Leitthema
Paediatr Paedolog 2017 · 52 (Suppl 1):S4–S9
DOI 10.1007/s00608-017-0503-z
Online publiziert: 11. August 2017
© Der/die Autor(en) 2017. Dieser Artikel ist
eine Open-Access-Publikation.
Karl Krajic
Institut für Soziologie, Universität Wien, Wien, Österreich
Netzwerke überall?
Anmerkungen zum wissenschaftlichen und
praktischen Gebrauch von Netzwerk und
Netzwerkanalyse
Der Beitrag beginnt mit einem kurzen
historischen Einstieg in die Geschichte
von Netzwerkanalysen. In einem zweiten Schritt wird ein Blick darauf geworfen, wie sich die Gegenwartsgesellschaft
(auch) als eine Gesellschaft beschreibt,
in der der private und berufliche Alltag
von vielen durch Netzwerke(n) bestimmt
wird. In einem nächsten Schritt wird angesprochen, dass ein breites Spektrum
von (gesellschaftlichen) Phänomenen
mit netzwerkanalytischen Perspektiven
beobachtet wird. Angesprochen wird in
mehreren Schritten, was das Gemeinsame von Netzwerkanalysen in verschiedenen Bereichen der Sozial-, aber auch
Naturwissenschaften ist, ob so etwas
wie eine allgemeine Netzwerktheorie im
Blickfeld auftaucht und ein neues wissenschaftliches Paradigma darstellt bzw. ob
die feld- bzw. disziplinenübergreifende
Gemeinsamkeit primär Analysemethoden und Modelle betrifft. Des Weiteren
gibt der Text einen groben Überblick
über sozialwissenschaftliche Anwendungen von Netzwerkanalysen und fokussiert dann auf sozialwissenschaftliche
Perspektiven zum Gesundheitsbereich
[1]. Nach einem Überblick über einige
netzwerkanalytisch bearbeitete Fragestellungen werden 2 Bereiche, nämlich
die Unterstützung von Betreuungsbedürftigen (v. a. chronisch Kranken) und
die Rolle von Vernetzung zwischen organisatorisch unabhängigen Akteuren
in der Gesundheitsversorgung behandelt, und diskutiert, welche Erwartungen
an Netzwerke, formale Organisationen
oder Netzwerkorganisationen als Hybride formuliert werden können.
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Entwicklungsstränge der
Netzwerkanalyse
Der deutsche Soziologe Boris Holzer hat
in seiner einführenden Darstellung zu
sozialwissenschaftlichen Anwendungen
von Netzwerkanalysen die Entwicklung
der heutigen Situation in anschaulicher
Weise dargestellt [2]. Er beginnt die Rekonstruktion von 2 Strömungen, die in
den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen
haben. Holzer sieht den Ausgangspunkt
der ersten Strömung in der strukturfunktionalistischen Anthropologie, den der
zweiten in Morenos Soziometrie und Lewins Feldtheorie. Diese Entwicklungen
bauten auf Ansätzen in der Soziologie,
Sozialpsychologie und Anthropologie
auf, und als Soziologe verweise ich gerne auf Georg Simmel, der schon am
Beginn des 20. Jahrhunderts Überlegungen zur quantitativen Bestimmtheit
der Gruppe und zur Kreuzung sozialer
Kreise als soziologische Konzepte angestellt hat. Damit sollte die Einbettung von
Individuen in soziale Beziehungen als eigenständiger Gegenstand soziologischer
Analyse erschlossen werden.
Aus dem Kontext der Sozialpsychologie stammt Morenos Soziometrie, die
mit der Messung von Sympathiewerten
Gruppenstrukturen beschreiben wollte.
Holzer beschreibt den von dort ausgehenden zunehmenden Import von
formalen Methoden und Modellen, die
in der Netzwerkanalyse typischerweise verwendet werden (Graphentheorie,
Triadenanalyse, Diffusionsmodelle etc.;
vgl. [2, S. 29–34] für eine knappe Rekonstruktion).
Innerhalb der Netzwerkforschung
kann der Versuch beobachtet werden,
so etwas wie ein einheitliches Paradigma (im Sinn des Konzepts von Thomas
Kuhn) zu identifizieren bzw. zu entwickeln. Gesucht wird ein Forschungsprogramm, das einen Rahmen für ähnliche
Fragestellungen und die Verwendung
ähnlicher Methoden hergibt.
Hoffnungen werden da vor allem in
die mathematische Netzwerktheorie gesetzt. Aber viele praktische Anwendungen der sozialen Netzwerkforschung arbeiten durchaus auch mit qualitativen
Methoden – von paradigmatischer Geschlossenheitistbishernochrelativ wenig
zu sehen. Pointiert formuliert: Das große
Interesse an und die Faszination der Netzwerkanalyse können durch den Entwicklungsstand dieser Forschung m. E. nicht
ausreichend erklärt werden.
Gesellschaftliche
Verwendungen
Nutzung im Rahmen alltagspraktischer Beschreibungen
Ein zweiter Zugang zum besseren Verständnis der Faszination des Konzepts
Netzwerk bezieht sich auf unseren alltagspraktischen Umgang.
Die kaum zu überschätzende gesellschaftliche Bedeutung der technischen
Vernetzung unseres Lebens über das Internet ist hier sicher ein relevanter Faktor.
Kaum eine andere technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat das
private und berufliche Leben in vielen
Bereichen so massiv verändert wie diese
vielfältigen realen und virtuellen Vernet-
zungen. Das soziale Netzwerken wird als
eine ganz zentrale Strategie in Beruf und
Privatleben eingesetzt und scheint immer
mehr Zeit und Ressourcen zu konsumieren. Wenn wir genauer hinsehen, wie in
dieser Beschreibung unserer Lebenspraxis die Begriffe Netzwerk, mit Netzwerken zu arbeiten, vernetzen etc. verwendet werden, so wird deutlich, dass diese Konzepte meist nicht streng entsprechend den formalen Modellen, sondern
eher in einem metaphorischen Sinn verwendet werden.
Nutzung als Planungs- und
Entwicklungskonzept
Eine weitere Linie in der praktischen Verwendung von Netzwerkkonzepten lässt
sich im Management, in der Politik und
in der Verwaltung und auch in den darauf
bezogenen angewandten Wissenschaften
identifizieren. Dort haben sich Netzwerke als Analyse-, Planungs- und Entwicklungskonzept bewährt.
Es scheint, dass gerade im Kontext
von Organisationen und Bürokratien das
Denken und Handeln unter Nutzung von
Netzwerkkonzepten attraktiv ist.
Die Arbeit mit Netzwerken ermöglicht es, starre Kopplungen aufzulösen.
Dinge, die man sonst nur über organisationales Wachstum lösen kann (mit allen
Folgewirkungen wie hohem Mitteleinsatz, starken Bindungswirkungen), lassen sich so deutlich flexibler handhaben.
Starre rechtliche oder organisationale Regulierungen können durch die Nutzung
von Netzwerkstrategien umgangen werden und damit kann es zu einer Deregulierung und Autonomisierung bestimmter Teilprozesse kommen. Diese
Beschreibung liest sich für viele wie ein
Auszug aus dem Sündenregister des Neoliberalismus – aber mit Netzwerken soll
es auch zur Reintegration ansonsten vereinzelter Akteure, zu verstärkter Kooperation statt der Konkurrenz aller gegen
alle, zur Nutzung von Synergien etc. kommen.
Netzwerke sozialer Beziehungen
als soziales Kapital
Soziale Netzwerke im Sinn von Beziehungen zu anderen, möglichst wichtigen, ein-
flussreichen, mächtigen Akteuren werden z. B. vom französischen Soziologen
Pierre Bourdieu als soziales Kapital verstanden, das einen wesentlichen Teil unseres Reichtums ausmachen kann (und
ein Mangel eine wichtige Dimension von
Armut und ein wesentliches Risiko für
Gesundheit!).
Ähnlich positiv sind auch die Assoziationen, die die Vorstellung eines (durch
rechtliche Regelungen und Ansprüche)
eng geknüpften sozialen Netzes auslöst,
das in schwierigen Lebenslagen Sicherheit bietet und einen tiefen Absturz verhindert, ohne in die Enge der starren
Eingebundenheit in traditionelle Strukturen persönlicher Abhängigkeiten zurückzuführen. Gerade wenn es im Kontext dieser Tagung um Gesundheit und
Sicherheit von Kindern und Jugendlichen
geht, ist das wohl eines der erwünschten
positiven Ergebnisse des Netzwerkens.
Netzwerke als parasitäre
Strukturen – die dunkle Seite
Die Netzwerkmetaphorik ist aber noch
vielfältiger und die Konzepte von Netzwerk und Netzwerken verweisen auch auf
soziale Strukturen, die wir oft auch als
pathologisch wahrnehmen können. Boris Holzer hat das 2006 als „Netzwerk mit
Nebenwirkungen“ bezeichnet. Informelle, klandestine Netzwerke korrumpieren
das Funktionieren von Märkten, rechtsoder wohlfahrtsstaatlichen Institutionen.
Seilschaften, die objektivierte Auswahlprozesse nach rationalen, am Gemeinwohl orientierten Kriterien unterlaufen,
mit möglicherweise mafiösen Strukturen; alles das kann mit Netzwerkbegriffen
bzw. im Rahmen von Netzwerkanalysen
beschrieben werden.
Theoretische Perspektiven
Soziologen stellt sich die in ihrer Disziplin sehr relevante Frage, wie Netzwerke in ein theoretisches Verständnis
der grundsätzlichen Strukturen und Dynamiken unserer Gegenwartsgesellschaft
eingeordnet werden können. In der klassischen systemtheoretischen Perspektive
werden Funktionssysteme und Organisationen als jene Systemtypen verstanden,
die sich in der Evolution unserer globali-
sierten Gegenwartsgesellschaft als zentral
durchgesetzt haben.
Funktionssysteme beobachten die
Welt bzw. organisieren die Kommunikation jeweils nach einer bestimmten
Unterscheidung – die Wirtschaft nach
zahlungsfähig sein oder nicht, die Politik
nach Regierung oder Opposition sein,
die Wissenschaft nach wahr oder falsch
sein etc.
Diese Systeme steigern ihr Auflösungsvermögen für diese Grundunterscheidungen; sie versuchen, die ganze
Welt unter dieser Perspektive zu sehen,
und lösen dabei eine starke Dynamik aus.
In der Krankenbehandlung können wir
dies beobachten als Krankheitsinflation,
Kostenexplosion, als Medikalisierung,
auch dass immer mehr als behandelbar, immer mehr als (gesundheitlich)
optimierbar verstanden wird.
erzeugt potenziell
»eineOffenheit
enorme Dynamik
Wichtig in diesem Zusammenhang ist,
dass das Grundprinzip funktionaler Differenzierung ein universalistisches ist.
Alle sind prinzipiell eingeladen und aufgefordert, teilzunehmen an dieser Entwicklung, an dieser Kommunikation,
aber es ist ein völlig offenes Differenzierungsprinzip. Diese Offenheit erzeugt
potenziell eine enorme Dynamik und es
scheint, als könnte das die Gesellschaft
auch komplett überfordern.
Die Gesellschaft löst dieses Problem
über andere soziale Formen, die nach
Prinzipien funktionieren, die diese Offenheit und Dynamik begrenzen und
bremsen können und eine Form bieten,
in der auch Konkurrenz und Widersprüche zwischen den unterschiedlichen
Funktionssystemen besser handhabbar werden. Aus der Perspektive einer
systemtheoretischen Soziologie dürfte
das vor allem der Typus der formalen
Organisation sein. Im Unterschied zu
Funktionssystemen sind Organisationen
prinzipiell geschlossen, sie haben klare
Grenzen, klare Mitgliedschaftskriterien
und formalisierte Kommunikationsstrukturen und sind in aller Regel auch
hierarchisch strukturiert (was für koor-
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Zusammenfassung · Abstract
dinierte kollektive Handlungsfähigkeit
– „agency“ – wichtig ist!).
Netzwerke sind mangels stra»tegischer
Spitze üblicherweise
nicht kollektiv handlungsfähig
Netzwerke sind in dieser Hinsicht einerseits funktional durchaus ähnlich zu Organisationen; man kann sie dabei als in
vieler Hinsicht offener, flexibler wahrnehmen. Sie haben häufig keine so klaren
Grenzen, können prinzipiell auch globalisiert sein und sind in der Regel nicht
hierarchisiert – das klingt sympathisch,
aber heißt auch, dass Netzwerke mangels
strategischer Spitze üblicherweise nicht
kollektiv handlungsfähig sind.
Netzwerke unterscheiden sich auch
in anderer Hinsicht von Organisationen:
Sie funktionieren primär auf der Basis
von direkten Beziehungen, in der Regel
auf der Basis von Austauschbeziehungen zwischen konkreten Akteuren: Vertrauen, Reziprozität, Gegenseitigkeit sind
meist wichtige Prinzipien. Solche Beziehungen müssen aber gepflegt werden und
beinhalten in der Regel auch einen Aspekt
von oft persönlichen Abhängigkeiten.
Alles das sind eigentlich Elemente,
die – im Gegensatz zum in der Evolution der Gegenwartsgesellschaft sehr
wichtigen Universalismus – in der Regel
sehr partikularistisch sind. D. h. ich habe
zu manchen Personen ein Vertrauensverhältnis (aufgrund von Erfahrungen),
aber zu anderen nicht unbedingt, manche andere sind mir verpflichtet, andere
nicht etc. Das heißt, ich werde mit manchen Personen interagieren, unabhängig
davon, ob diese vielleicht objektiv besser oder schlechter qualifiziert sind, und
mit anderen werde ich dies wiederum
nicht tun. Das sind Spannungsverhältnisse zu den universalistischen Prinzipien
z. B. des Rechts, der Demokratie, der wissenschaftlichen Wahrheitssuche etc., die
jedenfalls die Soziologie interessieren.
Netzwerkanalyse als universelles
Modell?
Wie schon oben angesprochen: Das Konzept Netzwerk wird sowohl im naturwissenschaftlich-technischen Bereich als
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© Der/die Autor(en) 2017. Dieser Artikel ist eine Open-Access-Publikation.
K. Krajic
Netzwerke überall? Anmerkungen zum wissenschaftlichen und
praktischen Gebrauch von Netzwerk und Netzwerkanalyse
Zusammenfassung
Der Begriff Netzwerk hat in der Gegenwartsgesellschaft Konjunktur: In
Alltagskommunikationen (real und virtuell
in den sozialen Netzwerken) und auch in
vielen unterschiedlichen politischen und
wirtschaftlichen Kontexten. Auch in der
Wissenschaft sind Netzwerke angekommen
– als Netzwerkanalysen oder sogar als
Netzwerktheorie. Der Beitrag versucht zu
zeigen, ob und wie ein wissenschaftlich
informiertes Konzept von Netzwerkanalyse
und Netzwerkorganisationen als Entwicklungsperspektive für eine verbesserte soziale
Unterstützung und professionelle Versorgung
von erkrankten Kindern und Jugendlichen
nützlich sein können.
Schlüsselwörter
Netzwerktheorie · Netzwerkanalyse ·
Systemtheorie · Soziale Unterstützung ·
Integrierte Versorgung
Networks everywhere? Some comments on the scientific and
practical use of networks and network analysis
Abstract
The concept of network is highly topical in
today’s society: in everyday life (both real and
virtually in the social networks) and in a wide
range of political and business contexts.
Networks have also reached the field of
science – in the form of network analysis or
even network theory. The paper attempts
to show whether and how the scientifically
well-founded concepts of network analysis
auch in den Sozialwissenschaften verwendet. Ganz exemplarisch: In der Naturwissenschaft bzw. Technik geht es z. B.
um Netzwerke in Energiesystemen und
die Informatik ist eine Netzwerkwissenschaft par excellence.
Aus meiner eigenen disziplinären
Perspektive und auch im Kontext der
Fragestellungen und Zielsetzungen dieser Tagung sind natürlich die sozialwissenschaftlichen Anwendungen von
besonderem Interesse. Aber welchen
Status, welche Bedeutung hat der Netzwerkbegriff, hat die Netzwerkanalyse in
der Gegenwartswissenschaft? Dazu wird
im nächsten Abschnitt diskutiert, ob die
Orientierung an Netzwerken ein neues
wissenschaftliches Paradigma darstellt.
and network organisations could be useful in
developing new perspectives for improving
the social support and professional care of
sick children and adolescents.
Keywords
Theory of networks · Network analysis ·
Systems theory · Social support · Integrated
care
Netzwerkanalyse als neues
Paradigma?
Stellt das Netzwerkkonzept ein neues wissenschaftliches Paradigma dar (im Verständnis von Thomas Kuhn)? Zumindest im Handbuch der Netzwerkanalyse
werden solche Ansprüche formuliert [3].
Weitgehend konsensfähig scheint in der
Sozialwissenschaft (außer in sehr fundamentalistischen Kontexten) zu sein, dass
es soziale Phänomene wie Systeme und
Netzwerke tatsächlich gibt [4] und sich
diese sozialen Phänomene auch unterscheiden, beschreiben und vergleichen
lassen.
Kritisch diskutiert wird jedoch, ob
Netzwerktheorie und Netzwerkanalyse
tatsächlich Teile eines integrierten, konsistenten Wissenschaftsprogramms sind,
das grundsätzliche Fragen, Methoden
und Plausibilitätsbedingungen struktu-
riert – alternativ oder komplementär zu
anderen Paradigmen.
Konzepte und Methoden
Das Netzwerkprogramm
»verspricht
ein Fokussieren auf
Weitgehend konsensfähig scheintzu sein,
dass es ein bestimmtes Repertoire von
Konzepten und Methoden der Netzwerkanalyse gibt. Zentral in den meisten Ansätzen der Analyse von Netzwerken ist
ein starkes Interesse an Strukturen; weitere zentrale Konzepte sind dann Knoten
und Kanten, Muster (wie Verdichtungen,
starke und schwache Knoten, strukturelle Löcher), Richtungen und Stärke von
Beziehungen etc.
In der Analyse von (sozialen) Netzwerken können Akteure (Individuen
oder kollektive Akteure wie Organisationen) als Knoten von Netzwerken und
Beziehungen zwischen diesen Akteuren
als Kanten verstanden bzw. dargestellt
werden.
Die (soziale) Netzwerkanalyse lenkt
unsere Aufmerksamkeit darauf, dass
starke und schwache Beziehungen unterschiedliche Leistungen ermöglichen
oder aber auch erschweren. Quantitative
Analysen von Beziehungsnetzwerken
weisen uns auf mögliche Ursachen oder
Mechanismen sozialer Ungleichheit hin
– und erzeugen dann rasch Fragen, ob
mehr immer besser ist, was Qualität
bzw. Leistungsfähigkeit von Beziehungen ausmachen könnte und wie das
differenzierter erheb- bzw. analysierbar
wäre.
Eine Reihe von (formalen) Methoden
werden dem zentralen Kanon von Netzwerkanalysen zugerechnet, die im Rahmen dieses Beitrags nicht im Einzelnen
diskutiert werden können:
4 Beziehungsmatrix
4 Graphentheorie
4 Zentralitäts- und Prestigemaße
4 Dyaden/Triaden
4 Cliquen und andere Teilgruppen
4 Positionale Analysen
4 Egozentrierte Netzwerke
4 Sozialwissenschaftliche Datenerhebung: qualitativ/quantitativ, „mixed
methods“
4 Statistische Analysen
Beziehungen
In der Soziologie wird z. B. gefragt, ob die
Netzwerktheorie eine ernsthafte Alternative z. B. zur Systemtheorie oder zu Rational-choice-Ansätzen ist. Was das Netzwerkanalyseprogramm jedenfalls in der
Soziologie als Vorzug verspricht, ist –
um ein Beispiel zu geben – eine größere Nähe der Beobachtungsperspektive
zu den sozialen Prozessen und eine größere Distanz zur verbreiteten individualistischen, häufig sozial-psychologischen
Verkürzung des Sozialen. Das heißt: Das
Netzwerkprogramm, die relationale Soziologie, verspricht ein Fokussieren auf
Beziehungen und nicht auf einzelne Akteure und Individuen, und es ist auch ein
Konzept, das gegenüber großen gesellschaftstheoretischen Abstraktionen und
deren Metaphorik sehr distanziert bleibt.
Boris Holzer als Systemtheoretiker ist
diesem Anspruch gegenüber etwas skeptischer und fragt deshalb, was das Gemeinsame in der Netzwerkanalyse tatsächlich ist, ob sich da so etwas wie
ein gemeinsames Forschungsprogramm
herausschält. In seinem 2006 veröffentlichen Buch stellt Holzer Fragen wie: Welche Phänomene nimmt die Netzwerkanalyse theoretisch in den Blick? Welche Analysemethoden werden tatsächlich eingesetzt; was ist praktische Netzwerkforschung? Welche spezifischen Erklärungsmodelle werdenentwickelt? Was
könnte dann die Netzwerktheorie sein,
auf die das Ganze zusteuert?
Insgesamt war Holzer (2006) eher
skeptisch in Bezug auf den Entwicklungsstand einer allgemeinen Theorie
der Netzwerke – und auch skeptisch,
ob es sie in Zukunft geben wird; die
Diskussion läuft aber weiter (vgl. als vertiefende Literatur verschiedene Beiträge
in Sammelbänden, z. B [3, 5]; ein neuer
Band Stegbauer und Holzer soll noch
2017 erscheinen [6]).
Diese Modelle bzw. Methoden unterscheiden sich erheblich in Komplexität
und leichter Nachvollziehbarkeit. Ein
häufig angewendetes und gut nachvollziehbares Modell sind z. B. Analysen
in Form von egozentrierten Netzwerken. Diese ermöglichen einerseits die
Komplexität von sozialen Feldern gut zu
verdeutlichen und eignen sich trotzdem
gut als Analyse-, Planungs- und Entwicklungskonzepte (z. B. zum Einsatz
in der Planung eines Versorgungsnetzes
für komplexe gesundheitliche und soziale Probleme bei der Versorgung von
schwer erkrankten alten Menschen im
häuslichen Umfeld; [7]).
Anwendungsbereiche in der
Sozialwissenschaft
Netzwerkanalysen werden in einer Vielzahl von Bereichen eingesetzt. Wenn man
das Handbuch der Netzwerkanalyse zur
Hand nimmt, so ergibt sich folgende Liste
[3]:
4 Wirtschaft und Organisation
4 Politik und Soziales
4 Wissenschaft, Technik und Innovation
4 Geschichtswissenschaft
4 Geographie
4 Raum- und Verkehrsplanung
4 Psyche und Kognition
Schauen wir in der gleichen Quelle spezifisch auf den Bereich Politik und Soziales, so gibt es eine ganze Reihe von
Forschungsfeldern, in denen Netzwerkanalysen zum Einsatz kommen:
4 Soziale Unterstützungsnetzwerke
4 Familienerweiterung, Familienersatz
4 Arbeitslosigkeit und soziales Netzwerk
4 Soziale Netzwerke im Gesundheitsbereich
4 Netzwerke in der Versorgung, Selbsthilfe etc.
4 Soziale Netzwerke und Kriminalität
4 Soziale Bewegungen und die Bedeutung von Netzwerken
4 Netzwerke in der Erziehungswissenschaft
Für die Zielsetzungen dieser Tagung relevant sind zunächst sicher soziale Unterstützungsnetzwerke im Sinn von Familienerweiterung und Familienersatz. Auch
das Thema Arbeitslosigkeit und soziales
Netzwerk (Arbeitslosigkeit als Risiko für
das soziale Netzwerk) kann relevant sein,
Pädiatrie & Pädologie · Suppl 1 · 2017
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Leitthema
und natürlich soziale Netzwerke im Gesundheitsbereich.
Netzwerkanalyse im Gesundheitsbereich
Kardorff [8] hat in seinem Handbuchartikel zur Netzwerkanalyse im Gesundheitsbereich und in der Rehabilitation
zusammengefasst, dass es in diesem Bereich sehr hohe Erwartungen an Vernetzung als Analyse- und vor allem auch
als praktische Lösungsstrategie gibt. Er
identifiziert folgende Bereiche, in denen
Erwartungen an das Denken und Handeln unter Berücksichtigung einer Netzwerkperspektive formuliert sind:
4 Stärkung familialer/informeller
Ressourcen
4 Emergenz von Selbsthilfe/
zivilgesellschaftlichem Engagement
4 Überbrückung von Schnittstellen im
Versorgungssystem – Synergieeffekte,
Kosteneinsparungen
4 Entwicklung von Pflegenetzwerken
4 Soziale Unterstützungsnetzwerke
bei chronischer Krankheit und
Pflegebedürftigkeit
4 Ressourcenentwicklung für Gesundheitsförderung, Rehabilitation
Kardorff [8] liefert des Weiteren einen
Überblick über Bereiche, in denen mit
einer Netzwerkanalyseperspektive konkrete Forschungsarbeiten durchgeführt
wurden. Die 5 Bereiche der Forschung,
in denen geforscht wird, sind
1. Soziale Unterstützung bei chronischer Krankheit, Behinderung und
Pflegebedürftigkeit;
2. Soziales Kapital und Ressourcen
für Gesundheitsförderung und
Rehabilitation;
3. Selbsthilfe und Selbstorganisation als
bürgerschaftliches Engagement;
4. Information, Kommunikation und
Vernetzung im Internet;
5. Koordination, Kooperation und
Vernetzung im Versorgungssystem.
Die folgenden zwei Beispiele sollen nachvollziehbarer machen, was man mit einer
Netzwerkanalyse sehen kann.
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Das erste Beispiel bezieht sich auf Thema 1 – die soziale Unterstützung bei chronischer Krankheit.
Kardorff weist darauf hin, dass das
Grundmodell für die Versorgung die
intra- und intergenerationale Unterstützung durch Angehörige, durch die
Kernfamilie ist. In Bezug darauf kann
man mit einer Netzwerkperspektive
sehen, dass das Modell auf einer normativen Ebene sehr stabil ist – dass sich
z. B. Partner um einander, Eltern um ihre
Kinder, Kinder um ihre Eltern kümmern
und den zentralen Unterstützungspart
spielen sollen – das entspricht den
Erwartungen großer Mehrheiten. Netzwerkanalytisch kann man sehen, dass
„strong ties“ mit starkem, auch sozial
massiv sanktioniertem Verpflichtungscharakter, sehr tragfähig sein können.
Wenn die Belastungen aber längere Zeit
anhalten, kann sich das aber häufig als
prekär erweisen. Unter anderem, weil
sich die sozialen Unterstützungsnetzwerke der Kernfamilien (Verwandte,
Freunde, etc.) häufig als wenig tragfähig
erweisen und rasch ausdünnen, bis zur
sozialen Isolation. Teilhabechancen (z. B.
am Arbeitsmarkt) können durch Versorgungsaufgaben massiv eingeschränkt
werden, und die Betroffenen haben unter
Umständen auch eine fatale Tendenz zur
Selbstexklusion bzw. zur Orientierung an
Sonderstrukturen. Solche Entwicklungen sind im Bereich der Altenbetreuung
(pflegende Angehörige) gut bekannt
und es kann angenommen werden, dass
das im Bereich Kinder wohl strukturell
ähnlich verlaufen kann.
Ein zweites Beispiel, das ebenfalls
relevant für das Thema dieser Tagung
ist, bezieht sich auf Koordination, Kooperation und Vernetzung im Versorgungssystem – gerade im Fall komplexer
Versorgungsbedürfnisse und limitierter Selbstversorgungsfähigkeiten. Das
Beispiel ist ein Pilotprojekt zur Organisation komplexer Versorgungsleistungen
für alte Menschen in akuten Krankheitsphasen zu Hause (Projekt Ganzheitliche
Hauskrankenpflege des Wiener Roten
Kreuzes, vgl. [7]).
Bei diesem Pilotprojekt wurde schon
vor 20 Jahren sehr gut sichtbar, dass bei
Bedarf an komplexen Versorgungsleistungen in (relativ) akuten Situationen
mit potenziell schwerwiegenden Folgen
eine nur lose, eher unverbindliche Vernetzung der Versorger hoch problematisch sein kann. Dann bedarf es eines
verlässlichen Systems, in dem die Kooperation von potenziell unabhängigen
Akteuren durch eine zumindest teilweise
und temporär formalisierte „Netzwerkorganisation“ koordiniert wird.
Fragestellungen in der Analyse des
Projekts waren unter anderem:
4 Kann die Betreuung von Menschen
mit komplexem und akutem Versorgungsbedarf primär auf Basis loser,
netzwerkförmiger Kooperationsbeziehungen gesichert werden?
4 Wie wird Verbindlichkeit hergestellt,
damit verlässlich, rasch, umfassend
und qualitätsvoll auf (veränderte)
Bedürfnisse reagiert wird?
4 Wieviel (und welche) Organisation
braucht es, damit die Bereitschaft
entsteht, diese Verantwortung zu
übernehmen, und nicht z. B. an
Krankenhäuser zu delegieren?
4 Handelt es sich dann noch um
Netzwerke oder schon um formale
Organisationen – oder um Hybride,
die sich als Netzwerkorganisation
beschreiben lassen?
4 Was bewährt sich, um Netzwerkorganisationen zu stabilisieren?
j
Formale Mitgliedschaft – (einklagbare) Verträge?
j
Unterstützende Dienstleistungen
(z. B. professionelles Case- und
Care-Management)
j
Persönliche (reziproke) Verpflichtung aller wichtigen Akteure –
(moralisch) sanktioniert?
j
Hohe finanzielle oder ähnliche
Anreize
Zusammenfassung
Die Konzepte Netzwerk bzw. Netzwerkanalyse werden im Gesundheits- und Sozialbereich häufig verwendet, allerdings
viel häufiger in einer metaphorischen
Weise bzw. einer praktisch-angewandten Perspektive als in einem strengen,
wissenschaftlich kontrollierten Sinn.
Die Konjunktur der metaphorischen
Verwendung hat wahrscheinlich mit der
generellen Konjunktur des Netzwerkbegriffs im Zusammenhang mit der Ent-
wicklung des Internets zu tun (so Baecker [5]) und lässt sich aus der Perspektive dieses Autors auch als Indikator für
starke Bedürfnisse nach Verbindung, Zusammenhalt, Sicherheit in einer globalen
Konkurrenzgesellschaft verstehen.
In praktisch-angewandter Perspektive ist die Forcierung von Netzwerken
auch als Strategie verständlich, flexibel
mit (zu) starren Organisationsgrenzen
umzugehen, mit Flexibilisierung von Regeln bezüglich Mitgliedschaft und etablierten Regulierungen von Kommunikations- und Arbeitsprozessen, die bei
der Erprobung neuer Zwecksetzungen
und der Entwicklung neuer, innovativer
Lösungen Vorteile versprechen. Häufig
handelt es sich bei den Netzwerken aber
um partiell bzw. temporär organisierte
soziale Gebilde, die versuchen, Stärken
der unterschiedlichen sozialen Formen
von Organisation und Netzwerk miteinander zu verbinden.
Deutlich seltener werden Netzwerkkonzepte ineinem strengenwissenschaftlichen Sinn eingesetzt. Ob es sich bei
der Netzwerktheorie um ein neues Paradigma der Wissenschaft handelt, scheint
nach den Diskussionen der letzten 25 Jahre immer noch fragwürdig. Aber auch
aus kritischer Perspektive wird attestiert,
dass es sich um reale und gesellschaftlich relevante soziale Phänomene handelt. Dass es sich bei der Netzwerkanalyse
um einenspezifischenPool vonFragestellungen, Modellen und Methoden handelt, die Phänomene ins Blickfeld nehmen können, die mit anderen Modellen
nicht leicht ins Blickfeld kommen und
dortnichtleichtanalysierbarsind, scheint
mittlerweile aber weitgehend konsensfähig.
Als Beispiel für die zunehmende Akzeptanz der wissenschaftlichen Relevanz
in der Soziologie soll auf eine aktuelle
Arbeit von Rudolf Stichweh verwiesen
werden, der systemtheoretische Theorieentwicklung und Forschung in der Nachfolge nach Niklas Luhmann weitertreibt.
Stichweh [9] identifiziert neben den
Funktionssystemen, formalen Organisationen, epistemischen Gemeinschaften
und globalisierten Interaktionssystemen
auch globale Netzwerke mit der Charakteristik von „small world networks“
als einen grundsätzlichen Strukturtyp
unser Weltgesellschaft.
Korrespondenzadresse
Priv.Doz. Dr. K. Krajic
Institut für Soziologie,
Universität Wien
Rooseveltplatz 2, 1090 Wien,
Österreich
karl.krajic@univie.ac.at
© Karl Krajic
PD Dr. Karl Krajic Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Habilitation für das Fach Soziologie; Privatdozent an der Fakultät für Sozialwissenschaften
der Universität Wien; aktuell Lehrbeauftragter an
der KLPU Krems, FFH Ferdinand Porsche, FH Kärnten.
Forschung im Bereich Gesundheits- und Medizinsoziologie, 1979–2014 Forscher im Rahmen der Ludwig
Boltzmann Gesellschaft, seit 2015 Projektleiter an der
Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt FORBA, 1020 Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte:
Gesundheit und Gesundheitsförderung in Organisationskontexten (Schwerpunkte Arbeitsplatz und
Altenbetreuung).
5. Holzer B, Schmidt J (2009) Theorie der Netzwerke oder Netzwerk-Theorie? Soziale Systeme
15(2):227–242
6. Holzer B, Stegbauer C (2017) Schlüsselwerke
der Netzwerkforschung. VS, Wiesbaden (in
Vorbereitung)
7. Grundböck A, Krajic K, Stricker S, Pelikan JM
(1998) Ganzheitliche Hauskrankenpflege – ein
Modellprojekt des Wiener Roten Kreuzes. In:
Pelikan JM, Stacher A, Grundböck A, Krajic
K (Hrsg) Virtuelles Krankenhaus zu Hause –
Entwicklung und Qualität von Ganzheitlicher
Hauskrankenpflege. Facultas, Wien, S 91–113
8. von Kardorff E (2010) Soziale Netzwerke in
der Rehabilitation und im Gesundheitswesen.
In: Stegbauer C, Häußling R (Hrsg) Handbuch
Netzwerkforschung. VS, Wiesbaden, S 715–724
9. Stichweh R (2017) Weltgesellschaft. In: Kühnhardt L, Mayer T (Hrsg) Bonner Enzyklopädie
der Globalität, Bd. 1. SpringerVS, Wiesbaden,
S 549–560
Acknowledgements. Open access funding provided by University of Vienna.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. K. Krajic gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren
durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen
vorgenommen wurden.
Literatur
1. Krajic K, Dietscher C, Pelikan J (2017) Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention –
soziologisch beobachtet. In: Jungbauer-Gans M,
Kriwy P (Hrsg) Handbuch Gesundheitssoziologie.
Springer, Wiesbaden, S 1–31 doi:10.1007/978-3658-06477-8_10-1
2. Holzer B (2006) Netzwerke. transcript, Bielefeld
3. Stegbauer C, Häußling R (Hrsg) (2010) Handbuch
Netzwerkforschung. VS, Wiesbaden
4. Tacke V (2009) Differenzierung und/oder Vernetzung? Über Spannungen, Annäherungspotentiale
und systemtheoretische Fortsetzungsmöglichkeiten der Netzwerkdiskussion. Soziale Systeme
15(2):243–270
Pädiatrie & Pädologie · Suppl 1 · 2017
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