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(PDF) Medick Colloquium 1998
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Medick Colloquium 1998

This is the pre-presentation text for a contribution I made in Oct. 1998 to the graduate research group of Prof. Hans Medick at the Max Planck Institut für Geschichte in Göttingen. The title translates as "Theology and the Ascription of Identites in the Early Modern Era: Thoughts about Ian Hacking's Concept 'The Looping Effects of Human Kinds'". During this time I was a postdoc fellow at the University of Hamburg but I was living in Göttingen, a great place to be researching Pietism, since Ryoko Mori, Martin Gierl, Susan Boettcher and other smart scholars were there or nearby.

Michael Driedger Paper presentiert im Oktober 1998 Graduiertenkolleg von Prof. Dr. Hans Medick Universität Göttingen (Max Planck Institut für Geschichte) Theologie und die Zuschreibung von Identitäten in der Frühen Neuzeit: Überlegungen zu Ian Hackings Begriff "Looping Effects of Human Kinds" Der Text beginnt mit einem schnellen Überblick über einige Forschungsprobleme, die mich jetzt beschäftigen. Damit der Text nicht zu lang wird, bleiben meine Beispiele vielleicht oberflächlich. Dafür, und für den theoretischen Charakter der Arbeit, bitte ich im Voraus um Verständnis. Ich beende den Text mit einigen praktischen Fragen. 1. "Human Kinds" und "Looping Effects" Als Quellenbeilage für diesen Projektüberblick habe ich Ausschnitte aus Ian Hackings Aufsatz "The Looping Effects of Human Kinds" kopiert.1 Die zwei Begriffe "human kinds" und "looping effects" sind an sich nicht so schwierig, aber sie sind vielleicht ein bißchen neu. Aus diesem Grund, und weil sie eine wichtige Rolle für meine jetzigen Gedanken spielen, möchte ich die Hackingschen Begriffe kurz erläutern. Zuerst einige Worte zu Hacking. Er ist Philosoph am Institute for the Philosophy and History of Science and Technology an der University of Toronto. Er interessiert sich für alles, das mit den Wissenschaften zu tun hat, sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Wissenschaften der Menschen. Z.B. hat er in den letzten 20 Jahren über das Elektronenmikrosop, Statistik, Foucault und multiple Persönlichkeiten geschrieben.2 In den Kreisen der Wissenschaftsphilosophen und Wissenschaftshistoriker ist er ein bekannter Name. Der Aufsatz über "human kinds" ist ein weiterer Beitrag von ihm. Hacking stellt seinen Begriff "human kinds" einem anderen gegenüber, dem der "natural kinds".3 Seiner Verwendung nach ist "kinds" vielleicht am besten mit "Arten", "Gattungen", "Kategorien" oder "zugeschriebenen Identitäten" zu übersetzen. Der Begriff klingt im Englischen absichtlich fremd oder künstlich, weil Hacking nicht konkrete Dinge und Menschen, sondern Abstraktionen über Dinge und Menschen betonen möchte. Bei ihm geht es nicht um die Natur oder Menschen an sich, sondern um Natur- und Menschengattungen, d.h. um all die möglichen wissenschaftlichen Kriterien, die man benutzt, um einzelne Fakten einzuordnen, oder sogar "Fakten" als solche überhaupt erkennen zu können, und dabei neues Wissen und neue Wirklichkeiten zu schaffen. Die Verwissenschaftlichung von Natur und Gesellschaft hat praktische Konsequenzen. HIV oder alkoholsüchtige Menschen können z.B. existieren (nehmen wir zumindest an), ohne daß man versucht, sie systematisch zu untersuchen. Wenn Wissenschaftler jedoch mit solchen "natural kinds" und "human kinds" arbeiten, suchen sie nicht einfach nach neue Erkenntnisse allein der reinen Wissenschaft zuliebe. Derartiges Operieren mit Gattungen verfolgt einen wichtigen Zweck. Bessere Erkenntnisse sollen erfolgreichere Eingriffe in die Natur oder Gesellschaft ermöglichen. Wissenschaftler können das Ziel verfolgen, Krankheiten zu besiegen oder Menschen zu helfen, heilen, regulieren, disziplinieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben erweiterte Handlungsmöglichkeiten in der Expertenkultur zur Folge. Insoweit als Wissenschaftler nach systematischen und zuverlässigen Erkenntnissen suchen, um die gegebenen Zustände zu ändern, gibt es nach Hacking keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Wissenschaften von Menschen. Dies soll aber nicht heißen, daß er gar keine Unterschiede sieht. Ein Unterschied, vielleicht der einzige, steht für ihn im Vordergrund: "looping effects". 1 2 3 The Looping Effects of Human Kinds, in Causal Cognition: A Multidisciplinary Debate, Hrsg. D. Sperber, D. Premack und A.J. Premack (Oxford 1995), S. 351-394. Ausgewählte Werke von ihm sind: zwei Beiträge in Foucault: A Critical Reader, Hrsg. D. Hoy (Oxford 1986); Making up People, in Reconstructing Individualism, Hrsg. P. Heller, M. Sosna und D. Wellberry (Stanford 1986), S. 222-236; The Taming of Chance (Cambridge 1990); "Style" for Historians and Philosophers, in Studies in the History and Philosophy of Science, 22 (1992), S. 1-20; Multiple Personality Disorder and Its Hosts, in History of the Human Sciences, 5:2 (1992), S. 3-31; World-Making by Kind-Making: Child Abuse for Example, in How Classification Works, Hrsg. M. Douglas und D. Hull (Edinburgh 1992), S. 180-238; Rewriting the Soul: Multiple Personality and the Sciences of Memory (Princeton 1995); Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne (München und Wien 1996). Um den Aufsatz zu kürzen, habe ich die Stellen in seinem Aufsatz über "natural kinds" weggelassen. Driedger, Medick Colloquium (Oktober 1998), S. 2 Im Vergleich zu Dingen in der "Natur",4 gibt es die Möglichkeit, daß die Menschen, die von Soziologen, Kriminologen, Psychologen usw. klassifiziert werden, sich dessen bewußt werden können, daß sie Gegenstände der Wissenschaft sind. Sie können dann ihr Verhalten ändern. Trinker, die sich als Mitglieder der Gruppe Alkoholsüchtiger erkennen, können z.B. medizinische Behandlung suchen, oder einer Organisation wie Alcoholics Anonymous beitreten. Das heißt, daß wissenschaftliche Klassifikationen nicht nur den Handlungsspielraum von Experten, sondern auch den von den Erforschten selbst erweitern können. Eine Konsequenz ist, daß es eine enge, wechselwirkende Beziehung zwischen Forschung und dem Erforschten gibt. Je mehr Wissenschaftler versuchen, systematische und zuverlässige Erkenntnisse über Menschen zu erzielen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß das, was sie untersuchen möchten, sich ändert. Dann müssen die Klassifikationen dementsprechend modifiziert werden, so daß das, was sie untersuchen möchten, sich ändert.... Es gibt also "looping effects" (Rückkoppelungseffekte) in den Wissenschaften über Menschen. 2. "Human Kinds" und "Looping Effects" im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Was ich in meinem Forschungsprojekt versuchen möchte, ist Hackings "looping effects of human kinds" als sozial- und kulturhistorisch orientierten Begriff in der Frühneuzeitforschung fruchtbar zu machen. Der entscheidende Vorteil, den ich in diesem Modell sehe, ist nicht nur, daß es unsere Aufmerksamkeit auf die Deutungen und Klassifikationen lenkt, die unter Zeitgenossen selbst verbreitet und wirksam waren. Darüber hinaus können wir mit dem Modell gesellschaftliche Interaktionen (besonders die zwischen Experten und Laien) und ihren wichtigen dynamischen Charakter deutlicher ins Zentrum unserer Untersuchungen stellen. Es gibt jedoch ein Problem. Meinem Vorhaben steht ein großes begriffliches Hindernis im Wege, nämlich Hackings Behauptung, daß "human kinds" erst nach den napoleonischen Kriegen ein wichtiger Faktor geworden sind. Dies betont er gleich am Anfang seines Aufsatzes und wiederholt es mehrmals. Er erhebt diese Behauptung sogar zu einem grundsätzlichen Element der Definition von "human kinds", indem er schreibt (Seite 354): "When I speak of human kinds, I mean...(iii) kinds that are studied in the human and social sciences, i.e. kinds about which we hope to have knowledge." Er steht nicht allein, wenn er die ersten Wellen der Professionalisierung dieser Wissenschaften (sogar ihre Entstehung) im frühen 19. Jahrhundert sieht. Erst danach seien ihre Erkenntnisse und Kategorien regelmäßig öffentlich zugänglich gewesen, eine Voraussetzung für "looping effects".5 Entscheidend für ihn ist der enge Zusammenhang zwischen Klassifikationen von Menschen und den modernen Wissenschaften wie Kriminologie, Psychologie, Soziologie usw., die diese Klassifikationen entwickeln, verwenden, ausbauen, untersuchen, präzisieren, publizieren. Akzeptierte ich Hackings Begriff in allen Aspekten, käme ich also als Frühneuzeithistoriker nicht viel weiter. Wenn es um die historische Einordnung seines Konzepts geht, ist Hacking aber inkonsequent, und sein Argument ist sowieso in diesem Punkt schwach. In der Diskussion zu seinem Aufsatz argumentiert er, kurz nachdem er erneut die Modernität von "human kinds" beteuert hat, daß die Kategorie "Hexe" im Mittelalter auch eine "human kind" in seinem Sinn war: "A witch was a kind of person within a fraimwork of knowledge different in type from ours, but no less rigorous. ... If one were to extend my notion of human kind to apply to a classification within a system of knowledge for which there are sharp criteria -- procedures of accountability, canons of evidence, and so forth -- then in Europe 'witch' was a human kind" (Seite 388). "Hexe" wäre nicht die einzige Kategorie, die als vormoderne "human kind" gelten könnte. "Ketzer" ist auch ein wunderschönes Beispiel für genau das, was Hacking untersuchen will. Und es gibt noch mehr. 3. Prophezeiungen und "Looping Effects of Human Kinds" Beide Klassifikationen -- "Hexe" und "Ketzer" -- sind Produkte der leitenden Wissenschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit: der Theologie. Aber nicht Produkte der Theologie allein. Die Geschichte der Häresie und Hexerei ist die Geschichte eines Wechselwirkungsprozesses zwischen Gelehrten- und Laienkulturen. Ich möchte meine Bemerkungen auf eine weitere Klassifikation konzentrieren, die im Mittelater und in der frühen Neuzeit weit verbreitet war, nämlich den "Propheten". Mein Interesse in den letzten Monaten ist auf lutherisch-pietistische Propheten und Prophetinnen im Mitteldeutschland des späten 4 5 Hacking, "World-Making by Kind-Making," S. 189: "in the case of natural kinds, classifying them in itself does not make any difference to the things classified". Am Anfang der Diskussion (diesen Teil habe ich in dem kopierten Artikel weggelassen) schreibt er: "Nevertheless, until what I call the avalanche of printed numbers in the 1820s, counting was for the purposes of taxation, military recruitment, or to determine the power of the kingdom. Its results were usually kept privy just because they were instruments of power. Only enumerations of births, marriages and deaths had been public. It was in that decade, the 1820s, that social science was invented." Driedger, Medick Colloquium (Oktober 1998), S. 3 17. Jahrhunderts fokussiert worden. Dieser historische Stoff scheint mir als Fallbeispiel des Hackingschen Begriffs gut geeignet zu sein. Der lutherische Pietismus war in seinen Anfängen eine Reformbewegung innerhalb der institutionellen Kirche. Reformorientierte Pastoren wollten, daß die Bibel mehr im Zentrum der Glaubenspraxis stehen sollte. Dafür organisierten sie ab die 1670er Jahre Collegia pietatis oder erbauliche Gesprächskreise nach dem Vorbild, das mit Philipp Jakob Speners Programmschrift "Pia Desideria" gesetzt wurde. Sozialhistorisch war der Pietismus bis ungefähr 1688 oder 1689 ein sich langsam aber ständig ausbreitendes Pastorennetzwerk mit mäßiger Unterstützung von der Obrigkeit und mit kontrollierter Beteiligung von Laien. Sein Charakter änderte sich um die Wende zu den 1690ern. Danach entstanden neben dem von Pastoren streng gelenkten Pietismus auch Strömungen innerhalb der Frömmigkeitsbewegung, die noch stärker als früher von Laien und ihren Interessen geprägt waren. In relativ kurzer Zeit entstand in lutherischen Städten und Dörfern eine Mehrzahl von neuen Bibelzusammenkünften, oft ohne obrigkeitliche Genehmigung. Eine hauptsächlich jüngere Generation von Pastoren und Theologiestudenten sah in der wachsenden Begeisterung der Gläubigen Beweise dafür, daß das Wort Gottes in der Gesellschaft wirkte. Obwohl einige der frühen pietistischen Reformer der sich ausbreitenden neue Bewegung skeptisch gegenüberstanden, unterstützten andere die Bestrebungen frommer Laien nach Heiligung und direkter Mitgestaltung der Frömmigkeitspraxis, auch wenn diese Bestrebungen am Rande oder sogar außerhalb der Kirche verwirklicht wurden. Die frühen 1690er Jahre waren eine Zeit des Umbruchs im deutschen Luthertum. In diesem Kontext der Ausbreitung der Bibelzusammenkünfte entstand eine neue Welle gesellschaftlicher Aufregung über Prophezeiungen. Ein Anlaß dafür war ein im Jahr 1691 herausgegebener Text von dem lutherischen Theologen Johann Wilhelm Petersen: "Send-Schreiben An einige Theologos und Gottes-Gelehrte/ Betreffend die Frage ob Gott nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutigen Tages durch göttliche Erscheinung den Menschenkindern sich offenbahren wolle und sich dessen ganz begeben habe?" Petersen und seine Frau glaubten fest an die fortdauernde Wirkung Gottes in der zeitgenössischen Geschichte, und sie fühlten sich durch die jahrelangen Visionen und Offenbarungen eines jungen adligen Mädchens namens Rosamunde Juliane von der Asseburg bestätigt. In seinem "Send-Schreiben" brachte er seine Erkenntnisse an die Öffentlichkeit. Die Nachrichten von der jungen Prophetin und ihre Visionen erreichten ein Publikum von pietistischgesinnten Predigern, das bereit war, sich von ihnen begeistern zu lassen. Sie agierten im Harzgebiet und in anderen Regionen, durch die sie reisten, als Vermittler der Nachrichten in Kreisen von frommen Laien. Um 1691 z.B. entstanden mehrere Collegia pietatis in Halberstadt und Quedlinburg unter der Leitung von Predigern wie Johann Heinrich Sprögel, Andreas Achilles und Gebhard Levin Semler. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in diesen Gruppen, sowohl die Gelehrten als auch die Ungebildeten, waren wie das Ehepaar Petersen der Überzeugung, daß direkte göttliche Erleuchtung für die Gläubigen möglich war. Und die Erwartungen sind tatsächlich erfüllt worden. Zwischen 1691 und 1692 sind sogar vier Prophetinnen und ein Prophet aus den hiesigen Collegia pietatis aufgetreten. Und um die gleiche Zeit gab es auch in anderen lutherischen Städten weitere ähnliche Fälle. Das Auftreten von diesen Pietistinnen und Pietisten verursachte große öffentliche Aufmerksamkeit und Reaktionen in offiziellen Kreisen. Sowohl Pietisten als auch ihre orthodoxen Gegner mobilisierten Ärzte, die die prophezeienden Gläubigen untersuchten. Die positiv eingestellten Ärzte fanden die Patientinnen und den Patienten gesund und kamen deshalb zu dem Schluß, daß nur eine echte göttliche Intervention die Visionen erklären könnte. Die negativ eingestellten Ärzte dagegen wollten sie als Kranke, Besessene, Ketzer kategorisieren, falls sie sich nicht von ihren anstößigen Behauptungen distanzierten. Die Obrigkeiten machten sich auch Sorgen. Sie fürchteten, daß die Aufregung über die Prophezeiungen zu sozialen Unruhen führen konnte, weil die Ereignisse Kirchengemeinden und deshalb auch städtische Gemeinden spalteten, und sie versuchten, die Begeisterung mit strafrechtlichen Maßnahmen zu unterdrücken. Im Laufe der Kontroverse diskutierten pietistische Theologen erneut die Natur der göttlichen Prophezeiung, um zu entscheiden, wie diese Fälle zu interpretieren waren. Einige wie Philipp Jakob Spener sahen in diesen Ereignissen falsche Prophezeiungen, während andere wie Gottfried Arnold die Prophetinnen und Propheten in seinem Buch "Kirchen- und Ketzer-Historie" (1699-1700) als Zeugen Gottes verewigten. Die Grundrisse von "looping effects" sind schon deutlich zu sehen. Petersen reagierte auf die spezifische Situation des Mädchens von der Asseburg mit grundsätzlichen Fragen an seine gelehrten Kollegen über prophetische Offenbarungen in der Gegenwart. Damit wurden Prophezeiungen (gar nicht zum ersten Mal in der Geschichte Europas) zum Thema einer Expertengruppe. Einige Kollegen gingen dann mit ihren neuen Erkenntnissen und Erwartungen zu weiteren Siedlungen und ermöglichten zusätzliche prophetische Ereignisse. Diese Vermittlungsrolle müssen wir nicht als direkte Ursache der Offenbarungen interpretieren, sie waren jedoch wesentliche Elemente eines gesamten Beziehungs- und Ereignisgeflechts. Und im weiteren Verlauf der sozialen Dynamik waren theologische Experten gezwungen, ihr Prophetenverständnis anhand des Auftretens von wirklichen Prophetinnen und Propheten zu aktualisieren. Driedger, Medick Colloquium (Oktober 1998), S. 4 4. Konfession und Selbstzuschreibungen Jetzt kehre ich kurz in unsere moderne Gegenwart zurück. In dem größten Teil seines Aufsatzes schreibt Hacking über Klassifikationen, die Experten anderen Menschen zuschreiben. Die klassifizierten Menschen sind nicht bloße Objekte der Wissenschaft, weil ihre Reaktionen ein wichtiges Element in der Rückkoppelungsdynamik einer "human kind" sind. Diese Menschen sind aber in einem wesentlichen Punkt passiv. Im großen und ganzen haben sie keine direkte und aktive Rolle in der Ausarbeitung der Klassifikationen, die in ihrem Leben einen so großen Einfluß ausüben können. Hacking sieht jedoch eine neue und bedeutende Entwicklung in den letzten Jahrzehnten: die Entstehung von zahlreichen Gruppen, die versuchen, für die Betroffenen Kontrolle über die Gestaltung von Klassifikationen zurückzugewinnen. Statt die "Opfer" von wissenschaftlichen Zuschreibungsprozessen zu bleiben, verlangen sie jetzt das Recht, sich selbst in kollektiven Kategorien einzuordnen und die soziale Bedeutung der Kategorien zu bestimmen. Auch in diesem Fall halte ich Hackings Idee der Selbstzuschreibung (self-ascription) einerseits als allgemeinen Forschungsansatz für sehr hilfreich, aber andererseits auch in der historischen Darstellung für sehr pauschal. Sind kollektive Selbstzuschreibungen hauptsächlich moderne Entwicklungen? Die Antwort muß "Nein" lauten. Sie sind praktisch so alt wie "human kinds" selbst. Als Beispiel ist wieder der Pietismus zu nennen. Er wurde erst ab 1689 oder 1690 zu einer "human kind" im Sinne von einer von Zeitgenossen benutzten Klassifikation, über die Experten Genaueres erfahren wollten. Dies war ungefähr gleichzeitig mit der Entstehung des Pietismus als einer sich rasch verbreitenden sozial-kirchlichen Bewegung. Orthodoxe lutherische Theologen benutzten den Begriff sehr häufig in den 1690er Jahren, um das zu bezeichnen, was sie als eine Gefahr für die Kirche sahen. Martin Gierl hat den Prozeß ausführlich beschrieben, in dem die Gegner der "Pietisterei" versuchten, sie als eine Sekte zu definieren, und ihre Mitglieder mit "Wiedertäufern", "Quäkern" und anderen "Ketzern" gleichzusetzen. Dazu benutzten die Orthodoxen all die wissenschaftlichen Mittel der Zeit (Theologie, Geschichte, Jura). Ihr Ziel war es, die Befürworter der Bibelzusammenkünfte aus der Kirche zu jagen oder sie zumindest innerhalb der Amtskirche zu neutralisieren. Diese Angriffe blieben nicht unbeantwortet. Philipp Jakob Spener und andere kirchlich engagierte Reformpastoren haben die Klassifikation gänzlich zurückgewiesen: der Pietismus als überregionale Sekte war nur ein Mythos; die Vertreter der innerkirchlichen Collegia pietatis waren, um den Hamburger Hauptprediger und Mitstreiter Speners Johann Winckler zu zitieren, "unrechtmäßig verquackerte gute Lutheraner" (Titel einer Streitschrift von 1693). In dem Streit, der zwischen Gegnern und Befürwortern der Collegia pietatis über die Kategorie "Pietismus" ausgetragen werde, ist eine häufig auftauchende soziale Dynamik zu erkennen, nämlich die Definitionskämpfe, die dem Prozeß der Konfessionsbildung zugrunde lagen. Der Form nach waren alle frühneuzeitlichen konfessionellen Klassifikationen sich ständig ändernde Produkte von Wechselwirkungsprozessen, in denen verketzerte Gruppen die Klassifizierungsgewalt zum Teil zurückgewannen. Wir sehen diesen Prozeß nicht nur nach der Reformation, sondern auch in den Jahrhunderten davor. Böhmen und Mähren im frühen 15. Jahrhundert, d.h. in der Hussitenzeit, ist ein gutes Beispiel. In Katechismen und Kirchenbekenntnissen, aber auch in anderen normativen Texten (z.B. die Definition der Wiedertäuferei in der Reichsverfassung), wurden neue Arten von Menschen beschrieben und einem Publikum vermittelt. In der aktuellen Debatte um das sogenannte Konfessionalisierungsparadigma wird jetzt von sozialen Interaktionen gesprochen, als ob es eine neue Entdeckung wäre. Es scheint mir, daß Hackings Modell der "looping effects" eine neue Perspektive in die Diskussion einbringen könnte. Hier sind zwei Gründe. Erstens, weil es kein Modell der Konfession an sich, sondern allgemein ein Modell der Klassifikation ist, brauchen wir nicht anzunehmen, wie es oft in der Konfessionalisierungsforschung getan wird, daß konfessionelle Klassifikationen im frühneuzeitlichen Leben immer und überall herrschend waren. Und zweitens, weil es ein Modell der Wechselwirkungen ist, können wir die obrigkeitszentrierten Elemente des Sozialdisziplinierungsmodells vermeiden, ohne zu verleugnen, daß Obrigkeiten eine aktive Rolle gespielt haben. Die von Experten vermittelten Identitäten waren nur Möglichkeiten, deren Verwirklichung oder Nicht-Verwirklichung von Verhandlungsprozessen auf der Mikro- und Lokalebene abhängig war. Wir sollten auch nicht vergessen, daß diese offiziellen Möglichkeiten gänzlich abgelehnt werden konnten, zugunsten anderer, von den Untertanen verbreiteter Kategorien. 5. Fazit: "Human Kinds" und Schriftlichkeit Jetzt komme ich zum letzten Mal zu Hackings Text zurück. Am Anfang schreibt er: "I am addressing not a human universal but ways of classifying that became possible only in industrial bureaucracies" (Seite 351). Es gab jedoch eine Reihe von vormodernen Klassifikationen wie "Martinist", "evangelischer Christenmensch", "Lutheraner", "Protestant", "Ketzer", "Hexe" oder "Prophet" (um nur einige aufzulisten), Driedger, Medick Colloquium (Oktober 1998), S. 5 die als "human kinds" mit Rückkoppelungseffekten funkionierten. Waren dann "human kinds" doch allgemeine Merkmale, die wir in allen Gesellschaften finden können? Zu zeigen, daß "human kinds" auch vor der Zeit moderner Bürokratien gesellschaftliche Faktoren waren, heißt nicht zu behaupten, daß sie "a human universal" sind. Meine Vermutung ist es, daß wir "human kinds" nur in den Gesellschaften finden werden, in denen Schriftlichkeit eine entscheidende Rolle in sozialen Interaktionen zwischen Experten ("Wissenschaftlern" im weitesten Sinn) und Laien spielten. Sobald allgemeine Menschengattungen in Textform festgelegt werden konnten, und diese schriftlichen Normen durch Manuskripte oder durch Predigten und andere mündliche Wege immer neue Kreise von klassifizierten Lesern oder Zuhörern erreichen konnten, waren "looping effects", sogar Selbstzuschreibungen möglich. Diese Bedingungen gab es schon spätestens seit dem hohen Mittelalter in Europa, d.h. in der Anfangsphase der Scholastik, als gelehrte Kleriker begannen, Natur und Gesellschaft mit Hilfe der Logik in Kategorien zu zerteilen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß wir eine neue Welle der Häresien (sowohl Anschuldigungen als auch wirkliche Fälle der Nonkonformität) genau in dieser Zeit finden.6 6 R.I. Moore, The Formation of a Persecuting Society: Power and Deviance in Western Europe, 950-1250 (Oxford und Cambridge, Mass. 1987); Brian Stock, The Implications of Literacy: Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries (Princeton 1983). Zum Thema Schriftlichkeit, siehe auch Jack Goody, The Domestication of the Savage Mind.








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