Wer die Badmintonhalle dieser Olympischen Spiele betritt, glaubt nicht, nur ein paar Kilometer aus dem Pariser Zentrum in den Norden gereist zu sein. Die Zuschauer wedeln mit chinesischen Flaggen, mit japanischen, koreanischen, indischen und thailändischen. Man könnte sich irgendwo in Asien wähnen. Wäre da nicht dieses doch auch sehr präsente weiße Kreuz auf rotem Grund. Ist das Dänemark? Ja, Dänemark!

Das kleine Land zwischen Ost- und Nordsee ist ein Badmintonland. Seit der Sport 1992 olympisch wurde, wurden 25 Medaillen im Herreneinzel vergeben. Nur vier davon, zwei davon Goldene, wurden von Europäern gewonnen – alle von Dänen. Am Montag könnte eine Dritte hinzukommen, im Einzelfinale (ab 15.40 Uhr) steht Viktor Axelsen, Dänemarks Superstar. Ein zweiter Däne, Anders Antonsen, hatte es immerhin ins Viertelfinale geschafft. Das Männerdoppel verlor nur knapp im Spiel um Platz drei gegen Malaysia. Nicht schlecht für ein Land, das es mit sechs Millionen Einwohnern nicht einmal in die Liste der 50 größten Städte Chinas schaffen würde. Die Dänen sind so etwas wie die Gallier des Federballs.

Warum ist Dänemark so gut im Badminton? "Das ist eine sehr große Frage", sagt Viktor Axelsen verschwitzt. Gerade hat er sein Viertelfinale gegen Lew Kean Loh aus Singapur klar in zwei Sätzen gewonnen. Er muss schnell weiter, sonst kühlt er aus, er hat ja noch was vor. Bevor er verschwindet, fasst er in 15 Sekunden zusammen, worum es geht: "Wir haben ein sehr gutes Ökosystem mit vielen guten Vereinen, wir haben sehr gute Trainer und viele Spieler, die gut unterwegs sind. Also haben wir eine sehr gute Nahrungskette."

Jens Meibom kann diese große Frage etwas ausführlicher beantworten, er hat auch mehr Zeit. Der Direktor Spitzensport des dänischen Badmintonverbands redet dann über Tradition, Klima und Infrastruktur. Vor allem aber darüber, dass sich da ein Sport tief in die Kultur eines Landes eingegraben hat. Und wenn er dort erst einmal ist, geht vieles fast von selbst.

"Es gab immer Vorbilder", sagt Meibom. Dänemark hatte schon vor Jahrzehnten erste Badmintonstars. Ein gewisser Flemming Delfs gewann 1977 das erste Herreneinzel bei einer WM, es folgten 1983 Steen Fladberg und Jesper Helledie im Doppel und 1997 Peter Rasmussen erneut im Einzel. Ein Jahr zuvor wurde Poul-Erik Høyer Larsen Olympiasieger. Namen, die dem deutschen Leser wenig sagen, in Dänemark waren sie Idole, denen wiederum jüngere Spieler nacheiferten. So geht es immer weiter, bis heute.

Mittlerweile hat jede Kleinstadt eine Halle, in der im Winter Handball und Badminton gespielt wird. "Es ist wichtig, ein beschissenes Klima zu haben", sagt Meibom. Das würde die Outdoor-Alternativen für Sportinteressierte beschränken. Vor etwa 30 Jahren wurde ein nationales Trainingszentrum gebaut. Weil Badminton im Gegensatz zum Schwimmen oder zur Leichtathletik nur mit einem Gegner funktioniert, machte es Sinn, die Landesbesten zusammenzuziehen und regelmäßig gegen- und am Ende auch miteinander üben zu lassen. Der Kern des dänischen Badmintonwunders aber seien die vielen kleinen Vereine auf lokaler Ebene, die von Ehrenamtlichen geführt werden. "Es ist einfach sehr leicht, in Dänemark mit dem Spielen anzufangen", sagt Meibom.

Der Superstar ist ein Däne

67 Medaillen gewannen dänische Badmintonspieler seit der ersten WM 1977. Nur China, Indonesien und Südkorea waren besser. Der aktuelle Superstar des Sports heißt Viktor Axelsen. Der wurde bereits in Tokio 2021 Olympiasieger. In seiner Heimat erkennt ihn auf der Straße jedes Kind. Und nicht nur dort. Auf Instagram folgen ihm mehr als eine Million Menschen, die meisten kommen aus Asien. In einem seiner beliebtesten Beiträge spielt er in der chinesischen Millionenstadt Shenzhen eine Runde mit Kindern. Für seine vielen Fans dort hat Axelsen vor einigen Jahren auch Mandarin gelernt. Die Sponsoren aus China freut es.

In Deutschland ist Badminton auch während der Olympischen Spiele kaum im deutschen Fernsehen zu sehen. In Asien aber gehört die sportliche Variante des Federballs, in dessen Spielgerät bis 2021 noch echte Gänsefedern steckten, ehe sie durch synthetische ersetzt wurden, regelmäßig zu den quotenstärksten Olympiaevents. 700 Millionen Badmintonfans soll es auf der Welt geben. Kein Wunder, Badminton gilt als schnellste Sportart der Welt. Der malaysische Profi Tan Boon Heong hat in einem Geschwindigkeitstest einen Federball mit 493 Kilometern pro Stunde geschmettert. Damit steht er im Guinness-Buch der Rekorde. Zwar bremst der Ball, unmittelbar nachdem er getroffen wurde, durch die Federn schnell ab, sodass er wesentlich langsamer beim Gegner ankommt, aber Rekord ist Rekord.

Viktor Axelsen ist 1,90 Meter groß und galt lange als viel zu groß für einen Badmintonspieler. Doch in der Offensive profitiert Axelsen von einer Größe. Er ist der wohl beste Angriffsspieler der Welt, weil er durch seine Höhe mehr Bälle erreicht und in besseren Winkeln schlagen kann. Seine Sprungangriffsschläge sind ein Ereignis. Aber in der Defensive kann Größe ein Nachteil sein. "Zu Beginn war das seine Schwäche", sagt Jens Meibom.

"Kultur kann man nicht kopieren"

Beim Badminton kommt es eher auf Beweglichkeit als Kraft an. Der Ball ist durchschnittlich länger im Spiel als bei anderen Rückschlagsportarten wie Tennis oder Tischtennis. Die Spieler sind fast immer in Bewegung, mal kommt der Ball kurz, mal lang, mal hoch, mal tiefer, mal nur übers Netz gelupft, mal an die Grundlinie geschmettert. Die Spieler müssen ihre Position je nach Schlag immer wieder justieren und sich im Feld positionieren – eine kaum fassbare Beinarbeit. Ein Spiel wie ein Tanz. "Es war viel Training nötig, ehe Viktor seinen langen Körper so beherrschen und drehen konnte, wie jetzt", sagt Meibom. Weil er defensiv so gut geworden ist, gehöre er zu den besten der Welt, nicht wegen seiner Angriffsschläge.

Jens Meibom wird auch immer wieder gefragt, was andere Länder von Dänemark lernen können. Ob man das System nicht einfach kopieren könne. Theoretisch schon, denkt er dann und lädt auch alle Interessierten ins Leistungszentrum ein. Er sagt aber auch, dass es weniger um die Dinge geht, die man sieht, und mehr um das, was im Kopf ist. Denn: "Kultur kann man nicht kopieren."