben. Die
Geschichte mit ihren endlos erscheinenden Auseinander-
setzungen der Völker untereinander erscheint für Hegel als
ein Kampf der Volksgeister, der zu verstehen ist als ein Prozeß
der Selbstbewußtwerdung des diese umfassenden Weltgeistes,
so wie ein Mensch nur im Gespräch oder im beständigen Ab-
wägen widersprüchlicher Gedanken zu letzter umfassender
Erkenntnis reift.

3. >Der Acker ist die Welt<


Für den Einzelnen, für die Individualität, führt die Überein-
stimmung mit dem Willen des Weltgeistes zur Freiheit. Und
dies nicht nur im Sinne eines persönlichen Erlebens, sondern
auch zu einer Einsicht in die Notwendigkeit der »vom Absolu-
ten geschaffenen Gebilde des objektiven Geistes und von des-
sen Wollen« (Hegel).27 Bei dieser möglichen freiwilligen Einord-
nung in das größere Ganze - in diesem Falle Staat - wird die-
ser verstanden als ein Gebilde des objektiven Geistes. Dies zu
durchdenken kann zu einem Verständnis einer Staatstreue füh-

94
ren, die historisch das Preußentum kennzeichnete, vor allem
aber im Begriff >Reich< lebte, das im europäisch-germanischen
Bewußtsein nie als Imperium (Oberherrschaft), sondern als
Ganzheit politischer und religiöser Werte verstanden worden
ist.
Für das Verhalten der Gemeinschaft ist nach Hegel die Ein-
heit von rechtlichem Verhalten und ethischer Gesinnung das
Wesentliche. Im >Staat< erlangt für ihn diese Einheit ihre all-
gemeinste und höchste Gestalt. Weil für Hegel die Einheit von
Objektivität und Subjektivität im Logos und damit in Gott
gegeben ist, wird für ihn der >Staat< - wir sollten hier besser im
Sinne von Ganzheit sagen: das >Reich< - »der erscheinende
Gott«, anders ausgedrückt: zur Epiphanie (Offenbarung) des
Göttlichen.
Hier spricht Hegel in unmittelbarer Übereinstimmung mit
Gesinnung und Handlungsweise eines maßgebenden Kirchen-
vaters, als welcher Johannes Chrysostomos, Patriarch der grie-
chisch-orthodoxen Christenheit, zweifellos anzusehen ist und
dessen Erkenntnisse Konrad Farner28 aus theologischer Sicht
uns nahezubringen sucht: »Eine Umgestaltung des Seins zu
erstreben, trägt schon in sich die Notwendigkeit, über das rei-
ne Predigen hinauszugehen. >Mein Reich ist nicht von dieser
Welt<, dies Wort Jesu heißt: Mein Reich ist weder das herr-
schende Reich Roms noch das verlorene Reich Israels = Judas.
Dies Wort Jesu heißt nicht: Was auf Erden geschieht und ge-
schehen wird, ist nicht Gottes; im Gegenteil: Auf Erden, in die-
ser Welt, ist ein grundstürzender Wandel vonnöten und steht
jetzt unmittelbar bevor; es ist Zeit, den Ernst der Lage zu er-
fassen und sich entschieden darauf einzurichten. Sinn und Ziel
des Wortes ist Sinnesänderung, Umkehr, Abkehr, wie sie ist;
Abwendung vom gegenwärtigen Leben, Hinwendung zu neu-
em Leben hier auf Erden. Keine Spur ist zu finden von einem
Reich in einem Jenseits, in einem Leben nach dem Tod: ein von

95
Grund auf neues Leben, alsbald im Diesseits, das ist das Ge-
bot Jesu in seiner Stunde.«29
Der Staatswissenschaftler und Nationalökonom Edgar Sa-
lin schrieb als bedeutender Kenner der Geschichte der Antike
und des Frühchristentums dazu, »daß die Geschichte zu einem
zeitlichen Ablauf ohne Zusammenhang und Sinn wird, wenn
man auf der einen Seite behauptet, Jesu ganzes Leben und
Lehren habe im Zeichen des Wortes >Mein Reich ist nicht von
dieser Welt< (Joh. XVIII, 36) gestanden, und auf der anderen
Seite daneben die Geschichte. . . des christlichen Mittelalters
stellt«.30 Sagen wir auch hier zutreffender: des Reiches! Wört-
lich heißt dieser oft zitierte und noch häufiger mißverstandene
Satz nicht von, sondern aus dieser Welt, das heißt nicht aus
dieser Welt stammend. Sein Ursprung ist der Logos.
Messen wir daran die gegenwärtige durchschnittliche Er-
scheinung des Staates, dann allerdings verstehen wir die
Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber einem Gebilde, das
eher einem dürren Knochengerippe vergleichbar ist denn ei-
nem lebenserfüllten Organismus. Er ist heute repräsentiert
durch einen zentralistischen Verwaltungsapparat, der sich
selbst aller Beziehung zu blutvollem Leben und zu den einsti-
gen Symbolen entäußert hat. Auch der Staat wurde bei uns
entmythologisiert.
Daneben gibt es jedoch immer noch Völker in Europa, die
einen königlichen Repräsentanten als Sinnbild ihrer Volkheit
ehren, so überlebt ein solcher Staatskult uns erscheinen und
so wenig würdig dieser auch gelegentlich vertreten sein mag.
Versucht doch sogar die erste moderne Republik Europas,
Frankreich, einen Staatsstil würdevoller Prägung auszubilden,
der, die wechselnden politischen Ansichten überhöhend, die
Volonté générale verkörpert, wie diese sich auch nicht scheut,
den l'Empereur (Eroberer) Napoléon noch zu ehren.
Wir Deutsche haben dagegen im Umgang mit unserem Staat,

96
mit seinen Symbolen und im verhaltenen Gebrauch unserer
Bundesfahne (gegenüber dem Flaggenstolz unserer nordeuro-
päischen Nachbarn) unangebrachte Zurückhaltung zu über-
winden, die unserer 1200jährigen Geschichte nicht entspricht.
Die Forderung Hegels nach nationalstaatlicher Entwicklung
der Völker bedeutet für ihn nicht die geringste Entfernung von
der Idee der Einen Menschheit, deren Existenz uns immer be-
wußter werden soll: »Die konkreten Ideen, die Völkergeister,
haben ihre Wahrheit und Bestimmung in der konkreten Idee,
wie sie die absolute Allgemeinheit ist — dem Weltgeist, um des-
sen Thron sie als die Vollbringer seiner Verwirklichung, und
als Zeugen und Zieraten seiner Herrlichkeit stehen.«31 Natio-
nalstaaten und Menschheitsbewußtsein sind nicht ein Entwe-
der-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch, ja mehr noch: Das er-
stere ist die Voraussetzung für das zweite. Entsprechend der
Polarität von Individualität und Volk haben wir jetzt die Pola-
rität von Volk und Menschheit zu ergreifen. Hegel würde sa-
gen, daß nur die Erfüllung beider Aufgaben dem göttlichen
Willen gerecht zu werden vermag.
Und er geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: »Die
Staaten als solche sind unabhängig voneinander, und das Ver-
hältnis kann nur ein äußerliches sein, so daß ein drittes Ver-
bindendes über ihnen sein muß. Dies Dritte ist nun der Geist,
der sich in der Weltgeschichte Wirklichkeit gibt und den abso-
luten Richter über sie ausmacht.« Der Geist, das ist der Wel-
ten-Logos, der im abendländischen Bewußtsein als der Herr
gefeiert wurde im Triumphkreuz vor dem Hochaltar der Kir-
chen und Dome des frühen Mittelalters als der Kyrios mit aus-
gebreiteten Armen vor dem von ihm überwundenen Kreuze ste-
hend: der Herr der Welt und der Geschichte, verstanden zu-
gleich als der Weltenrichter. Denn vor dem Urbild des Men-
schen, durch die Erfüllung oder Verletzung seiner Bestimmung,
vollzieht sich das Urteil über die Völker. »Die Weltgeschichte

97
ist das Weltgericht!« (Schiller) In dem Dritten, dem über den
Individualitäten und Völkern Stehenden, soll, so meint Hegel,
der Genius der Menschheit offenbar werden, der allem, was
Menschenantlitz trägt, gemeinsam ist und dessen bewußt zu
sein, bis in das Handeln hinein, alle vereinigt. »Denn der
Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich
als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur
Momente sind. Es ist der Gang Gottes in der Welt.«32
Und fällt es schon schwer, in Polaritäten, die nicht in Dualis-
mus auseinanderfallen, sondern eine lebendige Ganzheit bil-
den, zu denken, so fällt es noch weit schwerer, die Dreieinigkeit
in den Lebenserscheinungen als dreigliedrige Wesenheit zu
erfassen: Individualität - Volk - Menschheit.
In seinen Vorlesungen über die Philosophie derWeltgeschichte
beschreibt Hegel, wie die Darstellung der Biographie der Völ-
ker erfolgen müsse, um den durch sie hindurchwirkenden Welt-
geist zur Erscheinung zu bringen. »Die Geschichte hat vor sich
den konkretesten Gegenstand, der alle verschiedenen Seiten
der Existenz in sich zusammenfaßt, ihr Individuum ist der
Weltgeist. Indem also die Philosophie sich mit der Geschichte
beschäftigt, macht sie sich das zum Gegenstande, was der kon-
krete Gegenstand in seiner konkreten Gestalt ist, und betrach-
tet seine notwendige Entwicklung.« Insbesondere von der sich
daraus für Hegel ergebenden Forderung, über die Einzelereig-
nisse zum dahinter die Weltevolution befördernden Geist vor-
zustoßen, sind wir gerade in bezug auf die neuzeitliche Ge-
schichtsbetrachtung noch meilenweit entfernt, man könnte
auch sagen, in einem undurchdringlichen Dornengestrüpp ver-
fangen. Hegels Forderung lautet: »Darum ist für sie (die Ge-
schichtsphilosophie) das Erste nicht die Schicksale, Leiden-
schaften, die Energie der Völker, neben denen sich dann die
Begebenheiten hervordrängen, sondern der Geist der Begeben-
heiten, der sie hervortreibt, ist das Erste!« Und nun bedient er

98
sich des mythischen Bildes einer Wesenheit, wenn er sagt: »Er
ist der Merkur, der Führer der Völker.«33 Erinnern wir uns, daß
Tacitus bei Beschreibung der germanischen Götterkunde Mer-
kur und Odin gleichsetzt, welch letzterer dem mythischen Be-
wußtsein als der »Führer der Völker« galt! Nun können wir
verstehen, daß dies Bild vom >Weißen Reiter<, der sich in der
Volksüberlieferung mit Odin verbunden hat, in der Apokalyp-
se des Mysterien-Eingeweihten Johannes als Offenbarung des
Herrn der Geschichte erscheint, als dem Seher Johannes »der
Himmel aufgetan« wird.34 Das besagt nichts anderes, als daß
er die Hintergründe des Wirkens des Weltgeistes schauen darf
und dessen Namen erfährt. Es ist derjenige, der »mit Gerechtig-
keit streitet und richtet« und gerufen wirdTreu undWahrhaftig.
Und weiter wird von ihm gesagt, er hat »auf seinem Gürtel
einen Namen geschrieben, den niemand kennt als er selbst«.
Diesen Namen können wir weder lesen noch sagen, denn es ist
derjenige, der zwar einem jeden Menschen zu eigen ist, den
aber nur sein Eigentümer aussprechen kann: ICH.35 Hier ist
es der Träger des Welten-Ich, von dem auch gesagt wird, es ist
der göttliche Logos. »Aus seinem Munde, aus seinem Sprechen
geht ein scharfes Schwert hervor, daß er damit die Völker vor-
antreibe, und (dennoch) wird er ihnen ein Hirte sein (allerdings)
mit ehernem Stabe.« In dem Augenblick, da er in der Geschichte
und damit in der Erdenwirklichkeit ankommt, dies dargestellt
im Bilde der Kelter, erfährt der Seher Johannes den dritten
Namen, wir könnten auch sagen, das dritte entscheidende
Kennzeichen: »König von Königen, Herr von Herren« (Ofb. 19,
11-17). Die Geschichte als Führung durch die höchste Macht
mittels derer, die als Diener (Minister) die ihnen zugefallenen
Aufgaben zu vollbringen haben, die verantwortlich Regieren-
den hier dargestellt im alten Bild der Könige und Herren.
Leo Tolstoi kommt in seinen Geschichtsbetrachtungen in der
Darstellung von Krieg und Frieden zu entsprechenden Er-

99
kenntnissen: »Bei den Vorgängen der Weltgeschichte sind die
sogenannten großen Männer nur Etikette, die diesen Vorgängen
den Namen geben. . . Eine jede ihrer Handlungen ist historisch
betrachtet nicht ein Akt freier Selbstbestimmung. . . Die Ge-
schichte bedient sich eines jeglichen Augenblicks im Leben der
Könige als eines Werkzeuges zur Erreichung ihres Zieles.«36
Auch unsere Zeitgeschichte wird sich nur aus solchem Bewußt-
sein enträtseln und verstehen lassen.

4. Das erste Deutsche Reich


Zweimal in der deutschen Geschichte näherte sich die von He-
gel dargestellte Verkörperung des Weltgeistes in Gestalt eines
Staates auch in der Staatswirklichkeit dem Idealbild: im Bild
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und im Preu-
ßentum.
Schon die Begründung des Deutschen Reiches weist in diese
Richtung. Karl der Franke, aufgestiegen aus dem germanischen
Stammesverband, der sich den stolzen Namen >die Frankens
die >Freien<, gegeben hatte, war von der Idee erfüllt, die ger-
manischen Völkerverbände zu einem Reich zu vereinen, das,
die Länder West- und Mitteleuropas übergreifend, das Impe-
rium Romanum neu begründen sollte.
Gewiß ist ihm das Werk des Kirchenvaters Augustin von der
Ciuitas Dei bekannt geworden, aus dem er die Vorstellung ei-
nes christlichen Auftrages auf und an dieser Erde entnahm.
Sein Anspruch, Stellvertreter Gottes zu sein und damit auch
über die Ecclesia und deren Oberhaupt als eines Stellvertre-
ters Christi< zu stehen, sollte nicht als Anmaßung verstanden
werden, sondern in dem Sinne, wie sich fast ein Jahrtausend
später der zweite preußische König, Friedrich Wilhelm I., als
»Amtmann Gottes« verstand. Nach den jahrhundertelangen
Wirren der Völkerwanderung bedurfte es einer europäischen

100
Völkerordnung. Sie konnte in jener Zeit nicht anders erreicht
werden als durch den Krieg, ein Erziehungsmittel der Mensch-
heit. Erst mit der Entwicklung der Atombombe hat dies Mittel
endgültig ausgedient und muß durch geistige Kämpfe abge-
löst werden, was der Menschheit noch keineswegs gelingt. Den
ersten Dreißigjährigen Krieg der deutschen Geschichte zwi-
schen Franken und Sachsen können wir daher nicht aus der
heutigen Sicht und auch nicht aus einer philosophischen Ge-
schichtsbetrachtung lediglich als Brudermord und Wahnsinns-
tat ansehen. Er stellt eher die äußerst schmerzliche Geburt
eines neuen Wesens dar, das in die Welt kommen sollte: das
Deutsche Heilige Reich.
Dieser Krieg wird beendet durch das Opfer Wittekinds, wo-
durch dieser zum eigentlichen Sieger wurde. Er rettete dadurch
die physische Existenz seines Volkes und schuf somit die Vor-
aussetzung für die Übernahme der Reichsführung durch die
Sachsen.
Das Opfer, das Wittekind, Karls stärkster Gegner, durch sei-
nen freiwilligen Friedensschluß für sein Volk gebracht hatte,
wurde vom Schicksal anderthalb Jahrhunderte später in be-
eindruckender Weise beantwortet. In unbewußter Nachfolge
des Wittekind-Opfers gab der letzte Karolinger in Ostfranken,
Konrad, der auf einem Feldzug gegen den eigenwilligen Sach-
senherzog Heinrich einer Krankheit erlag, noch auf dem Ster-
bebett seinem Gefolge den Rat, die Königswürde seinem stärk-
sten Gegner, dem Sachsenherzog, anzutragen. Heinrich nahm
den Antrag an und wurde durch seine besonnene Politik ange-
sichts der das Reich bedrohenden Ungarngefahr, der er
staatsmännisch klug zu begegnen verstand, im eigentlichen
Sinne der erste deutsche König.
Ihm zur Seite stand Mathilde, Ur-Urenkelin Wittekinds. In
menschlicher Bedeutung ihrem königlichen Gatten durchaus
ebenbürtig, widmete sie sich der Erziehung des weiblichen Adels

101
durch dazu eingerichtete Stifte und Klosterschulen. Sie begrün-
dete die Stellung der Königin als einer consors regni, »Genos-
sin der Herrschaft, die zumindest bei den sächsischen und
salischen Königen und Kaisern Deutschlands beibehalten wur-
de. Die Königin hatte nicht nur freie Hand bei der Begründung
solcher Klöster, sondern auch ein Mitspracherecht bei wichti-
gen Entscheidungen, das sie vor allem dazu nutzte, bei Zwi-
stigkeiten mildernd oder versöhnend einzugreifen.
Diese Partnerschaft ist ein bemerkenswertes Zeugnis für die
Stellung der Frau im deutschen Mittelalter. Die männlich-weib-
liche Polarität löste die einseitig männlich bestimmte Herr-
schaftspraxis und -form der Caesaren sowohl im Imperium als
auch im Klerus ab und bezog die Frau in das Denken und Han-
deln für das Volk mit ein. Im verwandten angelsächsischen
Bereich erhielt die Frau die Kennzeichnung die Freodowebbe,
die >Friedweberin<.37
Die Stellung der Königin und Kaiserin im deutschen Staats-
wesen war für das karolingische und später auch das deutsche
Reich »geregelt durch die Palastordnung, die ihr als der Gebie-
terin in der Pfalz eine eigene und nicht unbedeutende Einwir-
kung auf Menschen und Zustände ermöglichte. Diese Palast-
ordnung zeigt, daß der Königin nach der alten Vorstellung
durchaus ein eigenes Gebiet und eine eigene Form zugedacht
war, um ihre Majestät darzustellen und auszuwirken«. Von
Adelheid, der ersten deutschen Kaiserin, teilt eine Aussage des
Odilo mit: »Sie besaß im Glauben eine zuversichtliche Festig-
keit, in der Hoffnung eine unerschütterliche Zuversicht und in
der Hinneigung zu Gott und dem Nächsten die Wurzel alles
Guten und den Urquell aller Tugenden, die Liebe.«38
Die Tochter Adelheids, Mathilde, übernahm als Äbtissin von
Quedlinburg während der Italienfahrt Ottos III. die Reichs-
verweserschaft, die sie hervorragend wahrnahm. Auch die Kai-
serin Kunigunde erhielt die Führung des Reiches anvertraut

102
für den durch einen Feldzug beanspruchten Gatten Heinrich
II. Sie befehligte das Heer, nachdem die Polen - die Abwesen-
heit des Kaisers nutzend - eine Grenzfestung erstürmt hat-
ten. Vier Jahre später wird sie mit der Statthalterschaft in
Sachsen und dem Oberbefehl über die Reichsverteidigung be-
auftragt. Der einzige Brief zwischen Kunigunde und Heinrich,
der erhalten ist, ist kennzeichnend für diese Partnerschaft: »Du
weißt, wie ich Dir so ergeben bin, daß ohne Deine hebe Gunst
mir nichts schön und lieblich erscheint. . . Daher erscheint mir
nichts süß und angenehm, wenn ich nicht Deine Meinung dar-
über kenne, aber es gibt auch nichts Schweres und Hartes, was
ich nicht mit Deiner Gnade und Deinem Rate leicht überwin-
den könnte.«39
Kunigunde ist wohl in besonderem Maße die Aufgabe der
Vermittlung zugefallen, wo Heinrichs trockene Härte Feind-
schaft gestiftet hätte. So wurde ein schwerer Bürgerkrieg in-
terpellente Imperatrice, durch die >Interpellation der Kaiserin<,
verhindert.
Bemerkenswert ist auch die hohe geistige Bildung, die von
den Frauen des Zeitalters der Sachsenkaiser bezeugt ist. Die
Nichte Ottos des Großen, Gerberga, damals Äbtissin von Gan-
dersheim, sprach Griechisch, Hruotsvita, bekannt als Roswi-
tha von Gandersheim, empfing von ihr eine hohe Bildung,
machte sich gründlich mit antiker Literatur vertraut und konn-
te die von ihr verfaßten Legenden und Dramen in Latein schrei-
ben. Sophia, Enkelin Ottos des Großen, war die erste deutsche
Prinzessin mit einem griechischen Namen. Obwohl Stiftsda-
me, begleitete sie als einzige Frau ihren Bruder Otto III. im
Krönungszug, als er am Himmelfahrtstage 996 in Rom zum
Kaiser gekrönt wurde. Das Stift Gandersheim wurde zur Pfle-
gestätte freier hellenischer Geistigkeit und wirkte wie ein Nach-
klang der platonischen Akademie zu Athen.40
Wenn auch nicht immer in der unmittelbaren Mitgestaltung

103
der Politik, so doch auf den Gebieten kultureller und sozialer
Art traten auch später Frauen hervor, wie Hildegard von Bin-
gen oder die Landgräfin Elisabeth von Thüringen, die als Wit-
we, von der Wartburg vertrieben, die zu Thüringen gehörenden
hessischen Gebiete loslöste und das noch heute selbständige
Land Hessen begründete. Mehr noch aber bedeutete ihr sozia-
les Wirken, durch das sie eine echte geistige Schwester ihres
italienischen Zeitgenossen Franz von Assisi wurde, indem sie
sich, um ein Vorbild zu schaffen, selbst der Pflege der Armen
und Kranken in dem von ihr in Marburg eingerichteten Spital
widmete und den Antrag des Staufenkaisers Friedrich II., als
kaiserliche Gemahlin an seine Seite zu treten, abschlägig be-
schied. Aus ihrem Impuls und ihrem Gedächtnis gewidmet,
wurde von den Rittern vom Deutschen Hause, dem Deutschen
Orden, als dieser durch den Herzog von Masovien 1226 das
Kulmer Land erhielt, um die heidnischen Pruzzen zu bekämp-
fen, eine für die damalige Zeit überraschend hohe Zahl von
Spitälern im Sinne vom Lambarene des Urwalddoktors Albert
Schweitzers begründet. Das ist eine soziale Wirksamkeit, wel-
che für den europäischen Osten Elisabeth nach ihrem Tode zu
dem werden ließ, was die Inschrift ihres Marburger Grabes
aussagt: »Gloria Teutoniae«, übersetzt: Der >Ruhm< oder der
>Stolz< oder die >Ehre Deutschlands^
Eine überhöhende Widerspiegelung dieser Zusammenge-
hörigkeit von König und Königin wird in einem bemerkens-
werten Vorgang sichtbar. Galt bisher die Vorstellung >wie im
Himmel so auf Erden<, so finden wir nun im Mittelalter eine
Umkehrung: wie auf Erden, also auch im Himmel, dargestellt
durch Bilder von der Krönung Mariens. Wie die deutsche Köni-
gin und Kaiserin als die Genossin der Herrschaftswürde auf-
tritt, so wird in den Altarbildern von der Marienkrönung diese
nun auch die >Himmelskönigin<. Sie erhält ihren Platz neben
dem Kyrios - dem Herrn des Lebens - und wird wie die mensch-

104
liche Königin zur versöhnenden Fürbitterin. »Maria, bitt' für
uns«, ruft es bis heute vor unzähligen Marien-Altären. Überzeu-
gender kann die Unteilbarkeit zwischen Geist und Erdenwirk-
lichkeit, zwischen Jenseits und Diesseits nicht zum Ausdruck
gebracht werden.
Diese insbesondere im Reich der Sachsenkaiser gelebte ech-
te Partnerschaft, welche die beiden ihre jeweilige Eigenart
auslebenden Pole des Menschseins in sich ergänzendem Tun
verband, ist genau so untergegangen wie das Reich. Was heu-
te als >Gleichberechtigung< erkämpft wurde und wird, ist dem
Wesen nach frauenfeindlich, da es das Anderssein der Frau
geringschätzt und damit ihren Eigenwert mindert.
In der Blütezeit des Reiches trat die hervorragende Frau,
bewertet als Frau unter Frauen, ebenbürtig neben den hervor-
ragenden Mann, der ebenfalls als Mann unter Männern seine
Bewertung fand. Es wurde nicht das eine am anderen gemes-
sen.
In der andauernden Auseinandersetzung zwischen der poli-
tischen und geistlichen Führung in Rom zerbrach der Bogen
des Reiches. Obwohl dem Papst die Wegweisung des Evangeli-
ums bekannt war: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und
Gott, was Gottes ist«, wurde gerade dieses Gebot mit Füßen
getreten. Mit dem Tod Friedrichs II. von Hohenstaufen zog sich
der Genius des Reiches nach 300 Jahren lebendiger Geschichte
in den Kyffhäuser in Gestalt Friedrich Barbarossas zurück.
Zuvor noch hatte Friedrich II. seinen Freund Hermann von
Salza, den Hochmeister des Deutschen Ordens, feierlich in den
europäischen Osten entsandt. Damit wurde ein Samenkorn des
Reichsgeistes in Neuland gelegt.
Nach dem furchtbaren Dreißigjährigen Krieg ging aus den
Trümmern dieser Same als überraschender Sproß auf. In den
Nachfahren des Großen Kurfürsten entstanden - seinen eige-
nen Worten entsprechend - die Rächer des Reiches. Noch ihm

105
selbst gelang es, den verwildertenAdel zu disziplinierter Staats-
treue zu erziehen. Der Sohn Friedrich I. war mutig genug, nach
der Krone zu greifen, und ging als erster König in Preußen in
die Geschichte ein. Die Arbeitsmoral seines Sohnes Friedrich
Wilhelm I., dessen Sparsamkeit und persönliche Genügsam-
keit sowie dessen Schulwesen begründeten eine neue Vorstel-
lung vom Staat. Friedrich der Große, als »erster Diener des
Staates«, diente diesem im Sinne Hegels. Otto von Bismarck
verstand politisches Handeln als Dienst am Gott, »der durch
die Geschichte geht«. Die Rechtsgestalt und Idee des Reiches
werden auch die willkürliche Auflösung Preußens durch seine
Feinde 1947 überleben.

5. »Ora et laboral« -
dem Geist und der Tat bist du verpflichtet!
Dem Wesen des Weiblich-Männlichen entspricht eine andere
Polarität, die ebenfalls für das europäische Mittelalter be-
deutsam geworden ist. Benedikt von Nursia, oftmals >der Va-
ter des Abendlandes< genannt, gab dem von ihm begründeten
und nach ihm genannten Orden eine Losung auf den Weg, die
zunächst in zwei sich widersprechende Richtungen zu weisen
scheint: »Ora et labora!« - >Bete und arbeite!< Doch die innere
Folgerichtigkeit beider Bemühungen wurde bereits viel früher
deutlich in der alteuropäischen Überlieferung von Odin, der,
sich lösend aus dem Weltenbaum als Bild der Natur, nun »von
Wort zu Wort, von Werk zu Werk« gelangt, das heißt von Er-
kenntnis zur Willenskraft und weiter von Tat zu Tat, den Men-
schen voranschreitend. Benedikt wußte um diese zwiefache
Aufgabe des Menschen, in Übereinstimmung mit der Druiden-
weisheit des Nordens.
Orare bedeutet in der lateinischen Sprache zunächst nichts
anderes als >sprechen<, also den Empfindungen und Gedanken

106
Gestalt geben. In der Sprache äußert sich das geistige Leben.
Wendet sich dieses an unseren Ursprung in einer höheren Welt,
so nennen wir es >beten<. Der Imperativ ora will uns herausfor-
dern, immer neu das Band zum Geist, zur Sphäre des Logos zu
knüpfen.
Während das orare in den letzten hundert Jahren mehr und
mehr zurücktrat, bis es heute nahezu ganz verlorenging, wur-
de das laborare in Europa gründlich ausgebildet.
Nicht, daß auch die anderen Hochkulturen das Ergebnis von
schaffendem Fleiß sind, jedoch keine hat derart gezielt und
umgestaltend in die Verhältnisse der Erde eingegriffen, keine
hat die Materie sich in vergleichbarer Weise dienstbar gemacht,
keine auch so verhängnisvolle Zerstörungen durch Krieg und
Technik angerichtet wie die durch die Naturwissenschaften aus
dem Abendland hervorgegangene Zivilisation. Der Motor die-
ser stürmischen Entwicklung, die in wenigen Jahrhunderten
das Antlitz der Erde in den Schwerpunktgebieten völlig verän-
derte, ist einerseits ein zäher Forscherdrang, zum anderen ein
stürmischer prometheischer Wille, beide Ausdruck einer aktiv
wirkenden Lebenskraft.
Vita contemplativa und vita activa sind die miteinander
auszubildenden Kräfte, die Benedikt mit ora und labora ange-
sprochen hatte. Dabei ist mit vita contemplativa nicht eine be-
schauliche Lebensweise gemeint, sondern die auszubildende
»anschauende Urteilskraft«, wie Goethe es nannte. Für Oswald
Spengler sind es »zwei Anschauungen der Welt, zwei Arten,
wie das Blut in den Adern fließt und das Denken ins tägliche
Sein und Tun verflochten wird - es sind endlich mit jeder ho-
hen Kultur zwei Moralen entstanden, von denen jede auf die
andere herabblickt. . .« Nach Spengler sind dies zwei sich wi-
dersprechende und unvereinbare menschliche Seinsweisen, von
denen die eine im Priester verkörpert ist und die andere im
Adel, dargestellt im Bild von >Stola und Schwerte41

107
Diese verhängnisvolle Zweiteilung wirkt sich bis heute aus.
Gerade unter den Menschen, die verändernd in eine entwick-
lungsfähig erscheinende Lebenswirklichkeit eingreifen wollen,
wenden sich die einen ausschließlich einem meditativen Weg
und die anderen einem vordergründigen Aktionismus zu. Sie
suchen sich dabei nicht zu ergänzen, sondern in der großen
Mehrzahl hält jede Seite das Tun der anderen für verfehlt.
Doch erst dann, wenn »die zwei eins werden, offenbare ich
mich«, heißt es in einem apokryphen Evangelium. Weist dieses
Rätselwort des Logos-Christos auf die Notwendigkeit hin, die
Ganzheit zur Erscheinung zu bringen, die die beiden Pole um-
faßt: >ora et labora<? Das Wesen des Menschen zeigt sich in der
Polarität. Hegel lehrte, wie aus These und Antithese die Syn-
these gebildet wird. Die Synthese von weiblichem und männli-
chem Wesen, von Geist und Tat im politischen Leben, verbun-
den in sich ergänzendem Tun, ist das Reich!
Das Gebot, als »Wanderer zwischen beiden Welten« die Verbin-
dung zum Ursprung nicht abreißen zu lassen, wurde in der Zeit
der gelebten Bipolarität erfüllt. Nicht nur Karl der Große be-
rief sich auf seinen als von Gott gegebenen Auftrag, auch Otto,
ebenfalls der Große genannt, nahm vor jeder Entscheidung, zu
der er als König und Kaiser veranlaßt war, an der Heiligen
Handlung teil, durch die er sich vor Gottes Antlitz gestellt wußte.
Und während einer solchen erfuhr er auch seinen Tod.
Die Salbung des Königs vor seiner Krönung entspricht einer
Priesterweihe: Als Priester und König zugleich wurde der zur
Herrschaft durch Erbfolge oder Wahl Berufene auf den Thron
erhoben.
Das höchste Symbol des Reiches, die Reichskrone, heute be-
wahrt in der Wiener Hofburg, ist bemerkenswert bereits durch
ihre Gestalt. Ihre achteckige Form weicht von allen Diademen
der Welt ab. Sie nimmt damit die heilige Bedeutung der Acht
(8) als Ordnung des Kosmos auf, wie diese durch die Jahrtau-

108
sende in Stonehenge, in den Steinkreisen, im achtstrahligen
Stern und den achtfach geteilten Kreisen in der Ornamentik
in Fülle erscheint. Die acht senkrechten Flächen, welche die
deutsche Kaiserkrone bilden, zeigen den Rundbogen des Rei-
ches, wie auch der Bügel, der die Krone nach oben schließt:
Sinnbild der Verbindung von Himmel und Erde zur harmoni-
schen Ganzheit, wie bereits dargestellt wurde. Die beiden Bän-
der, die auch bei bildlicher Wiedergabe hinzugefügt werden,
deuten die Stola an, die >Priesterbinde<, welche dem Träger der
Reichskrone, als Beauftragtem aus göttlicher Weihe, zum Voll-
zug seines heiligen Amtes gebührt.
An Bedeutung gleich steht neben der Krone die Heilige Lan-
ze, welcher der Überlieferung nach Partikel jener Lanze ein-
gefügt sind, mit welcher der römische Legionär die Seite des
Gekreuzigten öffnete, um dessen Tod festzustellen. Josef von
Arimathia - so lautet die Legende - fing das daraus fließende
Blut in einer Schale auf, die das Urbild des Gralskelches wur-
de. Begleitet von der Reichslanze zog das deutsche Ritterheer
955 auf das Lechfeld, um der von Osten heranbrechenden Woge
der ungarischen Reiterheere zu begegnen und einen endgülti-
gen Sieg über diesen Schrecken des Abendlandes zu erringen
unter der Führung Ottos, an dessen Seite, vielleicht als Träger
der Heiligen Lanze, Bischof Ulrich von Augsburg ritt. Das sieg-
reiche Heer begrüßte noch auf dem Schlachtfeld Otto als Kai-
ser. Seinen Beinamen >der Große< verdankt er zu Recht dieser
Rettung des Abendlandes. Doch auch die Ungarn hatten in der
vernichtenden Niederlage ihren Gewinn: Sie waren nun ver-
anlaßt, sich in der Donau-Theiß-Ebene anzusiedeln, traten zum
Christentum über und gründeten unter Stefan, dem Heiligen,
ein europäisches Königreich.
Ein dreifacher Eid band den König, indem er folgende Werte
zu pflegen und zu schützen verpflichtet wurde: pietas, iustitia,
misericordia.

109
»Ehrfurcht vor dem Leben« nannte Albert Schweitzer die
unserem Zeitbewußtsein notwendige Haltung. Sie entsprach
der pietas und schließt ein die Achtung der Würde des Men-
schen und der Erde.
Iustitia zu geloben heißt, jeder Willkür zu entsagen und sich
der Rechtsordnung einzufügen und dieser Geltung zu ver-
schaffen, gerade auch für den Wehrlosen.
Misericordia, Erbarmen, heißt, die Forderung der Mitmensch-
lichkeit zu erfüllen, die dem Armen, Kranken, den vom Schick-
sal Geschlagenen und nicht minder dem unterlegenen Gegner
zusteht.
»O heilig Herz der Völker, o Vaterland« klingt es aus dem
Gesang der Deutschen von Friedrich Hölderlin vor nahezu 200
Jahren. Durch Napoléons Kriege und Politik war dies Herz
krank und zerrissen. Heute ist es noch weit schlechter darum
bestellt, seine innere Kraft droht zu versagen. Zuviel wurde
ihm zugemutet. Juristisch gesehen ist das Deutsche Reich zwar
noch eine bestehende Größe, doch lebendige Wirklichkeit ist es
nicht mehr, und in den Köpfen der Menschen verblaßt die Idee
dieser den Deutschen gemäßen staatlichen Ordnung. Es be-
schäftigt sie weit mehr das Reich-sein als das Reich. Doch die
Folgen sind offenkundig und katastrophal.
Der Kampf um den Menschen als göttliches Abbild tritt in
seine Endphase, wie im ersten Band dargestellt. Maastricht
oder das Reich, Volksbewußtsein und Heimatliebe oder Massen-
gesellschaft, geprägte Kulturenvielfalt oder eine verschwom-
mene Mischzivilisation und schließlich Persönlichkeit oder ge-
normter Einheitsmensch, an dieser Wendemarke steht der
Mensch, stehen die Völker, steht die Menschheit.
Der Idee des Reiches ist in unserem Jahrhundert die Be-
gründung des Völkerbundes und der Vereinten Nationen entge-
gengestellt worden. Hier werden zwar im Namen noch die Völ-
ker anerkannt, die sich verbünden oder vereinen, aber es ge-

110
schieht dies im Sinne des contrat social. Es wird ein Vertrag
aus Vernunftgründen zur allgemeinen Sicherheit und Pro-
blembewältigung geschlossen. So jedenfalls erscheint es oder
wird es den Menschen dargestellt. Dahinter jedoch verbirgt
sich Weltherrschaft oder Vormachtstreben. Der Weltgeist hat
in der >United Nations Organization< genannt UNO, keinen
Platz. Er hat sich zurückgezogen, doch er schwebt über uns,
wir können ihn jederzeit erreichen - in unserem Denken.
Das Reich beginnt in den Herzen und Köpfen von Menschen.
So ruft in der napoleonischen Zeit Johann Gottlieb Fichte in
der letzten seiner Reden an die deutsche Nation seinen Stu-
denten in Berlin zu:
»Es beschwöret euch selbst das Ausland, inwiefern dasselbe
noch im mindesten sich selbst versteht und noch ein Auge hat
für seinen wahren Vorteil. Ja, es gibt noch unter allen Völkern
Gemüter, die noch immer nicht glauben können, daß die gro-
ßen Verheißungen eines Reiches des Rechts, der Vernunft und
der Wahrheit an das Menschengeschlecht, eitel und leeres Trug-
bild seien, und die daher annehmen, daß die gegenwärtige ei-
serne Zeit nur ein Durchgang sei zu einem besseren Zustande.«
Und Fichte mahnt die Deutschen eindringlich, ihre besondere
Aufgabe in der Welt zu erkennen und zu ergreifen: »Es ist da-
her kein Ausweg, wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze
Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederher-
stellung.«42
Es muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß dies
nichts mit Chauvinismus zu tun hat, worauf kein Geringerer
als der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Cassirer 1916 hin-
gewiesen hat. Wir erinnern an das bereits im ersten Band ge-
brachte Zitat:
»Die reine Entfaltung der nationalen Grundtendenz führt
zu dem Punkte, bei dem sie über sich selbst hinausweist. Wer
dieses zweite Grundmoment der deutschen Geistesgeschichte

111
nicht erfaßt und würdigt, der verleugnet damit das Eigentüm-
lichste ihres Wertes. Die wahrhaft schöpferischen Naturen der
deutschen Geistesgeschichte sind mitten in den schwersten
Kämpfen, die sie für die Selbständigkeit der nationalen Kultu-
ren zu führen hatten, von dem Dünkel einer völligen Selbstge-
nügsamkeit dieser Kultur stets frei geblieben. Je mehr sie sich
mit der Größe der Aufgabe durchdrangen, die sie dem Deutsch-
tum in intellektueller und sittlicher Beziehung zuwiesen, um
so tiefer bildeten sie zugleich die Gabe in sich aus, die »Stim-
men der Völker< in ihrer Eigentümlichkeit zu vernehmen und
zu deuten.«
Und etwas weiter: »Die deutsche Bildung wird sich auch in
diesen Tagen, sowenig durch die Verkennung und Schmähung,
die sie von ihren Gegnern erfährt, wie durch einen beschränkten
geistigen Chauvinismus, von dieser ursprünglichen Bahn ab-
drängen lassen.«43
Indem wir dem Weltgeist dienen, sind wir also dem Volks-
geist nahe, und wenn wir uns mit dem Volksgeist verbinden,
dienen wir zugleich dem Weltgeist: »Die geistig Großen eines
Volkes aber sind nicht diejenigen, die aus dem Volksgeist her-
ausfallen, sondern diejenigen, die ihn begreifen und nach die-
sem Begreifen auch zu handeln wissen!« (Hegel44) Rudolf Stei-
ner betont den spirituellen Bezug, wenn er sagt: »Durch den
Volksgeist sprechen wir mit dem Christus.«45 Nach Hegel ist
der Volksgeist das Substantielle im Leben und Tun eines Vol-
kes, »auch wenn die Individuen es nicht wissen«. Das Substan-
tielle ist mehr als nur ein theoretisches Wissen. Auf diesem
Hintergrund ist das Wort einer kirchlich nicht gebundenen
Neunundneunzigährigen, die aktiv dies Jahrhundert miterlebt,
begleitet und durchlitten hat, zu verstehen: »Deutschland ist
eine religiöse Aufgabe!«

112
Der Ordensstaat

1. Erwerbsgesellschaft - Ranggesellschaft
Das mit vielen Hoffnungen und parteipolitischen Bemühun-
gen so reichlich befrachtete Jahr 1994 hat nicht die erhoffte
Wende, dafür aber eine einschneidende Zäsur in unserem poli-
tischen Leben gebracht. Es wurde nicht nur das Jahr der Su-
perwahlen, sondern - und das ist schwerwiegender — das Ende
aller parlamentarischen Ablösungsversuche der seit 1948 be-
stehenden etablierten Parteien. Es gibt keine parlamentari-
sche grundsätzliche Opposition mehr in Deutschland. Damit
ist aber auch die Demokratie bisherigen Selbstverständnisses
an ihr Ende gelangt. Was Orwell bereits für 1984 vorausge-
schildert hatte, konnte nun, nach zehnjähriger Verspätung,
1994 nicht mehr übersehen werden. Es war die endgültige
Beseitigung der Voraussetzung für eine jede Wahl, nämlich:
die freie Entscheidung zwischen gegensätzlichen Programmen.
Übrig blieb nur ein Konzept mit leichten Abwandlungen bei
Nebensächlichkeiten (wie von Willy Brandt bereits 20 Jahre
zuvor 1974 ausgeführt). Dieses Konzept entspricht nicht dem
Willen der Mehrheit des Wahlvolkes. Doch die Sprecher dieser
Mehrheit konnten sich in der parlamentarischen Demokratie
kein Gehör und schon gar nicht politisch bedeutungsvolle Mehr-
heiten verschaffen.
Das liegt zum einen - wie bereits dargestellt - an den Struk-
turen dieser Staatsform, die uns gleich nach 1945 mehr oder
weniger vorgeschrieben wurde, wie heute ganz unverblümt
allen UN-Völkern, zum anderen aber an der zunehmenden Ge-
walttätigkeit bei der BekämpfungAndersdenkender, die Angst
erzeugt.

113
Es liegt aber neben der äußeren Verfassung auch an der in-
neren Verfassung all derjenigen, die in den vergangenen 45
Jahren deutsche Politik machen wollten.
Auf Seiten der etablierten Politiker fehlte die innere und äu-
ßere Unabhängigkeit und damit Wahrhaftigkeit. Es fehlte zu-
gleich ein ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein vor einer
höheren (göttlichen) Instanz, aber auch Verantwortung ganz
allgemein, denn in einer Demokratie unseren Zuschnittes ist
niemand persönlich verantwortlich zu machen für das, was er
politisch tut. Alles wird immer im besten Glauben und nach
bestem Gewissen getan! - so heißt es.
Der einleitende Satz der Präambel des Grundgesetzes vom
23. Mai 1949 (»Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott
und den Menschen«) ist längst in einem Nichts zerstoben, und
genauso das »Wohl des deutschen Volkes«.
Auf seiten einer nationalen Opposition - gleichgültig, wie
sie sich selber nennt oder genannt wird - fehlten vor allem
eine wirklichkeitsgemäße Situationseinschätzung und die Be-
reitschaft, daraus Konsequenzen zu ziehen. Es fehlten auch
der Gemeinsinn und die Uneigennützigkeit, insbesondere bei
vielen Parteivorsitzenden, und es fehlte, genau wie bei den eta-
blierten Politikern, eine bindende Verantwortung gegenüber
einer höheren Instanz.
Dies wird immer mehr Menschen bewußt. So ist der Ruf nach
Selbstbesinnung, nach einem vertieften Verständnis unserer
abendländisch-christlichen Wurzeln und nach Religion im Sin-
ne von >Rückbindung an eine geistige Macht< verständlich. Es
soll hier nur in diesem Zusammenhang auf das Buch von Gün-
ter Rohrmoser Der Ernstfall hingewiesen werden, das in sehr
unterschiedlichen Zeitschriften eine Besprechung fand, so in Das
Parlament, in Junge Freiheit und in Die Welt von Peter Glotz.
Einen bedenkenswerten Hinweis auf ein unentbehrliches
Glied für eine menschliche, gerechte und ehrliche Gesellschafts-

114
Ordnung gibt L. L. Matthias, der von 1933 bis 1951 Professor
für Soziologie in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern
wie auch in den USA war. 1954/55 besuchte er bereits die Volks-
republik China. Er kommt in seinem Buch Die Kehrseite der
USA, Seite 167 ff., zu dem folgenden dargestellten Ergebnis.
Den Niedergang der USA sieht Matthias vor allen Dingen in
dem Fehlen einer, wie er es nennt, »Ranggesellschaft«. In allen
europäischen Staaten, ja selbst noch im Kommunismus, gibt
es nach seiner Ansicht zwei Schienen, auf denen die Menschen
sich bewegen. Einmal in einer Erwerbsgesellschaft und zum
anderen in der Ranggesellschaft. Die Angehörigen der Erwerbs-
gesellschaft, die Geschäftsleute, dienen nicht der Allgemein-
heit, jedenfalls nicht primär, sondern nur ihren eigenen Inter-
essen, während die Angehörigen der sogenannten brotlosen
Berufe primär der Allgemeinheit dienen, wie der Lehrer oder
der Offizier oder der Pfarrer. Matthias stellt fest: »Es gab mit-
hin zwei Gruppen mit sehr verschiedener Moral. Man durfte
sich bereichern oder durfte es nicht. Die Moral derer, die sich
bereichern durften, die Moral des Geschäftsmannes, mußte im-
mer niedriger werden, da sie durch das Verhalten der Konkur-
renz bestimmt wurde. . . Der Betrug in tausendfältiger Form
wurde zwangsläufig die Seele des Geschäftes. Der Geschäfts-
mann konnte im privaten Verkehr der Ehrlichste der Welt sein,
im geschäftlichen Verkehr konnte er es nicht. An die Stelle der
Moral trat die Skrupellosigkeit. Es war schließlich alles erlaubt,
was Gewinn brachte.«
»Ganz anderer Art war die Moral der Ranggruppe. Mußte
der Geschäftsmann in vielen Fällen betrügen, so konnte der
Beamte, der Offizier, der Richter etc. seinen Status nur wah-
ren, wenn er ehrlich blieb. Seine Aufgabe war, eine öffentliche
Funktion auszuüben, und nicht, sich zu bereichern. Er mußte
auf jede Bereicherung verzichten, da sonst der Verdacht be-
rechtigt gewesen wäre, daß er nicht öffentlichen Interessen,

115
sondern privaten diente. Dieser Verzicht auf etwas, was allen
andern erlaubt war, ist sogar die eigentliche Seele seines Le-
bens gewesen. Er durfte heiraten und sich seines Lebens freu-
en, aber er mußte trotzdem wie ein Asket leben. Das Asketen-
tum wurde als distanzierendes Merkmal von vielen sogar un-
terstrichen. Man ging einfach gekleidet, auch wenn man ein
General oder Minister war, und verbot den Frauen, Pelzmän-
tel oder andere ostentative Schmuckstücke zu tragen, die von
der Erwerbsgesellschaft bevorzugt wurden. Man wollte zeigen,
daß man nicht den Verdienst erstrebte, sondern das Verdienst.
Es gehörte zu den vornehmsten Aufgaben der Innenpolitik
sämtlicher europäischen Länder, diese Ranggruppen zu schüt-
zen und zu verhindern, daß sie von den Erwerbsgruppen kor-
rumpiert wurden. Die Moral eines Landes bemaß sich nach
dem Grade, bis zu dem dies geglückt war.«
Für die Ranggesellschaft gab es eine einzige Voraussetzung:
»daß sie den Schutz des Staates genoß«. Kennzeichen für Ange-
hörige dieser Ranggesellschaft sind: »Die Moral, die Unbestech-
lichkeit, die >Askese<, die aller Kommerzialisierung widerstre-
benden Kräfte und, last not least, die berufliche Leistung.« Es
ist ganz offensichtlich, daß ein Professor oder Lehrer keinen
besseren Unterricht, keinen besseren Vortrag zu machen sich
bemüht, nur weil er dafür mehr Geld erhalten wird. Ebenso
setzt kein Offizier sein Leben für Geld ein. Es sind andere Idea-
le, die diese Verhaltensweisen letzten Endes bestimmen. Das
gleiche gilt natürlich für alle Künstler. In denVereinigten Staa-
ten, so Matthias, ist die Ranggesellschaft nie voll in Erschei-
nung getreten und in diesem Jahrhundert vollständig abge-
schafft worden. Die krasse Erwerbsgesellschaft regiert, und in
ihr wird Leistung nur am Einkommen gemessen. Da aber die
Beamten und die im öffentlichen Dienst tätigen Menschen ver-
hältnismäßig geringe Einkommen haben, rangieren sie auf der
Rangliste zuunterst. Das Ergebnis ist, daß die sogenannten

116
brotlosen Berufe fast nur von denen begehrt werden, die bei
den harten Anforderungen der Erwerbsgesellschaft mit ihrem
Konkurrenzdenken nicht mithalten können. Heute ist es so
weit, daß der Status, den ein Mensch hat, nicht mit seiner Lei-
stung gekoppelt wird oder mit der Tatsache, daß er ehrlich und
anständig blieb, sondern ausschließlich mit der Höhe seines
Bankkontos.
Matthias stellt bereits 1964 fest, daß dieser Wandel zu einer
reinen Erwerbsgesellschaft, wie er in den USA vorliegt, auch
in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg sich breit gemacht hat.
Es gelte dies für die Mehrzahl der europäischen Staaten, an
erster Stelle für die Bundesrepublik Deutschland.
Dasjenige, was wir zu Ende des zweiten Jahrtausends ent-
behren und aufzubauen suchen, ist nichts anderes als eine
Ranggesellschaft, wie von Matthias gekennzeichnet. Natürlich
muß diese modernen Verhältnissen angepaßt sein und dem
Streben des Menschen nach Mitbestimmung und Freiheit Rech-
nung tragen.

2. Vom Nothelfer zur Ordnungsmacht


Zwischen dem Reich und Preußen gibt es in der deutschen Ge-
schichte ein weiteres Staatsmodell, das in unserem Zusammen-
hang eine besondere Beachtung verdient: den Ordensstaat, be-
gründet vom deutschen Orden, der zunächst auch unter dem
Namen >Fratres Hospitalis Sanktae Mariae Teutonicorum Je-
rosoliminatorum, also >Brüder vom Hospital der Deutschen in
Jerusalem, das der heiligen Maria geweiht ist<, auftrat. Nur
bei feierlichen Anlässen bediente man sich dieses aufwendigen
Namens, sonst gab es die Kurzform »Deutscher Ordern oder
lateinisch >ordo teutonicorum<. Um diesen Orden mit dem Zu-
sammenklang von Ethos und Staatsführung in seiner Bedeu-
tung auch für unsere Zeit verstehen zu können, sehen wir uns
veranlaßt, einen kurzen historischen Überblick zu geben.

117
Man nimmt an, daß dieses deutsche Hospital Sankt Mari-
ens zu Jerusalem im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts ge-
gründet wurde. Wir haben über seine Gründung einen Bericht,
allerdings ein Jahrhundert später verfaßt, vom Bischof von
Akkon, Jakob von Vitry: »Als die heilige Stadt nach ihrer Be-
freiung von den Christen bewohnt wurde und viele Deutsche
und Allemannen als Pilger nach Jerusalem zogen und sich in
der Sprache der Stadt nicht verständigen konnten, trieb die
göttliche Erbarmung einen ehrenwerten, frommen Deutschen,
der mit seiner Frau in der Stadt lebte, ein Hospiz zur Unter-
bringung armer und kranker Deutscher aus eigenen Mitteln
zu errichten. Als viele Arme und Kranke seines Volkes wegen
des Bandes der Sprache dort zusammenströmten, errichtete
er mit Willen und Zustimmung des Patriarchen neben dem
erwähnten Hospiz ein Oratorium zu Ehren der seligen Gottes-
gebärerin Maria. Einige, besonders aus dem Volke der Deut-
schen, entsagten allem, angezogen durch die Liebe und den
Eifer des Mannes, übergaben sich und ihr Gut dem genannten
Hospital und gelobten unter Ablegung der weltlichen Kleider
den Dienst der Kranken.«46
Wir kennen aus der Geschichte die leidvollen wechselnden
Besitzverhältnisse von Jerusalem. Im Jahre 1187 ging dieses
erste Spital unter. Man weiß nicht, ob die Neugründung 1190
in einer Beziehung zu dieser frühen Einrichtung stand. In je-
dem Fall entwickelte sich ab 1190, wie ja auch von dem Bi-
schof von Akkon beschrieben, aus diesem Hospital allmählich
der Deutsche Orden. »Jerusalem ist nicht sein Ursprungsort,
sondern nur ideelles Zentrum, wie auch für die übrigen Ritter-
orden nach 1187.«Vielleicht will der Ordenshochmeister unse-
rer Zeit mit dieser Feststellung darauf hinweisen, daß nicht
die umkämpfte Heilige Stadt dreier Religionen und der mit
ihrem Besitz verbundene Anspruch bestimmend für den Or-
den ist, sondern liebende Hinwendung zur Welt und Verantwort-

118
lichkeit für die Nächsten, wie sie es aus dem Christentum ab-
leiteten.47
Insbesondere die Kreuzfahrer, mit ihnen Päpste und Kaiser,
zeigten sich dankbar für diese außerordentlich bedeutsamen
Hilfsdienste des Ordens und drückten ihre Anerkennung durch
großzügige Spenden und Schenkungen aus. Viele Male finden
wir in den Begründungen angegeben: »Weil sich die Brüder im
Dienste der Kranken unablässig abmühen, weil die Brüder Blut
und Leben für das heilige Land opfern.«48 Nicht Kriegsdienste
und imperialistisches Machtstreben stehen also an der Wiege
des Deutschen Ordens. Daraus mag sich erklären, daß in we-
niger als 50 Jahren der Ordensbesitz von Jerusalem bis Liv-
land im hohen Norden, von Frankreich im Westen bis Grie-
chenland im Osten reichte.
Nachdem 1291 mit Akkon der letzte europäische Besitz im
heiligen Land verlorenging, wandte sich der Ritterorden nach
Europa. Dreimal wurde er im Verlaufe seiner Geschichte von
nichtdeutschen Fürsten zu Hilfe gerufen zum Schutz gegen
heidnische kriegerische Einfälle. Das erste Mal in Ungarn 1211
vom König Andreas II., der die Brüder vom deutschen Hause
um Hilfe gegen die heidnischen Kumanen bat. Doch bald wur-
de ihm offenbar der Orden, der in großer Schnelligkeit das ihm
von Andreas geschenkte Burzenland in Siebenbürgen besie-
delt und dort die erste Marienburg errichtet hatte, zu mächtig,
und dieser wurde bereits 1225 mit Waffengewalt wieder ver-
trieben. Unmittelbar darauf wurde er von einem ähnlichen Hil-
fegesuch vom Herzog Konrad von Masowien nach Preußen ge-
rufen. Vertreten durch seinen Hochmeister Hermann von Sal-
za, war der Orden sehr darauf bedacht, sich seine Hilfeleistung
auch absichern und honorieren zu lassen. So erhielt er alle lan-
desherrlichen Hoheitsrechte für den von dem polnischen Her-
zog ihm zugesprochenen Besitz des Kulmer Landes und dar-
über hinaus für alles, was der Orden in dieser Region erobern

119
sollte, einmal vom Kaiser Friedrich II., mit dem Hermann von
Salza befreundet war, zum anderen aber auch vom Papst Gre-
gor IX. Niedergelegt wurden diese Verträge zunächst in der
Goldbulle von Rimini 1226 und dann in der Bulle von Rieti
1234. Nach dem Verlust von Preußen und der Verlagerung des
Hochsitzes nach Bad Mergentheim bekam der Orden immer
wieder Hilferufe der Habsburger Kaiser, nun im Kampf gegen
die türkischen Marodeure und Freischärler zu Hilfe zu eilen.
Das galt insbesondere für die in den österreichischen Balleien
lebenden Ordensbrüder.

3. Der preußische Ordensstaat


Stellung und Bedeutung des preußischen Ordensstaates wird
nach der jeweiligen volklichen und politischen Herkunft der
Historiker sehr unterschiedlich - subjektiv - beurteilt. Beson-
ders an der Sache vorbei gehen alle diejenigen Aussagen, die
vom Denken und den politischen Vorstellungen des zwanzig-
sten Jahrhunderts aus dies Phänomen meinen beurteilen zu
können.Historisch belegt ist:
O Der Orden wurde vom christlichen nordpolnischen Her-
zog von Masowien gegen die Heiden zu Hilfe gerufen. Erst
auf Drängen auch des Papstes und des Kaisers gab er
dieser Bitte nach, nicht ohne sich zuvor Rechte und Si-
cherheiten geben zu lassen (Besitz des Kulmer Landes,
Recht auf erobertes Gebiet).
O Der Kampf gegen die Heiden und die Heidenmission wa-
ren keine spezifischen Anliegen des Deutschen Ordens,
sondern nach mittelalterlichem Verständnis (doch auch
noch weit in die Neuzeit hinein!)Verpflichtung jedes Chri-
sten, insbesondere natürlich der christlichen Orden.
O Der Orden schuf durch Rodungen und Trockenlegung von
Sümpfen Platz für mehr als 90 Städte und etwa 1500

120
Dörfer, ohne das von den Pruzzen besiedelte Gebiet be-
anspruchen zu müssen.
O Er wandelte den Riesensumpf im Weichseldelta von etwa
150 000 ha um zur Kornkammer Preußens.
O Der Ordensstaat bestand in seinen Anfängen 1233 bis zu
seinem endgültigen Untergang 1525. Seine Blütezeit
währte etwa 150 Jahre und endete mit der Schlacht bei
Grunwald/Tannenberg 1410.
Friedrich Gause schrieb in seiner Geschichte des Preußenlan-
des: »Das Ordensland Preußen war einer der seltsamsten und
großartigsten Staaten, die Menschengeist jemals hervorge-
bracht hat, kirchlich und weltlich zugleich, ritterlich und bür-
gerlich, deutsch und europäisch. Er war seiner Zeit verhaftet
und hat Werte geschaffen, die die Jahrhunderte überdauert
haben. Er war in vielen Dingen ein Typus und doch mit kei-
nem anderen Staat vergleichbar, ein Gebilde eigener Art, aber
nicht gebildet allein vom menschlichen Verstand, sondern er-
wachsen aus der Gesinnung, die seinen Gründern aus ihrer
Weltanschauung zum selbstverständlichen Gehalt ihres Lebens
geworden war.«49
Marian Turnier, Hochmeister des Deutschen Ordens von 1948
bis 1970, schreibt in seinem Buch Der Deutsche Orden: „Doch
dieser ungeheure äußere Aufschwung des Ordens, der ihn von
einem kleinen Feldlazarett vor Akkon zu einem der reichsten
Souveränen des mittelalterlichen Europa in seinem preußischen
Staat geführt hatte, beruhte auf einer Kraft, die aus inneren
Beweggründen kommen mußte, die nicht nur physischer Na-
tur sein konnte. Sie fand ihren Ursprung in der Doppelstel-
lung des Ordens, daß der Ritterbruder nicht nur Kämpfer, son-
dern auch Mönch war, eine Besonderheit gerade jenes späten
Mittelalters.«
Dieser aus inneren Beweggründen stammenden Kraft soll
jetzt nachgegangen werden.

121
4. Mönchsgelübde und Ordensregel einst und heute
Allen drei dargestellten besonderen deutschen Ordnungsfor-
men eines Gemeinwesens ist die Bindung an eine übergeord-
nete göttliche Macht gemeinsam.
Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, also bereits
im frühen Mittelalter, wurden die Repräsentanten des Reiches
als Beauftragte Gottes, als Apostolische Majestäten gesehen.
Getragen durch ihren christlichen Glauben, verstanden sie sich
als die weltlichen Beauftragten des Logos Christos und bilde-
ten im König und Priester, zum Teil sogar leibliche Brüder, eine
lebendige Polarität, die erst im 13. Jahrhundert im Antagonis-
mus auseinanderbrach, wozu insbesondere, und das muß lei-
der in aller Deutlichkeit gesagt werden, der moralische Verfall
und der Machthunger des Vatikans Anlaß gaben.
Der daraus hervorgehende Ordensstaat brachte diese Bin-
dung noch verstärkt zum Ausdruck. Jetzt war weltliche und
geistliche Führung in einer Person verbunden. Das erstaunli-
che und nicht zu übersehende Phänomen ist die unmittelbare
Nachfolge. Das Reich bricht zusammen. Die »kaiserlose, die
schreckliche Zeit< beginnt. Doch zuvor hatte der letzte Stau-
ferkaiser den Deutschen Orden unter Hermann von Salza nach
Preußen entsandt. Hier entstand eine neue Ordnungsmacht:
der Ordensstaat. Dieser stand ganz unter dem Zeichen des
Kreuzes, das die Ordensritter auf ihrem Mantel trugen und
von dem später, 1813, die Auszeichnung das >Eiserne Kreuz<
abgeleitet werden sollte.
Im Nachfolgestaat Preußen, der wiederum aus dem Ordens-
staat unmittelbar hervorging, indem der Hochmeister Albrecht
von Brandenburg 1525 seinen Übertritt zum Luthertum be-
kannte, und mit ihm so mancher Bruder, und dann aus dem
Ordensstaat den weltlichen Staat Preußen schuf, wird dies
deutlich: Das Alte zerfällt - der Ordensstaat hatte viele seiner

122
Ländereien und Besitztümer im nordöstlichen Europa längst
verloren und wieder steigt ein Neues auf. Auch dieses Neue,
es sei hier erinnert an das Wort »Amtmann Gottes«, bringt noch
dieVerbindung zwischen dem Gestalten der Menschenordnung
und einer göttlichen Ordnung zum Ausdruck. Es galten zu die-
ser Zeit noch die Bergpredigt und das Evangelium im Alltag
wie am Sonntag.
Wichtig ist auch festzuhalten, daß die Zerstörung der
besonderen deutschen Staatsformen oder ihrer Träger von au-
ßen geschah: im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation
ganz eindeutig durch den Machthunger und Anspruch des Va-
tikans, also der römisch-katholischen Kirche. Der Deutsche
Orden, der ja mit dem Verlust des Ordenslandes in Ostpreu-
ßen nicht aufhörte, sondern mit seinem Hochsitz 1525 nach
Bad Mergentheim übersiedelte, weil er dort besonders reiche
Besitzungen hatte, fand sein Ende durch Napoleon. Napoleon
verbot den Deutschen Orden, und zwar 1809 endgültig, nach-
dem dies bereits 1805 für die Rheinbundstaaten geschehen war.
Wer danach noch das Ordenskleid trug, der setzte sich der To-
desstrafe aus. Das Vermögen des Deutschen Ordens überant-
wortete Napoleon den deutschen Kleinkönigen, die er selber
inthronisiert hatte. Vom König zu Württemberg zum Beispiel
wird in Bad Mergentheim heute noch berichtet, daß er nichts
Eiligeres zu tun hatte - dieser neu durch Napoleon ernannte
König -, als mit 40 großen Gespannen das gesamte Inventar
aus dem altehrwürdigen Ordensschloß Bad Mergentheim abzu-
fahren, um es nach Ludwigsburg zu bringen. Die Herrschaft
Napoleons dauerte nur wenige Jahre, nach einem Jahrzehnt
war alles vorüber, aber die deutschen Kleinkönige weigerten
sich, den alten Zustand des Ordens wiederherzustellen, obwohl
so mächtige Fürsprecher wie der Freiherr vom Stein und Met-
ternich mit allen Mitteln versuchten, das zu erreichen. Nach
dieser Zeit gab es eigentlich nur noch Restbestände, vor allen

123
Dingen in Österreich, weil der österreichische Kaiser, dem
Napoleon kurzerhand die ganzen österreichischen Ordensbe-
sitztümer übertragen hatte, hiervon keinen Gebrauch machte,
verständlicherweise, es waren nacheinander zu dieser Zeit zwei
seiner Brüder Hochmeister im Deutschen Orden. Dadurch
wurde in diesem Bereich der Ordensbesitz zusammengehal-
ten, jetzt in einem rein klerikalen Orden. Auch der letzte, der
preußische Staat, wurde, von der Öffentlichkeit kaum wahrge-
nommen, am 25. April 1947 durch die Siegermächte mit einem
Federstrich verboten und aufgehoben, mit der unwahren Be-
gründung-in der Beckschen Taschenbuchausgabe des Grund-
gesetzes nachzulesen -, daß alle militaristischen, kriegerischen
Tendenzen von Deutschland, vor allen Dingen von Preußen,
ausgegangen seien: Deswegen müsse man die Wurzel dieser
kriegerischen Gelüste endgültig beseitigen. So wurde auch die-
ser Staat wiederum von außen mit Gewalt zerschlagen.50
Der Deutsche Orden, wie auch alle anderen Ordensgründun-
gen, geht zurück auf Benedikt von Nursia. Für alle gilt das
Gelübde von Armut, Gehorsam, Keuschheit.
Fragen wir zunächst, was heißt Armut? Armut vor allen Din-
gen in einer Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung arm bis
sehr arm war. In dieser Zeit wählten einige, verglichen mit
diesen Armen in reiche Verhältnisse Geborene, freiwillig die
persönliche Armut. Mit dem Eintritt in den Orden brachten sie
ihren Besitz, und das war damals zumeist Grundbesitz, in den
Orden ein. Waren es Verheiratete, so wurde nur ein Teil einge-
bracht, damit die Familie weiter existieren konnte. Es gab aber
auch Fälle, wo Mann und Frau ihr ganzes Besitztum einbrach-
ten und der eine zu den Brüdern, die andere zu den Schwe-
stern in den Orden eintrat. Die Ordensritter legten für sich
selbst das Gelübde der Armut ab, aber nicht für die Gemein-
schaft, der sie sich anschlossen und die immer reicher wurde.
Das gilt insbesondere für die Deutschordensritter und dieTem-

124
pler, aber auch für so manches Kloster und andere Ordens-
gemeinschaften. Mittelbar, könnte man also sagen, hatten die
Ordensbrüder wieder Anteil an dem allgemeinen Wohlstand,
der durch diese Maßnahme erzielt wurde.
So entstand die widersprüchliche Situation, daß demArmuts-
gelübde des Ordensritters ein wachsender Wohlstand der Or-
densgemeinschaft gegenüberstand, und dieser allgemeine Wohl-
stand kam den Ordensbrüdern wieder zugute.
Die Entprivatisierung von Grund und Boden im Interesse
der Allgemeinheit findet sich in den alternativen Wirtschafts-
vorstellungen unserer Zeit als unumgängliche Maßnahme in
einer Mensch und Erde verpflichteten Wirtschaftsordnung wie-
der. Als Zerrbild erscheint sie im Kommunismus.
Der Gehorsam: Dem nach Selbstverwirklichung strebenden
Gegenwartsmenschen erscheint dies Gebot unannehmbar. Doch
sollte nicht übersehen werden, daß die Ordensbrüder das Ge-
lübde des Gehorsams freiwillig ablegten. Niemand wurde ge-
zwungen, in den Orden einzutreten, und nach der Noviziaten-
zeit wurde die Frage noch einmal sehr ernst gestellt, vor allem
auch bei den Aufnahmezeremonien, die uns von den Templern
erhalten sind: »Bist Du tatsächlich Willens, dieses Gelübde auf
Dich zu nehmen?« Es war eigentlich die Anwendung des Wor-
tes Christi: »Nicht mein Wille, sondern der deine.« Also die völ-
lige Hingabe an ein übergeordnetes Prinzip, das in der Gemein-
schaft einer Kommende, die meistens nur aus 12 bis 13 Ordens-
brüdern bestand, in dem Abt oder Komtur den irdischen Ver-
treter hatte. Diesem, also dem übergeordneten Prinzip, leiste-
te man das Gelübde des Gehorsams. Für ein soldatisches Emp-
finden ist das nichts Ungewöhnliches: dieser bedingungslose
Gehorsam, und auch die Ritterbrüder waren soldatische Men-
schen, Kämpfer Christi.
Die Regeln und die Statuten, die es in jedem Orden gab, ord-
neten das Gemeinschaftswesen, die Rechtsverhältnisse, wie dies

125
in allen Staaten und Vereinen der Fall ist. Diese Statuten sind
im Grunde genommen der Staat, der Verein selbst, denn nur
daraus erhält er seine Existenz, und so ist es bis heute selbst-
verständlich, daß ihnen absoluter Gehorsam zu leisten ist, sonst
gäbe es überhaupt keine Ordnungsmöglichkeit. Der Hüter der
selbstgesetzten Regeln und Lebensgesetze leitet seine Autori-
tät nicht von sich selbst, sondern von der beschworenen Ver-
fassung ab, und deswegen ist ihm Gehorsam zu leisten. So kann
man sagen, daß der Hochmeister souverän war, aber nicht ab-
solut. Er wurde gewählt mit einem sehr komplizierten Wahl-
verfahren, und er konnte auch wieder abgesetzt werden, was
auch gelegentlich geschah.
Das schwierigste Gelübde aus heutiger Sicht ist wahrschein-
lich das Gelübde der Keuschheit. Sie wird vielfach in unserem
Sprachgebrauch gleichgesetzt mit Ehelosigkeit und sexueller
Enthaltung. Doch im Mittelalter bedeutete dies Wort offenbar
mehr, zum Beispiel sich der christlichen Lehre bewußt sein,
sich ihr weihen, und von daher dann, weil man sich ganz die-
ser Idee geweiht hatte, enthaltsam gegenüber jeder Triebhaf-
tigkeit, weil der Mensch ausschließlich der von ihm freiwillig
gewählten Aufgabe zugewandt sein wollte und deshalb jede
Ablenkung, also auch durch eine eigene Familie, die ihre not-
wendigen Anforderungen stellt, mied. Hinter dem Gelübde der
Keuschheit stand somit der Gedanke, sich mit Leib und Seele
einer Idee zu verschreiben, mit dem Ergebnis, daß bei den
Ordensbrüdern eine ständige Einsatzbereitschaft bestand, was
besonders in den kriegerischen Grenzgebieten unerläßlich war.
Im übrigen gab es nicht wenige Ordensritter, die vor ihrem
Ordensantritt bereits ein Eheleben geführt hatten.51
Vergleichen wir nun das Mönchsgelübde mit demjenigen, was
den Menschen unserer Tage lieb und heilig ist, dann kann der
Gegensatz nicht krasser sein. Aber es ist auch deutlich, daß
gerade diese drei: Armut, Gehorsam und Keuschheit zielbe-

126
wüßtes gemeinsames Handeln und Einsatzbereitschaft in ei-
ner hervorragenden Weise befördern. Der Mensch wird weni-
ger erpreßbar, wenn er nicht von Besitz oder Familie abhängig
ist, und der Gehorsam verhindert das von uns heute so leidvoll
erfahrene Zersplittern in eine Vielzahl von Einzelinitiativen
mit inneren Kämpfen und Auseinandersetzungen.
Bei genauerer Betrachtung verliert das Mönchsgelübde et-
was von seiner schier unmenschlich erscheinenden Härte, zu-
mindest läßt sich eine Weiterentwicklung für unsere Zeit den-
ken. Festzuhalten ist aber, daß die besonderen deutschen
Staatsausformungen ohne den christlichen Impuls nicht zu
denken sind. Da es sich aber um deutsche Sonderformen han-
delt, und zwar nicht nur eine, kann gesagt werden, daß es of-
fenbar eine ursprüngliche innere Verbindung zwischen der Chri-
stuswesenheit und dem deutschen Volksgeist gibt. Das eine wird
gegenwärtig von Kirchendogmatikern, das andere von deut-
schen Volksvertretern preisgegeben.
Nicht zuletzt der dauernde Kampf gegen die aus dem deut-
schen Geistesleben heraus gebildeten deutschen Staatsgestal-
tungen weist auf ihre Bedeutung hin. Sie stellten offenbar ein
gefährliches Hindernis für jede Weltmachtpolitik dar, sei es aus
römisch-katholischer, aus angelsächsisch-imperialistischer oder
aus materialistisch-kommunistischer Sicht.
Die vom geschichtsbewußten Wertkonservativen vorgebrach-
te massive Kritik am gegenwärtigen politischen Leben richtet
sich übereinstimmend gerade gegen das Preisgeben der alten
Werte und Ordnungsvorstellungen. Ihr Fehlen ist die Ursache
für die Zerstörung von Familie und Volk, für den Verfall von
Sitte und Moral, für die Entfesselung materialistisch beding-
ter Abartigkeiten, für Korruption und allgemeine Vermassung.
Wie wäre nun eineAnpassung der alten drei Mönchsgelübde
an Denken und Streben von politischen Menschen unserer Zeit
vorzustellen? Ein unmittelbares Zurück kann es in der Ge-

127
Zeit vorzustellen? Ein unmittelbares Zurück kann es in der
Geschichte nicht geben, und die menschliche Entwicklung ver-
läuft nicht linear, sondern eher spiralförmig. Versuchen wir
einmal, diese drei Gelübde in solch einer spiralförmigen Ent-
wicklung zu durchdenken.

Abbildung 7

Gehen wir von der Armut aus. Ihr steht im äußersten Kreis-
bogen der Überfluß, das Besitzstreben gegenüber. Hier befin-
det sich der Gegenwartsmensch - und leider auch der soge-
nannte Volksvertreter und der Politiker. Gehen wir weiter auf
der Kreislinie, wieder in Richtung Armut, doch nun auf einer
anderen Ebene, dann könnten wir sagen, daß Armut, durch
das materielle Besitzstreben hindurchgehend, nun zur An-
spruchslosigkeit hinführt. Und Anspruchslosigkeit, Be-

128
scheidenheit, Zurücknahme lassen sich in Ansätzen gerade bei
jungen Menschen vielfach erkennen, besonders bei denen, die
den Umwelt- und Naturschutz ernst nehmen.
Betrachten wir nun den Gehorsam: Ihm entgegengesetzt
steht die möglichst uneingeschränkte Selbstverwirklichung.
Bewegen wir uns von da weiter, wieder zurück in Richtung
Gehorsam, dann kommen wir zur Einsicht in eine notwendige
Ein- und auch Unterordnung, woraus Tapferkeit erwachsen
kann. Aus Erkenntnis kann nun geleistet werden, was einst
als Gehorsam verlangt wurde und was jetzt erst einer echten
Selbstverwirklichung dient.
Als letztes bleibt die Keuschheit: Ihr steht als Extrem die
sexuelle Entfesselung gegenüber, eine Entfesselung, die heute
bereits bis zur Perversität selbst bei Theologen reicht. Auf un-
serer Spirale weiterschreitend, wieder in Richtung auf Keusch-
heit, kann der Weg zur Selbstbeherrschung, und damit zur
wahren inneren Freiheit führen. Nicht mehr das Triebleben,
sondern das Ich übernimmt die Führung der Menschenseele.
Die »inneren Beweggründe«, von denen Marian Tumbler
sprach, welche die Ordensbrüder zu ihren ungeheuren Leistun-
gen befähigten, lagen also in der Selbstdisziplinierung. Hier-
aus erwuchs eine geistige Kraft, die sie den anderen Menschen
so überlegen werden ließ. Insbesondere die Entfesselung der
Sexualität behindert geistige Entwicklung, das galt und gilt
zu allen Zeiten. Wenn heute gerade das Gelübde der Keusch-
heit, sexuelle Enthaltsamkeit ganz allgemein herabgewürdigt
und sogar verunglimpft werden, dann zielt dies in den Kern
der Persönlichkeitsentwicklung im Kampf um den Menschen.
Der äußeren Verfassung entspricht die innere Verfassung.
Sie muß zuerst geordnet werden, um dann danach und durch
sie die staatliche Verfassung ändern zu können.
Hintergrund und Ziel der Mönchsgelübde war ihr christli-
cher Glaube. Auch dieser unterliegt Wandlungen. Im Deutschen

129
Ritterorden begegnet uns eine merkwürdige, der Zeit weit vor-
ausgreifende Entwicklung.
Die Reformation hatte sich sehr schnell ausgebreitet, vor
allen Dingen in Mitteldeutschland. In kurzer Zeit waren Sach-
sen, Thüringen und Hessen zu rein protestantischen Fürsten-
tümern geworden, die den Orden in seiner alten Form nicht
mehr akzeptieren konnten und wollten. Was geschah? Eine
ganze Reihe von Brüdern traten ebenfalls zum Protestantis-
mus über, ohne aber die Ordensgemeinschaft zu verlassen. So
haben wir das merkwürdige Phänomen, daß der Deutsche Or-
den trikonfessionell wurde. Das heißt aber, wenn wir das jetzt
weiterdenken in die Zukunft, daß im Deutschen Orden bereits
Ansätze vorhanden waren, aus den Konfessionen herauszukom-
men und zu dem gemeinsamen christlichen Hintergrund vor-
zustoßen. Es erscheint das doch recht beachtlich und zukunft-
weisend, obwohl natürlich gesagt werden muß, daß es sich dabei
um eine äußerst komplizierte Konstruktion handelte. In den
Kapiteln, in denen jetzt Reformierte, Lutheraner und Katholi-
ken zusammensaßen, mußte um miteinander zu tragende Be-
schlüsse gerungen werden, denn im Orden bestand die Ver-
pflichtung, sich regelmäßig in diesen Kapiteln zu treffen, um
die Belange des Ordens gemeinsam zu regeln. Da saßen nun
diese drei, wenn sie von den Konfessionen betrachtet wurden,
sehr unterschiedlichen Menschengruppen, wenn sie aber von
ihrem christlichen Hintergrund und ihrem Ordensgelübde aus
gesehen wurden, doch sehr einheitlich denkenden Menschen
und versuchten zu gestalten, was sie als ihre Aufgabe erkann-
ten.
Ein weiterer Gesichtspunkt, der zukunftweisend ist, soll noch
erwähnt werden. Im Deutschen Orden gab es immer neben
den Ritterbrüdern und den Mönchsbrüdern die Halbbrüder,
das heißt Laien und die Familiares: Weltleute, die sich unter
die Leitung des Ordens stellten und diesem ihr Vermögen ganz

130
oder teilweise vermachten, außerdem gab es Ordensschwestern
und Halbschwestern. Diese widmeten sich vor allem der Kran-
kenpflege in den zahllosen vom Orden eingerichteten Spitä-
lern.
Insgesamt war die Zahl der Ordensbrüder für die gewaltige
Aufgabe, die sie leisteten, sehr gering. Die preußischen Kom-
menden zählten in der Regel zwischen 20 und 60 Brüdern, die
deutschen Balleien hatten schon um 1379 insgesamt nur 701
Brüder. Nicht die Zahl, sondern die herausragende Qualität
der Ordensbrüder im Deutschen Ritterorden war also entschei-
dend für ihre staatstragende Tätigkeit.52

5. Nicht herrschen, sondern führen


In einen Verein tritt man freiwillig ein, wenn dessen Zielset-
zung und Satzung überzeugt. Dann aber sind diese bindend.
Einen Staat kann man heute kaum noch begründen. Man
wird in ihn hineingeboren, entweder in den eigenen selbstver-
walteten oder in einen fremden, häufig, weil eine eigene Volks-
ordnung den Einwohnern von außen verweigert wird, meist
aus wirtschaftlichen Gründen. Auch viele Deutsche fühlen sich
heute fremdbestimmt und suchen die ihnen gemäße Staats-
ordnung. Die Kurden werden gleich in vier fremde Staaten hin-
eingeboren und konnten bis heute ihren eigenen Staat nicht
erreichen.
In den 1935 erschienenen Glimpses on World History (»Welt-
geschichtliche Streiflichter< sagt Nehru, der persönliche Schü-
ler und Freund Ghandis, wörtlich: »So vernichteten die Tür-
ken, die ihre Freiheit gerade erst erkämpft hatten, die Kur-
den, die die ihre noch suchten. Ist es nicht seltsam, wie ein
defensiver Nationalismus sich zu einem aggressiven entwik-
keln kann? Ist es nicht seltsam, wie aus einem Kampf um die
Freiheit plötzlich der Kampf zur Unterdrückung anderer wird?

131
1929 fand dann ein weiterer Aufstand der Kurden statt. Und
wieder wurde er niedergeschlagen, vorläufig zumindest. Aber
wie sollte man glauben, ein Volk für immer unterdrücken zu
können, daß auf seiner Freiheit besteht und auch bereit ist,
den Preis zu zahlen.«53
Die uns nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg
gegebene und sicher zunächst von den Bürgern erwünschte
Staatsform ist die Demokratie mit ihrem Grundgesetz. In dem
Wort Demokratie - wie bereits im ersten Kapitel dargestellt -
ist wie auch in Monarchie der Begriff »Herrschern enthalten.
Nun sind aber >Herrschen< und >Herrschaft< unzeitgemäße Be-
griffe, da sie immer an die Beherrschten, die unmündigen
Landeskinder oder Untertanen, erinnern. Wir wollen nicht be-
herrscht werden, und der Herrschsüchtige ist unbeliebt.
Dennoch geht es nicht ohne eine Richtgebung, ein Vorange-
hen und Entscheiden einzelner, denen dann die Menge folgt,
solange wir die ganze Breite menschlicher Entwicklungsmög-
lichkeiten und Interessen haben. Im Deutschen sprechen wir
hier von Führung. >Führen< und >Herrschen< klingen nicht nur
sehr unterschiedlich, sie sind auch von sehr verschiedener
Qualität.
Das wird besonders deutlich bei Zusammensetzungen wie
>Bergführer< oder >Zugführer<. Wir sagen eben nicht Bergherr-
scher! Die Aufgabe des Führenden ist es, die zu Führenden
sicher dorthin zu bringen, wohin sie wollen. Deshalb nimmt
man sich zum Beispiel einen Führer durch unbekanntes und
unwegsames Gelände. Der Herrschende will in der Regel die
zu Beherrschenden veranlassen, das zu tun, was er will, also
die genau entgegengesetzte Richtung. Er will dies auf Dauer,
während beim Führer im herkömmlichen Sinn die begrenzte
Dauer der Führerschaft inbegriffen ist.
Ein solches Verhalten käme dem Gedanken von selbständi-
gen und mitbestimmenden Bürgern wesentlich näher als die

132
Herrschaft - auch wenn sie >Volksherrschaft< genannt wird
Es entspricht demjenigen, was wir heute wollen, also weit mehr.
wenn wir von >Volksführung< sprechen. Eine Führung, die das
Volk sich selber sucht und beauftragt, es dahin zu führen, wo>
hin es will.
Hat das Volk den Eindruck, falsch geführt zu werden, trennt,
es sich von dem gewählten Führer. Meint es, da angelangt zu
sein, wo es hinwollte, dann erlischt der Auftrag von selbst bis
zur nächsten Wegstrecke, wo wieder ein Führer beauftragt wird.
In keinem Fall darf der Führer seinen subjektiven Willen dem
Volk aufzwingen oder es gar an einen nicht vom Volk ange-
strebten Ort führen. Und wie eine Volksführung etwas ande-
res ist als eine Volksherrschaft oder als eine Parteienkratie, so
ist auch Monarchie etwas anderes als Königtum. Es gibt wohl
ein allgemeines Königtum, aber nicht eine allgemeine Monar-
chie!
Die große Schwierigkeit wird immer darin bestehen, zu
ermitteln, was das Volk will, das Volk als eine Wesenheit mit
sehr individuellem Charakter. Es geht nicht darum, was ein
Egozentriker, ein Drogenabhängiger - von welcher Droge auch
immer - oder die manipulierte Verbrauchermasse will, son-
dern was die freien, ihrer jeweiligen Volkskultur verpflichte-
ten Vordenker suchen. Nur wenige Völker stehen bereits in
der Reifeprüfung, und die mittlere Reife haben auch noch nicht
viele in der Tasche. Die Mehrheit quält sich mit dem kleinen
Einmaleins. So müssen die jeweils mit der Führung der Völ-
ker Beauftragten verschiedene Wegstrecken führen, mit ver-
schiedenen Schwierigkeitsgraden und diesen entsprechend
unterschiedlichen Anleitungen. Vor allem aber müssen die
Normen und Werte, wie von Matthias in der Ranggesellschaft
gekennzeichnet, für sie bindenden Charakter haben.
Die Ausgestaltung solcher aus dem Prinzip des Ordensstaa-
tes erwachsender Möglichkeiten muß der geschichtlichen Ent-

133
wicklung und der Befähigung der Vordenker überlassen blei-
ben. Bezeichnenderweise heißt der oberste Repräsentant der
Deutschordensritter >Hochmeister<, was weniger an Herrschen,
denn an Können erinnert, an erreichte Meisterschaft. Der Vor-
steher der Kommende, bestehend aus 13 Ordensbrüdern, wur-
de >Komtur< genannt. Darin ist enthalten anvertrauen, anemp-
fehlen, eine andere Nuance als Abt von ahba — >Vater< - oder
im höheren Rang Generalabt. Bei den Jesuiten heißt es Or-
densgeneral.

6. Führen kann, wer dient


Nach den drei dargestellten, bedeutenden historischen Ansät-
zen einer Staatsgestaltung, die gerade wegen ihrer außeror-
dentlichen Leistungen im organisatorischen und sozialen Be-
reich eine große Ausstrahlungskraft hatten, ist zu untersuchen,
ob nicht auch heute ein deutscher Beitrag zur schrittweisen
Problemlösung vorstellbar wäre. Wenn vom Deutschritteror-
den gesagt werden kann, daß die Angehörigen, um den Drang-
salen ihrer Zeit begegnen zu können, »fast zwangsläufig zum
Entschluß kamen, die höchsten Ideale der Zeit, Mönchstum
und Rittertum, zu vereinigen«,54 dann ersteht vor uns die Fra-
ge, wo wir anknüpfen können.
Die Widerstände und Katastrophen, die es heute zu über-
winden gilt, sind allerdings nicht geringer geworden. Im Ge-
genteil: Verantwortliches Handeln in und an der Welt in einer
weltwirtschaftlich organisierten Industriegesellschaft erfordert
nahezu übermenschliche Fähigkeiten. Es geht letzten Endes
um den Preis, von dem Nehru sprach, den die Kritiker dieser
Bundesrepublik, die an ihr leiden oder deren Änderung sie ve-
hement fordern, zu zahlen bereit sind. Nicht, »weil wir ein an-
deres Land brauchen«, wie das Rowohlt-Bändchen mit Beiträ-
gen von Marion Dönhoff und Helmut Schmidt meint55, son-

134
dern weil wir grundsätzlich andere Politiker brauchen. Die
Politik ist so wie die Politiker, die sie machen. Politik fällt nicht
vom Himmel. Sie ist menschengemacht, daran gibt es keinen
Zweifel.
Der Analysen gibt es übergenug, intellektuell scharfsinnige,
geistreich geschriebene und bitter anklagende. Wer soll eigent-
lich das alles ändern und so viel besser machen als bisher, wenn
nicht die Kritiker? Viele haben es redlich versucht innerhalb
des Parteiensystems. Sie sind alle gescheitert. Und viele ver-
suchen es gar nicht erst, weil es sich doch nicht lohne.
Wir finden heute keine großen Ideale vor, an die wir anknüp-
fen könnten, aber unsere Geschichte bietet uns Beispiele, die,
weitergeführt in die Gegenwart, hilfreich sein können, wenn
wir sie nur in ihrer Bedeutung erkennen. Es ist ein Irrglaube
anzunehmen, nur große Menschenmengen könnten eine Ver-
änderung bewirken. Selbst in unserer Demokratie - wie dar-
gestellt - sind es nur sehr wenige, die bestimmen, was zu ge-
schehen hat.
Es könnte sein, daß diejenigen, die sich bisher zu einem Han-
deln für die Gemeinschaft berufen fühlten, den zu entrichten-
den Preis nicht wahrhaben wollten, ihn herunterzuhandeln
suchten oder meinten, es ginge auch ohne Bezahlung. Welche
Leistungen oder Verzichte müssen heute von denjenigen gefor-
dert werden, die der drohenden Entmenschlichung und der
Zerstörung der Erde begegnen wollen?
Der Deutsche Ritterorden ist in seiner Vereinigung von
Mönchstum und Rittertum ein gelebtes Beispiel für die Erfül-
lung des orare durch das laborare, des spirituellen Bewußt-
seins durch die Bereitschaft zur Tat, und, wo es notwendig ist,
zum Opfer. Dieses Wort ist eine Sprachbildung aus dem Latei-
nischen offerre, >darbringen<. Sich darzubringen ist die höch-
ste Leistung im Menschsein. Sie fordert Entsagung auf eige-
nes Wünschen und ist die Voraussetzung für Dienen.

135
Dienen und damit Führen zu lernen ist ein langer, mühsa-
mer Weg. Es wird das Paradox verlangt, die eigenen Fähigkei-
ten voll einzubringen und sich doch ganz zurückzunehmen. Eine
Trennung zwischen Privatleben und Leben für die Gemein-
schaft wird undurchführbar. Privare heißt herausnehmen, ent-
ziehen und davon abgeleitet rauben. Wovon herausnehmen oder
rauben? Aus einem größeren Allgemeinen, dem dann nicht
mehr gedient wird. Es ist so unvereinbar, wie als Soldat in den
Krieg zu ziehen und gleichzeitig jeden Abend bei Muttern Brat-
kartoffeln essen zu wollen. In früheren Zeiten wußte der
Mensch offenbar, daß Dienen und Staatsführung zusammen-
gehören, wie hätte man sonst vom Staatsdiener und vom Mi-
nister (= Diener) sprechen können? Eine politische Elite, de-
ren Fehlen beklagt und durch Untersuchungen belegt wird, ist
aber unabdingbar. Wüßte das Volk, wohin mit den gegenwärti-
gen Politinsidern und wie sie dorthin vertreiben, es hätte dies
längst gemacht, denn viele Umfragen zeigen immer deutlicher,
daß Wünsche und Vorstellungen des Volkes ganz andere sind
als die seiner sogenannten Vertreter.50
Für unsere Zeit brauchen wir nicht einen Mönchs- oder
Ritterorden, sondern einen politischen Orden, in den jeder,
Mann wie Frau, freiwillig eintreten kann, der bereit ist, Bin-
dungen für sein Leben als verbindlich anzuerkennen, der weiß,
daß sein eigenes Heil im Heile des geordneten Gemeinwesens,
seines Volkes, liegt und der bereit ist, in letzter Konsequenz zu
sagen: »Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe.« Aber
die Werte, die dem Orden zugrunde lagen, sind auch für unse-
re Zeit unabdingbar. Sie auszubilden und einzuüben, ist nur in
der Gemeinschaft möglich. Darum brauchen wir also einen
Orden für Staatsdiener zur Begründung einer neuen Rang-
gesellschaft - wie von Matthias dargestellt.

136
Epilog: Die Weissagung
der Seherin

1. Endzeiterwartung und Weltuntergang


Der Weltkampf um den Menschen ist nicht nur ein Ringen um
die Existenz des Menschen, sondern auch um sein Selbstver-
ständnis. Zu diesem Selbstverständnis gehört aus abendländi-
scher Sicht die Anerkennung von bindenden Werten, anders
gesagt: der Bezug zu einer göttlich-geistigen Welt. Die Götter,
als Geistgestalten einst unmittelbar erlebt, sind für die mei-
sten Menschen der Gegenwart längst gestorben, bis in eine
traurige Theologie hinein, aus deren Schulen das Wort erklang
»Gott ist tot« und »Christus ist nur ein großer Mensch«. Solche
Aussagen können den modernen Menschen kaum beunruhi-
gen. Dennoch erlebt er eine ungeheure Lebensbedrohung. Was
veranlaßt uns, zu Beginn des dritten Jahrtausends von einer
Endzeit zu sprechen?
»Yggdrasils ragender Stamm steht erzitternd. . .« Mit die-
sen wuchtigen Worten leitet die Edda die Schilderung der »Göt-
terdämmerung« ein.
In dem Begriff Götterdämmerung des germanischen Kul-
turkreises wird ein geistiges Erleben gekennzeichnet, vergleich-
bar dem Mythos von der Vertreibung des Menschen aus dem
Paradies. Für diejenigen Menschen, die am Ende des euro-
päischen Altertums als Volksführer, Geführte oder Zuschauer
den Zusammenbruch einer Welt erlebten, die ihnen dauerhaft
gegründet und für alle Zeiten gesichert erschien, konnte die-
ser nicht anders sich darstellen als den Untergang auch einer
göttlich-geistigen Ordnung, die sie in solchen uralten Bildern
der Menschheit wahrnahmen. Der in Jahrhunderten errichte-

137
te Bau des Imperium Romanum zerbröckelte, verfiel und brach
schließlich zusammen, als die fremden >Barbaren< die zuneh-
mende Schwäche dieser stolzen Zivilisation erkannten, in ih-
ren Raum eindrangen und mit mächtigen Stößen zu ihrem
Sturz beitrugen. Doch auch für diese jungen Völker war es um
ihre eigene alte Welt geschehen, als sie einer neuen Geistigkeit
aus dem Süden begegneten, welche die früheren bildhaften Vor-
stellungen ihrer Kindheit und Jugend nicht nur in Frage stell-
te, sondern, diese bekämpfend, als abgöttisch verwarf und zum
Teil grausam verfolgte. Wer in Mitteleuropa das Sterben der
alten Götter nicht anerkennen wollte, mußte dies oft mit sei-
nem eigenen Tode büßen. Diese Tatsache läßt sich nicht leug-
nen. Sie wirkt bis auf den heutigen Tag.
Doch über solche im Äußeren sich abspielenden Erfahrun-
gen hinaus drückt sich in der Götterdämmerung noch ein an-
deres Erleben aus: der Verlust der Geborgenheit in einer Gei-
steswelt, die sich dem Menschen mehr und mehr zu entziehen
begann. Die germanischen und keltischen Völker hatten bis
dahin noch ein Einssein mit den geistigen Mächten der Welt
erlebt, von ihnen die Götterwelt genannt. So wie ein jugendli-
cher Mensch in der Reifezeit sein kindlich unmittelbares Ver-
hältnis zur Natur und zu seiner menschlichen Umwelt, in der
er heranwuchs, in Frage stellt und sich aus den bisher bergen-
den Zusammenhängen herausgeschleudert sieht, fühlten sich
die Angehörigen dieser Völker fortan auf sich selbst gestellt
und empfanden entsprechend der uns überlieferten Aussage
eines Wikingers: »Ich vertraue nicht mehr auf die Götter, son-
dern nur noch auf mich selbst!« - ein durchgreifendes und er-
schütterndes Ich-Erlebnis.
Auch ein anderes in der Edda uns dargestelltes zentrales
Ereignis weist in diese Richtung. Baldurs Tod durch die Hand
einer dunklen Macht bedeutete in der alten Bildsprache der
Edda das Ende des unmittelbaren Zusammenhanges mit der

138
Götterwelt und die Aufgabe, sich durch die Dunkelheit des er-
warteten Fimbulwinters hindurchzukämpfen.
Aus noch älteren Zeiten wird berichtet vom Untergang der
Atlantis oder von der Sintflut.
Aber auch unmittelbar vor dem Übergang ins zweite Jahr-
tausend unserer Zeitrechnung gab es unter Kaiser Otto III.
eine Untergangserwartung, die auf der Zählung der Jahre nach
Christi Geburt gründete. Damals wurde die Prophezeiung so
ernst genommen, daß nicht wenige Menschen ihr Hab und Gut
verkauften und betend oder die vermeintlich letzten Stunden
durchfeiernd auf das Ende der Zeiten warteten. Erinnert sei
auch an Martin Luthers Haltung im Umbruch einer für sicher
gehaltenen religiösen Weltordnung. Sein bekanntes Wort, auch
wenn die Welt morgen unterginge, noch ein Apfelbäumchen
pflanzen zu wollen, ist tiefsinniger als herkömmlich ver-
standen. Für Luther drückt sich darin zum einen seine tiefe
Gläubigkeit aus, die immer noch Wunder erwarten läßt, und
zum anderen, vielleicht nur halbbewußt, die Erkenntnis, daß
es d a r a u f ankommt, den Lebenskeim in eine neue
Daseinsmöglichkeit hinüberzuretten. Dazu muß er gepflanzt
sein.

2. Der Nullpunkt als Voraussetzung


für einen Neubeginn
Selbstverständlich ist die Endzeiterwartung unserer Zeit, wie
sie besonders drastisch und vielschichtig von Herbert Gruhl
dargestellt wurde, nicht unwidersprochen geblieben. Viele
Zweckoptimisten, deren Industrieauftrag nur zu deutlich durch
ihre Gegenbeweise hindurchschimmert, sind wenig glaubwür-
dig. Das Wunschdenken, dem sich die Wirklichkeit nicht an-
paßt, ist zu offensichtlich. Doch es gibt auch ernst zu nehmen-
de Beweisführungen. Dazu gehören Äußerungen in einem bei
Econ erschienenen >Gegengruhl< mit demTitel Ein Planet wird

139
gerettet von Friedbert Pflüger unter dem Aspekt: Wer die Um-
welttragödie für unausweichlich hält, vermag keine rettenden
Kräfte zu entfesseln. In der ersten These zur Umweltpolitik
heißt es: »Wer die nahende Apokalypse predigt, rüttelt die
Menschen nicht auf, sondern treibt sie in die Resignation. Hilf-
reicher ist die Position des jüdischen Technikphilosophen Hans
Jonas: >Der völlige Verzicht auf jede Hoffnung ist das, was das
Unheil nur beschleunigen kann. Eines der Elemente, die das
Unheil verzögern können, ist der Glaube daran, daß es abwend-
bar ist. Man muß die Pflicht und die Verantwortung erkennen
und so handeln, als ob eine Chance da wäre, sogar wenn man
selber sehr daran zweifelt. . . Noch wissen wir nicht, welche
Ressourcen sich im äußersten Notfall beim Menschen offenba-
ren werden. «<56
Betrachten wir unter diesem »Prinzip Hoffnung« (Bloch) die
Feststellung von Herbert Gruhl - wie vieler anderer zuvor -,
daß die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten, die dahinter-
liegende Erkenntnis nicht zu widerlegen ist, und fragen wir
uns: was bleibt?
Da gibt es die uralte, der Natur entlehnte Vorstellung von
der Metamorphose. Goethe leitet daraus ab: »Der Tod ist das
Mittel der Natur, um mehr Leben zu haben.«
Religiös abgewandelt heißt diese Bejahung des Nullpunktes
oder Todes die Erlösung vom irdischen Leid. Der Tod gibt Be-
freiung, aber er gibt nach Vorstellung von der Reinkarnation
oder, aus der Natur im Bild der in der Puppe versponnenen
Raupe abgeleitet, die Möglichkeit zu einem neuen Leben in
anderer Gestalt. Die erdgebundene Raupe verwandelt sich in
den Sonnenvogel, den Schmetterling, der dem Blütenwesen und
Luftigen zugeordnet ist. Die menschliche Individualität hat
die Möglichkeit, in einem neuen Sein weiter an ihrer Vervoll-
kommnung zu wirken.
Doch bleiben wir bei der Naturbeobachtung. Jedes Samen-

140
korn einer einjährigen Pflanze muß diesen gleichen Weg ge-
hen. Es ist das Endprodukt der absterbenden Pflanze und birgt
in sich die Möglichkeit des Weiterlebens der besonderen Pflan-
zenart. Nur aus dem Samenkorn der Sonnenblume kann im
nächsten Jahr erneut eine Sonnenblume werden. Aber nicht
jeder Same und nicht jede Puppe wird zu dem, was in ihr ver-
borgen lebt, was sie werden soll. Zunächst einmal gilt für das
Samenkorn, daß es zweierlei Funktion hat, es dient der Arter-
haltung, und es dient der Ernährung anderer Lebewesen, dar-
um läßt die Natur es auch in einer verschwenderischen Fülle
entstehen. Darüber hinaus bedarf es einer bestimmten Um-
welt, um neues Leben hervorbringen zu können.
Schon im Evangelium wird gesagt: »Es ging ein Sämann aus,
zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel etliches an den
Weg und ward zertreten, und die Vögel unter dem Himmel
fraßen es auf. Und etliches fiel auf den Fels; und da es aufging,
verdorrte es, darum, daß es nicht Saft hatte. Und etliches fiel
mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und
erstickten es. Und etliches fiel auf ein gutes Land; und es ging
auf und trug hundertfältige Frucht.«57 Wir können also sagen:
Nur wenn der im Samen oder in der Puppe enthaltene Lebens-
keim dieser einen ganz besonderen Art erhalten bleibt und auf
die ihm gemäße Umgebung trifft, nur dann kann die >Aufer-
stehung< erfolgen.
Betrachten wir nun auf diesem Hintergrund unseren Zu-
stand der Auflösung aller Werte, die Zerstörung von Natur in
ihrer bisherigen Gestalt und die Volkszerstörung, so ergibt sich
die Berechtigung, von einem Nullpunkt zu sprechen, in dem
wir uns befinden, auf den wir zumindest zusteuern. Auf die
deutsche Volksindividualität bezogen, wäre dann eine Aufer-
stehung oder Wiedergeburt nur möglich, wenn der Lebenskeim
bewahrt bliebe und ebenso die für seine Wiedergeburt notwen-
dige Umweltbedingung. Das gilt natürlich genauso für alle an-

141
deren Völker. Solange wir bewußt deutsch sprechen und damit
auch deutsch denken und Hunderttausende an dem gegenwär-
tigen Zustand seelisch leiden, ist dieser Lebenskeim offenbar
noch vorhanden.
Doch das seit dreißig Jahren für die Ökologiebewegung gel-
tende Motto »Umdenken - Umschwenken< erhält einen neuen
und umgekehrten Sinn. Es kann nicht mehr darauf ankom-
men, die Katastrophe, die völlige Zerstörung, aufzuhalten und
zu einem vorkatastrophalen Zustand zurückzukehren, sondern
diese Vorstellung und Bemühung der denkenden Angehörigen
einer ökologischen Bewegung müssen aufgegeben werden.
Genau an diesem Punkt hat das Umdenken und das Um-
schwenken einzusetzen.
Es ist nicht von anderen, sondern nur von uns selber zu lei-
sten. Wenn wir die Katastrophe nicht mehr aufhalten können,
dann bleibt nur, sie anzunehmen und als die einzige Möglich-
keit zur Wandlung zu begreifen. Nur so könnte der Nullpunkt
zum Neubeginn werden, der Untergang sich zum Aufgang
wandeln. Hierbei handelt es sich zugleich um eine Ent-
scheidung zwischen einer Neuorientierung der Industriege-
sellschaft und einer Zerstörung des Naturreiches. Tritt letzte-
res ein, dann kann die Keimkraft, das ist die bildende Lebens-
kraft jeder Eigenart, nicht erhalten bleiben. Anders ist dies
beim Umbruch in der Industriegesellschaft. Da diese ein Werk
des denkenden und handelnden Menschen ist - also
menschengemacht könnte hier der von Menschen eingelei-
tete Zusammenbruch, der nach Gruhl unabdingbar ist, zu ei-
ner neuen Kulturstufe führen.
Eine alles mit sich fortreißende Katastrophe, die den Men-
schen völlig unvorbereitet trifft, müßte unter allen Umständen
verhindert werden. Nur so läßt sich das Überleben dieser
>Keimkraft< sichern. Der Mensch muß vor dem Zusammen-
stürzen des Hauses dieses verlassen, ehe er mitgerissen und

142
unter den Trümmern begraben wird. Die einzige Alternative
zu den Zerfallserscheinungen der Gegenwart ist nach dieser
Sicht der vom Menschen durchgeführte, gelenkte und damit
geordnete Zusammenbruch. Ein Bild kann dies verdeutlichen,
das im Sommer 1992 auf den Fernsehschirmen mitverfolgt
werden konnte: Ein drohender Felsabsturz an der Mosel war
durch keine Stützmauer mehr zu hemmen. Unkontrolliert hätte
er die Moselanrainer auf Kilometer gefährdet, die Schiffahrt
lahmgelegt und vieles mehr. Also brachte der Mensch selbst
ihn gezielt und unter Berechnung des kleinsten Risikos zum
Einsturz. Auch dies Vorgehen erforderte Opfer, doch sie betra-
fen kein Menschenleben und waren wesentlich geringer als ein
mit Naturgewalt eintretender plötzlicher Absturz.
Der Mensch, der ordnend einzugreifen vermag, ist offen-
sichtlich nicht der Manager oder Politiker der Gegenwart.
Doch noch eine andere mögliche Erklärung des Phänomens
der Endzeit muß erwähnt werden. Für die Ökologie ist die Erde
ein lebendiger Organismus. Diese Erkenntnis schließt - viel-
leicht für manchen Ökologen unbewußt - das Wissen vom Tod
des Organismus ein. Leben und Tod gehören untrennbar zusam-
men. Jedes Lebewesen, sei es Pflanze, Tier oder Mensch und
auch Volk, stirbt zu seiner Zeit.
Der Mensch hat die Aufgabe, das Leben so sorgfältig wie
möglich zu pflegen und zu erhalten und seinem eigenen Leben
einen Sinn zu geben. Heute ist dem Menschen die Möglichkeit
durch seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse eröffnet, der
ganzen Erde Todbringer zu werden.
Der Grundbaustein der materiellen Welt war nach Ansicht
der Griechen unteilbar (atomon), daher der Name Atom, was
unteilbarer Kern bedeutet. Aus unserer heutigen Sicht könnte
damit zugleich gemeint gewesen sein: darf nicht geteilt wer-
den. Mit dem Eindringen in diesen Atomkern der Materie, so-
wie seiner Zertrümmerung zur Freisetzung der in ihm enthal-

143
tenen Energie und auch mit der inzwischen möglich geworde-
nen Genveränderung, also dem Eindringen in den Urbaustein
des Lebewesens mit dem Ziel der Züchtung eines besseren Men-
schen, ist offensichtlich das naturwissenschaftliche Zeitalter
an seinen Höhepunkt und zugleich an sein Ende gelangt. Bei
der Atomkernspaltung wird das bereits unübersehbar: Die
dabei freigesetzten radioaktiven Stoffe sind künstliche Erzeug-
nisse und gefährden das Leben. Das gilt insbesondere für Plu-
tonium. Sie sind so zerstörerisch, daß sie nicht mit Lebewesen
in Berührung kommen dürfen. Sie tragen den Tod in sich, wie
auch der dafür aus der griechischen Mythologie gewählte Name
des Beherrschers der Unterwelt, Pluto, aussagt. In Abwand-
lung der früheren Hinweistafeln im jahrzehntelang geteilten
Berlin könnte man sagen: »Sie verlassen hier den Sektor der
Erde.« Und das ist lebensgefährlich. Es könnte somit die in
der Regel nur vordergründig betrachtete Katastrophe als Er-
gebnis menschlichen Fehlverhaltens für die Menschheits- und
Erdenevolution das Mittel zur Einleitung eines neuen Erden-
zustandes sein.
Die der Hybris verfallenen und zerstörerisch handelnden
Menschen stehen, ohne daß dies ihnen bewußt ist, im Dienste
des Mephisto, der nach Goethe »stets das Böse will, und doch
das Gute schafft«, das heißt: im Auftrag einer höheren Welten-
führung arbeiten muß. In dem Augenblick, da der Mensch Gut
und Böse zu unterscheiden lernte, trat er aus der göttlichen
Welt heraus und ist seitdem auf sich selbst gestellt. Es ist dies
weder Strafe noch Sünde, sondern unvermeidliche Konsequenz
und zugleich menschliche und göttliche Notwendigkeit. Der
Erdensohn widmete sich in den Jahrtausenden seines Seins
seinem Planeten, der Mutter Erde, er bebaute sie und entnahm
aus ihren Vorräten, er durchforschte ihre Höhen und Tiefen
sowie die Elemente und errichtete auf ihr seine eigene Welt,
die wir eine zweite oder andere Schöpfung nennen können. Jetzt

144
ist diesem Weg ein Ende gesetzt. Alles weitere Eingreifen ist
nun verbunden mit Zerstörung. Der Auftrag scheint erfüllt,
darum gilt für den jetzigen Menschheitszustand: Endzeit.
Auch so ließe sich noch dem Geschehen ein positives Vor-
zeichen im Sinne der Metamorphose geben. Bei dieser Inter-
pretation würde es sich um die Ablösung des bisherigen durch
einen ganz neuen Erdenzustand handeln. Es wird verständ-
lich, wieso für die orthodoxe Christenheit bis heute die »Heili-
ge Metamorphosis< ein Engelwesen ist, das unmittelbar den
Schicksalsnornen, die auch in der germanischen Mythologie
eine Dreiheit ausmachen, zuzuordnen ist. Das Schicksal steht
noch über den Göttern. Ragnarök, wörtlich >Götterschicksal<
und erst später >Götterfinsternis<, beschreibt das Eingreifen
dieser Schicksalsmacht in die Götterwelt. Auch sie wird einer
Wandlung unterworfen. Und wieder bleibt die Frage, was ist
als Lebenskeim für die Weltentwicklung durch den Nullpunkt
hindurchzuretten und zu erhalten?

3. Von der Götterdämmerung


zur Menschendämmerung
Heute können wir die tief eingreifende Bedeutung dieser in
der Bilderwelt der Mythen überraschenden Vorstellung von
einer >Götterdämmerung< für die germanische Völkergruppe
verstehen. Sie beschreibt ein Seelenerlebnis, das in eine gei-
stig-göttliche Dimension hineinprojiziert worden ist: Es sind
die Werte einer durch Jahrhunderte - wenn nicht länger - blü-
henden Kultur, die dahinschwinden. Was der Seherin Gesicht
in der nordischen Dichtung der Edda holzschnittartig darstellt,
ist eine Geistesschau. »Unter der mittelalterlichen Visionsdich-
tung ragt neben Dantes Riesenwerk dieses Lied als ein höch-
ster Gipfel auf«, stellt ihr Übersetzer Felix Genzmer fest. Es
sind Sturmsignale einer über Europa hereinbrechenden ge-

145
schichtlichen Epoche des Umbruchs, der sich in der Völker-
wanderung vollzieht. Nicht nur die Verbundenheit des bisher
jugendlich träumenden keltischen oder germanischen Men-
schen mit der Natur, sondern auch seine zwischenmenschlichen
Bande lösen sich auf:
»Brüder kämpfen und bringen sich Tod,
Brüdersöhne brechen die Sippe;
Arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht -
Nicht einer will des andern schonen.«58
Das ist zugleich die Vorahnung eines neuen historischen Zeit-
alters. Darauf weist Rudolf Meyer in seinem Buch Nordische
Apokalypse hin: »Ragnarök strahlt weithin über die Mensch-
heit aus; es entrollt sich die Götterdämmerung in ihrer Dra-
matik erst im Gange der abendländischen Geschichte. Stufen-
weise kommt sie zur Auswirkung.«59
Wenn wir heute den Begriff >Götterdämmerung< auf unsere
Gegenwart beziehen, so aus zweierlei Gründen: Nicht nur
bedeutete der damals beginnende historische Prozeß den An-
fang eines neuen Menschheitsweges in Europa, er bedeutete
nicht nur das Ende einstiger Wertsetzungen, sondern mündet
heute in einen Zustand ein, in dem die vom mündigen Men-
schen neu aufgestellten Tafeln des in der vergangenen Zeit
gewonnenen Selbstverständnisses und des daran ausgerichte-
ten Verhaltens ihre Bedeutung verlieren. Das, was die Götter
darstellten, hatte der Mensch versucht zu verwirklichen; im
gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch sind solche Maßstäbe erneut
verlorengegangen, und hilflos sieht sich der Mensch nach Leit-
planken um, Ragnarök holt ihn wieder ein. So sagt Rudolf
Meyer kennzeichnend:
»Das mythische Weltbild der Edda ist bis ins Innerste dy-
namisch. Die Geisterbrücke (Bifröst) bricht ein und verbrennt,

146
wenn der große Weltenstreit entfesselt ist. Es gibt, keine Seli
gen, die unbekümmert um die Weltennot in ihrer Himmelsru-
he verweilen könnten, und es gibt keine Verdammten, die nicht
beim Aufruhr der Tiefen los würden, um an dem Sturm der
Titanen gegen die Höhen mit teilzunehmen. Nichts ist sicher
gestellt. Wir leben in einem bedrohten Kosmos. Wenn Surturs
Schwert, das heller als die Sonne gleißt, die Welt in Brand auf-
gehen läßt, so werden die Flammenmächte freigesetzt, die in
den Stoffesgründen gebunden waren. Es sind die gleichen
Mächte, die heute mit der Entwicklung der Kernphysik in die
Willkür menschlicher Hände überzugehen beginnen. Surturs
gleißendes Schwert zu handhaben, bedeutet äußerste Gefahr
für alles planetarische Dasein und höchste Verantwortung zu-
gleich. Ragnarök ist in seine letzte Phase eingetreten.«60
Die Götterdämmerung wurde zum Beginn der Eigenständig-
keit: Der Mensch fand sich auf sich selbst gestellt, der Füh-
rung beraubt, und besann sich auf seine Eigenkräfte. Wie ein
durch die Reifezeit hindurch gegangener junger Mensch streb-
te er nach der vollen Entfaltung der ihm zur Verfügung ste-
henden Möglichkeiten. Der europäische Mensch war aus sei-
ner Jugend ins Mannesalter seiner Selbstverwirklichung ge-
treten. Dabei waren Gleichgewichtsschwankungen nicht zu ver-
meiden.
Goethe macht bei der Betrachtung der Metamorphose der
Tiere darauf aufmerksam, daß die Natur nur einen sehr ausge-
glichenen Haushalt ihrer Kräfte habe. Was sie zur Ausbildung
einer besonderen Fähigkeit benötige, müsse sie dem betref-
fenden Lebewesen an anderer Stelle vorenthalten: Wer ein
Raubtiergebiß hat, kann nicht gleichzeitig ein Gehörn erwar-
ten.
In der ersten Geschichtsphase des christlichen Abendlandes
steht die Erstarkung seelischer Kräfte erkennbar im Vor-
dergrund. Das religiöse Leben, die Bezwingung des Trieble-

147
bens durch mönchische Askese und ritterliche Zucht, die Aus-
übung eines kontemplativen Lebens, um wie Meister Eckhart
den »göttlichen Funken in der Seele« zur Flamme anzufachen,
tragen zu dieser Entfaltung bei.
Durch die Begegnung mit der europäischen Antike in Philo-
sophie und Naturwissenschaft, durch den Brückenschlag des
großen Staufers, Friedrichs II., zur arabischen Welt begann
die Ausbildung intellektueller Fähigkeiten. Der Impuls zu ei-
gener Forschung wurde geweckt. Aufgrund des Wissens um
arabische Alchemie suchte statt frommer Übungen der durch
seine Ordensregeln zu Armut verpflichtete Franziskanermönch
Berthold Schwarz, wie andere erste Chemiker seiner Zeit, das
von einer neuen Epoche ersehnte Gold zu gewinnen. Ein ver-
fehltes Experiment bescherte ihm statt dessen in einer hefti-
gen Explosion das in Europa noch unbekannte Schießpulver.
Damit endete, wie uns Älteren in der Schule noch gelehrt wur-
de, das abendländische Mittelalter, und es begann die fortan
so genannte Neuzeit. Sie stand unter dem Vorzeichen der aus-
gerechnet von einem Jünger des Hlg. Franz entdeckten Explo-
sionskraft, die zum entscheidenden Zerstörungsmittel und
Kulturumbruch wurde und ihren Höhepunkt in der ersten Zün-
dung der Atombombe durch die Amerikaner erreichte.
Gold und Pulver, Wirtschaft und Zerstörung, begleitet vom
Takt des später erfundenen Explosionsmotors der industriel-
len Revolution - die Antriebskräfte einer neuen Phase der
menschheitlichen Evolution? Jedenfalls wurde der Knall in der
zum Labor umgewandelten Mönchszelle des Berthold Schwarz
zum Startschuß für einen wissenschaftlichen Marathonlauf
durch die nachfolgenden Jahrhunderte, im >faustischen Zeit-
alter zur Erforschung dessen, »was die Welt im Innersten zu-
sammenhält«, und eröffnete mit der wachsenden Beherrschung
der Materie eine ungeahnte zivilisatorische Entfaltung mensch-
licher Macht durch die unaufhaltsame industrielle Revolution,

148
die durch das Zerstörungspotential der Industriegesellschaft
jetzt wiederum mit einem Knall zu enden droht. Hiroshima
und Atomkatastrophen in Rußland lassen ein furchtbares Ende
erahnen. Ist es verwunderlich, daß in unserer Zeit die uralten
Schöpfungsmythen durch die Hypothese vom Urknall abge-
löst wurden?
Der europäische Mensch hat sich, wie einst von seinen Göt-
tern, nun von den bisher in seiner Seele fortlebenden Werten,
von seiner Ehrfurcht und der lange immer noch lebendig er-
haltenen Frömmigkeit gelöst. Die materielle Welt frißt sein
ganzes Sein auf. »Wirtschaft, Wirtschaft über alles!< Sie steht
heute im Mittelpunkt allen Denkens, Planens und Handelns.
Um ihres Wachstums willen bemühen sich - wie in alten Mär-
chenbildern der Teufel - heute die »geheimen Verführer< um
jede Seele, um durch ihre raffinierte Werbung ein Bedürfnis
nach dem anderen zu erwecken, so daß aus dem Menschen ein
Verbraucher und Nur-Konsument wird. Gleichzeitig diktieren
sie, was zur Zeit modern ist, und kein moderner Zeitgenosse
kann sich davon ausschließen. Für diese Produktion, von der
Walther Rathenau61 bereits am Anfang des Jahrhunderts ge-
sagt hatte, daß sie zu 30 Prozent überflüssig sei - und heute
kann man getrost 50 Prozent ansetzen -, arbeiten Wissenschaft,
Industrie und Transportwesen. Deutsche Politiker gaben so-
gar 1967 der Verpflichtung zum permanenten Wirtschafts-
wachstum Gesetzescharakter!62 Damit sind Geistesleben, po-
litisches Leben und Rechtsleben weitgehend von der Wirtschaft
usurpiert, ein gefährlicher Zustand, dessen Folgen wir bereits
erleben. Wo Mammon herrschte, verdunkelte sich die Dämme-
rung zur Nacht, und der frierenden Menschenseele wurde von
den »geheimen Verführern< der Kommunismus als Religions-
ersatz angeboten. So wurde aus dem Materialismus eine reli-
giöse Überzeugung, was auch den Fanatismus der Auseinan-
dersetzung erklärt. »Akkumuliert, akkumuliert, das sind für

149
euch Moses und die Propheten!«, rief Karl Marx seinen Glau-
bensgenossen zu und kennzeichnete damit den aufkommenden
Kapitalismus.63
Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll die allgemein üb-
liche Erklärung des Begriffes >Materialismus< einbezogen wer-
den. Wir entnehmen folgende Begriffsbestimmung demPhiloso-
phischen Wörterbuchß4: »Eine Anschauung, die in der Materie
den Grund und die Substanz aller Wirklichkeit sieht, also nicht
nur der stofflichen, sondern auch der seelischen und geistigen.
Zum Materialismus ist der Naturalismus zu rechnen, insofern
er dem Menschen keine Sonderstellung in der Natur einräumt,
ferner der Empirismus, dem nur das mit naturwissenschaftli-
chen Methoden Erfaßbare als wirklich gilt, dann der Neuposi-
tivismus, der die Erörterung geistig-seelischer Tatbestände von
vornherein ablehnt. Der ethische Materialismus hält nur die
nutz- und genießbaren Güter für erstrebenswert und lehnt die
Anerkennung eines Reiches autonomer, nicht materieller Wer-
te ab.« Dazu gehört als Folgewirkung von durchgreifender Be-
deutung in der politischen Praxis der historische Materialis-
mus und damit die auf dem Materialismus beruhende und vom
Marxismus nachdrücklich vertretene Geschichtsphilosophie:
»Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den
sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.
Es ist nicht das Bewußtsein des Menschen, das ihr Sein, son-
dern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußt-
sein bestimmt«. (Marx). »Wir sehen die ökonomischen Bedin-
gungen - die Art und Weise, wie die Menschen einer bestimm-
ten Gesellschaft ihren Lebensunterhalt produzieren und die
Produkte untereinander austauschen - als das in letzter In-
stanz die geschichtliche Bedingung Bedingende an.« (Engels)
Das Wesen der Geschichte wird so nicht erfaßt.
Für dieses Denken ist »Wirtschaft das Schicksal* und der
>tote< Stoff die Realität gegenüber den »irrationalem Begriffen

150
Leben, Seele und Geist. Die pragmatische Auswirkung dieser
Weltanschauung ist uns in Osteuropa durch mehr als sieben
Jahrzehnte und in Mitteleuropa durch 44 Jahre demonstriert
worden.
Es erübrigt sich, hier auf diese Erfahrungen für Volk und
Individualität einzugehen. Jedoch ist es unerläßlich, Folgen-
des festzustellen, und dies in aller Deutlichkeit: Es ist das glei-
che Denken, das nicht nur unser Wirtschaftsleben in Deutsch-
land wie im >Westen< Europas und der Erde bestimmt, son-
dern auch beim verantwortlichen amtlichen Handeln die Poli-
tiker aller bestimmenden Parteien. Darüber hinaus ist dieser
Materialismus das durchgängige Bewußtsein der mitteleuro-
päischen Bevölkerung, einschließlich - wenn auch unbewußt
- der überwiegenden Mehrheit des deutschen Bürgertums, das
sich zwar immer noch als Erbe des »Volkes der Dichter und
Denker< fühlt, jedoch das philosophische Vermächtnis des Deut-
schen Idealismus längst vergessen hat.
Die Götterdämmerung wurde zur Menschendämmerung. Zu
tief tauchte der Erdensohn in die Materie ein, gab sich ihren
Verlockungen hin, mißbrauchte die ihm verliehene Vollmacht,
tauschte, wie es immer wieder warnend in den Märchen darge-
stellt wurde, seine Seele gegen Gold ein und vergaß schließ-
lich ganz seinen geistigen Ursprung.
Übrig blieb nur der physische Mensch, der seine Existenz
aus der Natur und damit aus der stofflichen Welt ableitet. So
meinte er auch, eine Orientierung für sein Leben nur in der
Natur zu finden, und entwickelte aus der Beobachtung ihrer
Gesetzmäßigkeiten die sogenannte biologische Weltanschau-
ung als Maßstab für eine neue natürliche Verhaltensweise. Doch
zeigte es sich bald, insbesondere auch durch die Erfahrung aus
den in diesem Jahrhundert geführten Kriegen, wie wenig hel-
fend diese für die Praxis des Einzellebens und der Politik ist.
In krassen Fällen entwickelt sich daraus ein Neo-Darwinis-

151
mus, mit seinem >Kampf ums Dasein<, der schließlich in einen
Krieg aller gegen alle einmünden wird.
Dennoch müssen wir den von der Naturwissenschaft einge-
schlagenen Weg weitergehen, um der Denkweise unseres
Zeitalters zu entsprechen und verstanden zu werden. Der
Materialismus, in den sie hineingeführt hat, muß und kann
aus dem Weiterdenken über die Materie überwunden wer-
den. Unsere Augen können sehend werden für die Hintergrün-
de des Seins. Der der Verführung erlegene und durch den von
Klingsor geraubten Speer schwer verwundete Amfortas in
Richard Wagners Parsifal kann nur durch den gleichen Speer
in der Hand eines geläuterten Menschen von seinem Leiden
erlöst werden.
Alle drei Betrachtungsweisen der drohenden Katastrophe,
sowohl diejenige, die darin die Möglichkeit zur Erreichung ei-
ner neuen Kulturstufe erkennt, wie auch diejenige, die einen
ganz neuen Erdenzustand erwartet, als auch die Illusion, das
Schlimmste noch abwenden zu können, gehen von einem in
seiner Ganzheit veränderten Menschen aus. Die Weiterführung
des Lebens hängt davon ab, ob der geistige Mensch in uns wie-
der erweckt werden kann, mit seinen vollständig anderen Be-
dürfnissen, als sie der ausschließlich an Wohlstand und Trieb-
leben Interessierte hat.
Schauen wir noch einmal auf den Vorgang der Metamorpho-
se des Schmetterlings: Im Chaos des Puppenzustandes ist das
Entscheidende, daß das veranlagte Urbild und die Entelechie
(Zielstrebigkeit) erhalten bleiben. Wir fragten angesichts des
gegenwärtigen Nullpunktes nach dem zu bewahrenden und
hindurchzutragenden Lebenskeim. Jetzt können wir antwor-
ten: Besinnen wir uns auf das Urbild des Menschen, beleben
wir es in uns, bewahren wir es gleichsam als roten Faden für
die weitere Evolution des Menschseins. Vor dieser Aufgabe ste-
hen wir heute und hier. Von ihrer Erfüllung hängt unser Schick-

152
sal und das der Erde ab. Nur so könnte die Menschendämme
rung zum Morgen eines kommenden Tages werden.
Was in der Apokalypse des Johannes dramatisch geschildert
und im Bild der neuen Stadt seine Auflösung findet, lesen wir
nicht minder wuchtig in der »Weissagung der Seherin«:65
»Die Sonne wird schwarz,
Land sinkt ins Meer,
es stürzen vom Himmel
die strahlenden Sterne;
es rast der Brandrauch
wider das Feuer;
die lodernde Lohe
spielt hoch in den Himmel.« (57)
Doch auch hier ist der »siegreichen Götter schlimmes Geschick«
nicht das Ende.
»Aufsteigen seh' ich
zum anderen Male
aus Fluten die Erde,
die neu sich begrünt;(58)
Da werden sich wieder
wundersame,
goldene Tafeln
im Grase finden,
die sie in ältester
Zeit schon hatten. (61)
Unbesät werden
hochwachsen die Äcker,
es heilt alles Unheil,
und Baidur kommt wieder.« (63)
Es ist Baidur in Gestalt des Sonnengottes und Heilands der
Welt, denn »alles Getrennte findet sich wieder«66. Doch nur für
den Menschen, der sieht und zu handeln bereit ist.

153
Anmerkungen
Ohne geistige Erneuerung keine Wiedergeburt

1. Kungfutse, zitiert nach >Fragen<, kritische Texte für den


Deutschunterricht, München 1969, S. 92
2. Die Benutzung des Davidsternes als jüdisches religiöses Sym-
bol ist seit dem 16. Jahrhundert belegt. Der aus zwei Triangeln be-
stehende Stern ist jedoch ein uraltes magisches Symbol bei verschie-
denen Völkern. Die gelbe Farbe des >Judensternes< behandelt Alex
Bein in Die Judenfrage, Stuttgart 1980, Bd. II
3. Eugen Drewermann/Ingritt Neuhaus, Maienkind, Olten-Frei-
burg 1984
4. Rowohlts Klassiker, Der utopische Staat, Hamburg 1960, S.
111 ff.
5. Erich Blechschmidt, Wie beginnt das menschliche Leben, Stein
a. Rh. 1976
6. Wir beobachten ein zunehmendes Interesse an Astrologie. Für
unterschiedliche Zwecke werden Horoskope angefertigt, bis hin zu
einer wirksamen Ermittlung von günstigen Tagen innerhalb der
physischen oder geistigen Leistungskurve für Operationen oder
schwerwiegende Unternehmungen. (Biorhythmen)
7. Rudolf Steiner, Kernprodukte der sozialen Frage, Stuttgart 1920
8. Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung, Lauf - N ü r n -
berg 1949, S. 59
9. Rudolf Steiner, aaO. (Anm. 7), S. 74 und 81, vergleiche auch:
Wie wirbt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Or-
ganismus, Dornach 1931, S. 8

Die Wirtschaft - unser Schicksal


10. Friedrich Naumann (1860-1919), Pfarrer und Politiker, Begrün-
der einer national-sozialen Partei 1896-1903, dann leitende Funkti-
on bei den Deutschen Demokraten. (Friedrich Naumann Stiftung)

155
11. Günter Hofmann, »Arbeit oder blauer Himmel«, Die Zeit vom
13.1.1978
12. In der Ökonomie wird heute unterschieden zwischen Geld-,
Real- und Naturkapital.
13. Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert, Frankfürt 1975,
S. 65 ff.
14. Volker Hauff (Hg.), Argumente in der Energiediskussion, Vil-
lingen 1978, Bd. 6, S. 46
15. Dieter Burgmann, Zeitschrift Sozialismus, Heft 5/82
16. Karl Walker, Das Problem unserer Zeit und seine Meisterung,
Lauf b. Nürnberg 1932, insbesondere S. 177 f., und Ernst Winkler,
»Die Grünen auf der Suche nach einem >dritten Weg<«, in Zeitschrift
für Sozialökonomie, 9/1980
17. Silvio Gesell, aaO. (Anm. 8), S. 142
18. Rudolf Steiner, vergl. auch Kernpunkte aaO., Kapitel III
19. Bundeszentrale für politische Bildung, Datenreport 1992, Bonn
20. Rachel Corson, Der stumme Frühling, München 1963, und C.
J. Briejer, Silberne Schleier, München 1970
21. Yoshito Otani, Untergang eines Mythos, Neu-Ulm 1978, S. 157
22. Vergl. die Arbeiten von Wilfried Heidt, Der dritte Weg, Ach-
berg 1974

»Wir sind das Volk« - auf der Suche nach unserem Staat
23. Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaat-Gedan-
ke, Leipzig 1921
24. Die Offenbarung des Johannes 21, 1-3
25. Werner G. Haverbeck, Die andere Schöpfung, Stuttgart 1978
26. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Recht, Staat, Geschichte, hrsg.
von Friedrich Bülow, Stuttgart 1955, S. 341 f., aus Grundlinien der
Philosophie des Idealismus.
27. Ebenda, S. 389 ff.
28. Chrysostomos, Johannes (344-407), Bischof von Konstanti-
nopel
29. Konrad Farner, Theologie des Kommunismus, Frankfurt/M.
1969, S. 27 f. mit nachfolgendem Zitat von Salin. Die elfte Predigt

156
des Johannes Chrysostomos, gehalten im Jahr 400, verkündet ei-
nen christlichen Sozialismus, in dem der Gemeinnutz vor dem Ei-
gennutz gefordert wird: »Alle würden wir an uns ziehen und in un-
seren Bund einreihen können. Wenn wir auf diesem Wege vorwärts-
schreiten, hoffe ich bei Gott, daß sich so die Zukunft gestalten wird. . .,
so hoffe ich, werden wir ein solches Gemeinwesen bald schaffen.« Es
verwirklichte sich nur in den Orden.
30. Farner, aaO. (Anm. 29), S. 64
31. Hegel, aaO. (Anm. 26), S. 346, 352, »Nationalstaaten und
Menschheit
32. Ebenda, S. 341, 258
33. Ebenda
34. Am Anfang war diese Welt allein der Atman, in Gestalt eines
Menschen. Der blickte um sich: da sah er nichts anderes als sich
selbst. Da rief er zu Anfang aus: »Das bin ich!« Daraus entstand der
Name >Ich<. Daher auch heutzutage, wenn einer angerufen wird, so
sagt er zuerst: »Das bin ich!«, und dann erst nennt er den anderen
Namen, welchen er trägt. Aus den Upanishaden (vermutlich aus
dem 6. vorchristlichen Jahrhundert), wiedergegeben in Louis Re-
now, Der Hinduismus, Band I, Die großen Religionen der Welt, Stutt-
gart 1972 S. 105 f.
35. Apokalypse des Johannes 19, 11 f.
36. Leo Tolstoi, Krieg und Frieden, München-Zürich 1958, S. 793 f.
37. Gertrud Bäumer, Männer und Frauen im geistigen Werden
des deutschen Volkes, Tübingen 1934, S. 24
38. Odilo über Adelheid, ebenda, S. 224 f. und 243 f.
39. Kunigunde-Brief, ebenda, S. 340
40. Zum Studium dieser bedeutsamen Epoche ist zu empfehlen:
Hella Krause-Zimmer, Bernward von Hildesheim, Stuttgart 1984
41. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München
1922, Bd. II S. 20 ff.
42. J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation.
43. Ernst Cassirer, Freiheit und Form, Berlin 1926, S. XVI
44. Hegel, aaO. (Anm. 26), S. 386
45. Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, GA 174a, S. 23, Dornach 1982.

157
Der Ordensstaat
46. Marian Tumbler, Der Ordensstaat, Neuauflage 1992, Bad
Münstereifel
47. Ebenda, S. 7
48. Ebenda, S. 9
49. Friedrich Gause, Geschichte des Preußenlandes, Leer 1970,
S.19
50. Hans Joachim Schoeps, Preußen, die Geschichte eines Staa-
tes, Frankfurt/M.-Berlin 1966, S. 298. Schoeps stellt hier fest: »An
allen zwischen 1701 (dem Gründungsjahr des Königreiches Preu-
ßen) und 1933 geführten Kriegen ist, wie man ausgerechnet hat,
Frankreich mit 28%, England mit 21% und Preußen-Deutschland
mit 8% beteiligt gewesen.«
51. Walter Dirks, Die Antwort der Mönche, Frankfurt/M. 1952.
Dieses Buch gibt weitere ausführliche Antworten über das Ordens-
leben und setzt es in Beziehung zum 20. Jahrhundert. Vergl. auch
Emil Schlee, Ritter sein - um der Zukunft willen, Deutsche Verlags-
gesellschaft, Preußisch Oldendorf 1996.
52. Günter Deschner, Die Kurden - das betrogene Volk, Erlangen
1989, S . 9 1
53. Tumbler, aaO. (Anm. 46), S. 24
54. M. Dönhoff / M. Miegel / W. Nölling / R. Reuter / H. Schmidt /
R. Schröder/ W. Thierse, Ein Manifest - Weil das Land sich ändern
muß, Rohwohlt 1992
55. Alfred Mechtersheimer, Pressespiegel innerer Frieden, 3. Mai
1996; ders., Friedensmacht Deutschland, Plädoyer für einen neuen
Patriotismus, Ullstein, Berlin 1993.

Epilog: die Weissagung der Seherin


56. Friedbert Pflüger, Ein Planet wird gerettet, Düsseldorf-Wien
1992, S. 297
57. Lukas Evangelium, Kap. VIII, 5-8
58. Die Edda, >Der Seherin Gesicht<, Vers 45, übertragen von Felix
Genzmer, Jena 1933
59. Rudolf Meyer, Nordische Apokalypse, Stuttgart 1967, S. 179

158
60. Ebenda, S. 183 f.
61. Walter Rathenau, vergl. Werner Georg Haverbeck, Die ande-
re Schöpfung, Frankfurt/M. 1983, S. 251
62. Wörtlich heißt dieses Gesetz »Gesetz zur Förderung der Sta-
bilität und des Wachstums der Wirtschaft«.
63. Vergl. Karl Marx, Die Frühschriften, Kröner, Stuttgart 1968,
Zur Judenfrage, S. 171 ff.
64. Philosophisches Wörterbuch, Kröner, 201978, S. 425 f.
65. Zitiert nach Die Edda, Manesse, Zürich 1987, S. 24 ff.
66. Friedrich Hölderlin, Gütersloh 1954, S. 470, einer der letzten
Sätze im Hyperion.

159
WERNER GEORG HAVERBECK, Jahrgang 1909
Studium der Volkskunde und Geschichtswissenschaft.
Gründer und Leiter des Reichsbundes Volkstum und
Heimat 1933.
1937 Promotion, anschließend Habilitationsschrift.
1940-45 Kriegseinsatz. Anschließend Theologiestudium
und ab 1950 Pfarrer in der Christengemeinschaft.
Seit 1960 in der Erwachsenenbildung tätig. 1963 Begrün-
der des COLLEGIUM HUMANUM, Akademie für Umwelt
und Lebensschutz, Heimvolkshochschule in Vlotho.
1972 Professor für angewandte Sozialwissenschaften in
Bielefeld, ebenfalls seit dieser Zeit führend in der Ökolo-
giebewegung. Präsident des Weltbundes zum Schutze
des Lebens, Bundesverband Deutschland.
Veröffentlichungen u.a.: Die andere Schöpfung, Technik
- ein Schicksal von Mensch und Erde, Stuttgart 1974,
Frankfurt "1986; Entschluß zur Erde, Stuttgart 1983; Rudolf
Steiner - Anwalt für Deutschland, München 1989

URSULA HAVERBECK-WETZEL, Jahrgang 1928


Ostvertriebene, vier Jahre in Schweden,
danach Studium der Pädagogik, Philosophie
und Sprachwissenschaften, unter anderem zwei Jahre
in Schottland. Verheiratet mit Werner G. Haverbeck.
35jährige Zusammenarbeit in Erwachsenenbildung und
Ökologie, Mitbegründerin und langjährige Seminar- und
Organisationsleiterin im COLLEGIUM HUMANUM.
1974-1983 Schriftleitung der Lebensschutzinformationen.
Präsidentin im »Weltbund zum Schutze des Lebens<,
Bundesverband Deutschland von 1983 bis 1989.
Mitbegründerin und Vorsitzende im »Verein Gedächtnis-
stätte*.

160

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